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II. Der historische Standort des Paulus

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Über Paulus erfahren wir vornehmlich etwas durch seine erhalten gebliebenen sieben Briefe an urchristliche Gemeinden bzw. an eine Privatperson sowie durch die Apostelgeschichte des Lukas, die zwar in einem Abstand von gut zwei Generationen zu Paulus verfasst worden ist, aber doch viele wertvolle Informationen bietet.1 Paulus hat mehr Briefe als die genannten geschrieben (1 Kor 5,9; Kol 4,16; als Problem auch 2 Thess 2,2). Sie sind wohl früh verlorengegangen, erhalten blieben diejenigen, die in den Gemeinden nicht verdrängt, sondern bald mehrfach kopiert wurden. Die Klassifizierung dieser BriefeBriefe als Gelegenheitsschreiben, die auf Anfragen aus den ersten christlichen Gemeinden, auf Nachrichten und Probleme eingehen, ist verkürzend. Diese Briefe sind von Paulus wohl für konkrete Gemeinden geschrieben worden; der theologische Anspruch der Briefe geht jedoch, was bei den Briefen an die Römer, Galater und dem zweiten Brief an die Korinther leicht erwiesen werden kann, erheblich über alle situativen Bedingtheiten hinaus. Mit diesem Medium Brief wird eine Kommunikationsform in Anspruch genommen, welche die bereits im Evangelium und seiner Verkündigung angelegte Kommunikation aufnimmt und fortsetzt.2 Im Vergleich zum antiken Brief sind die Briefe des Paulus in der Regel erheblich länger, sie werden daher in rhetorischer Hinsicht gerne nach Vorgaben antiker Reden analysiert. Wir sind also gezwungen, mit Hilfe dieser sieben Briefe, die etwa in einem Zeitraum von gut sieben Jahren verfasst worden sind und aus dem letzten Lebensabschnitt des Paulus stammen, dessen Theologie zu rekonstruieren. Ein schwieriges Unterfangen, wenn man bedenkt, wir sollten aus sieben von uns geschriebenen Briefen rekonstruieren, was unser Denken bestimmt hat. Der Vergleich hinkt allerdings: der antike Autor hat für die Abfassung eines Briefes (und der Reden allemal) einen enormen Aufwand an vorhergehender Sammlung der Argumente und ihrer Disposition sowie ihrer sprachlichen Ausformung und rhetorischen Darlegung getrieben, so dass den Briefen des Paulus fraglos die Funktion eines verlässlichen Schlüssels zu seiner Theologie zukommt.3 Dennoch bleiben sie so etwas wie die Spitze eines Eisbergs.

Gewiss kann man mehr über Paulus erfahren, wenn man den prägenden religiösen und kulturellen Hintergrund möglichst präzise erfasst. Nun ließe sich dies darstellen als eine Geschichte eines mehrfachen Paradigmenwechsels. Paulus erscheint wie ein Wanderer zwischen verschiedenen Welten. Gehört er mehr in den palästinisch-jüdischen oder mehr in den griechisch-hellenistischen Kulturraum? Oder ist er vornehmlich ein römischer Bürger, der recht konsequent nur dort Gemeinden gründet, wo sich größere römische Siedlungen befinden? Man hat in Paulus einen Rabbi gesehen, der in Jerusalem eine pharisäische Schulbildung genossen hat. Man hat seine Sakramentstheologie verstehen wollen vor dem prägenden Hintergrund hellenistischer Mysterien und seine Ethik vor demjenigen der Stoa. Steht er selbst im Vorfeld der sich erst im zweiten Jahrhundert deutlich artikulierenden Gnosis? Hat er überhaupt ein geschlossenes Denksystem, oder ist er noch auf dem Weg dorthin?

Paulus stammt von Geburt her aus der Stadt Tarsus, er ist also ein DiasporajudeDiasporajude.4 Nur zu einem geringen Teil lebten Juden in neutestamentlicher Zeit in Palästina, der weitaus überwiegende Teil siedelte seit den Exilierungen in alttestamentlicher Zeit, sodann aber auch durch Migration, Ökonomie und Kriegsfolgen in hellenistisch-römischer Zeit in der Diaspora, im Mittelmeerraum, im Orient und in Oberägypten. Dieses Diasporajudentum hatte sich zusätzlich zur jüdischen Grundhaltung pagane Grundwerte, religiöse Einstellungen, Organisationsstrukturen etc. zu eigen gemacht.

Ich möchte jetzt einen gedrängten Überblick über entscheidende Daten in der Vita des Paulus geben, die uns gleichsam schon erstes Material zur Beantwortung der Frage an die Hand geben, ob „Paulus der Begründer des Christentums“ ist. Zunächst begegnet uns Paulus, so berichtet es Lukas in Apg 8,3; 9,1; 22,4, aber auch Paulus selbst in seinen Briefen (1Kor 15,9; Gal 1,13), als Verfolger von Christen in Judäa und in der Nähe von Damaskus.5 In welchem Auftrag, in welchem Umfang er die Christen verfolgte, das entzieht sich weithin unserer Kenntnis. Wahrscheinlich hat er versucht, Mitglieder der jüdischen Synagogengemeinschaft, die sich zu Jesus als Messias bekannten, zu einem Verhör vor die jüdische Jurisdiktion zu bringen. Es handelte sich also um eine innerjüdische Angelegenheit. Im Zusammenhang dieser Tätigkeit ereignet sich, was wir die Bekehrung des Paulus nennen. Dieser Begriff ist sicher falsch, da Paulus nicht einen Religionswechsel vollzieht. Er deutet dieses Ereignis im Rückblick als eine Prophetenberufung: „Gott offenbarte seinen Sohn in mir, daß ich ihn verkündige unter den Heiden“ (Gal 1,16). Vor Damaskus hat Paulus also Jesus Christus, den die durch ihn Verfolgten als ihren Kyrios bekannten, als Gottes Sohn erkannt, und er weiß sich jetzt beauftragt, diesen Jesus Christus unter den Heiden zu verkündigen. Es handelt sich also nicht um eine Bekehrung, sondern um eine Berufung zu einem bestimmten Auftrag. Vielleicht darf man allenfalls, wie bereits der jüdische Theologe Alan Franklin Segal, von einer Bekehrung innerhalb des Judentums sprechen.6

Drei Jahre nach der Berufung besucht Paulus, nach Apg 9,27 durch Vermittlung des BarnabasBarnabas, für zwei Wochen den Jesusjünger Petrus, der ihm bislang unbekannt war (Apg 9,27f.; Gal 1,18). Er lebt in der Folgezeit in der Provinz Syrien-Kilikien, also in dem Gebiet seiner Heimatstadt TarsusTarsus. Ob Paulus in dieser Zeit missionarisch tätig war, entzieht sich unserer Kenntnis. Da weder Lukas in der Apostelgeschichte noch Paulus darüber berichten, wird der Erfolg hier wie zuvor auch derjenige in Damaskus (Apg 9,23–25) allenfalls mäßig ausgefallen sein. Ins Rampenlicht der Geschichte tritt Paulus erst durch die Protektion des Barnabas, einer der höchst bedeutsamen Gestalten an der Wiege des Christentums. Barnabas lebt in Antiochia in Syrien, ist aber bereits als Mäzen der Jerusalemer Urgemeinde aufgetreten (Apg 4,36f.); er unterhält weiterhin Kontakte zu Jerusalem wie auch zu denjenigen Städten und Landschaften, die Ziel der sog. ersten Missionsreise werden. In Antiochia leben allein ca. 65000 Diasporajuden. In ihrem Schatten hat sich bald eine christliche Gemeinschaft zusammengefunden (Apg 11,19), faktisch zunächst wohl eine Fraktion dieser jüdischen Synagogengemeinschaften vor Ort, bald aber als eigene Gruppierung erkennbar. Durch Barnabas wird Paulus wohl vier Jahre nach seiner Berufung von Tarsus nach Antiochien geholt; und diese Stadt und ihre christliche Gemeinde wird seine geistige Heimat werden, auch wenn er den Kontakt nach der Trennung von Barnabas im Anschluss an den Apostelkonvent nicht mehr aufrechterhält.7

Noch eine kleine, aber für unsere Fragestellung nicht unerhebliche Bemerkung zu Antiochia. Lukas berichtet in Apg 11,26, dass diejenigen, die sich zu Jesus Christus bekannten, hier zum ersten Mal überhaupt „christianoi“ genannt wurden, d.h. frei übersetzt „die zu Christus Gehörigen“. Diese Bezeichnung ist den „christianoi“ von außen gegeben worden, sie haben sich nicht selbst so benannt. Das heidnische und jüdische Umfeld dieser Christusgruppen hat also wahrgenommen, dass diese sich möglicherweise noch im Synagogenverband befanden, aber doch schon etwas Eigenes darstellten.

In einem historischen Sinn ist Paulus damit keinesfalls der Begründer des Christentums. Die Existenz christlicher Gemeinden lässt Saulus zum Verfolger werden.8 Zudem gibt er in seinen Briefen oft genug zu erkennen, dass er weitergibt, was er in ihnen, also doch wohl überwiegend in Antiochia, empfangen hat (z.B. explizit 1 Kor 11,23; 15,3). Paulus ist nicht der Begründer des Christentums, sondern ein Tradent christlicher Überzeugungen, die vornehmlich in AntiochiaAntiochia, aber auch in Jerusalem, Damaskus oder in Tarsus ausgebildet worden sind. Es gibt gleichzeitig ein Christentum neben Paulus, also in Gemeinden, die er nicht gegründet hat und auf die er auch keinen Einfluss hatte (Alexandria, Jerusalem, Bithynien/Pontus, große Teile der kleinasiatischen Westküste, nordöstliches Syrien). Es gibt auch ein Christentum an Paulus vorbei, etwa im strengen Judenchristentum, welches die paulinische Infragestellung der Gültigkeit der jüdischen Tora für die Heiden nicht teilt.9 Es gibt sogar ein Christentum gegen Paulus, welches seine Mission beständig erschwerte und missbilligte und ab der zweiten Missionsreise bis zur Verhaftung in Jerusalem und selbst noch während des Prozesses gegen ihn agiert.10

Etwa zehn Jahre später tritt Paulus als Partner des BarnabasBarnabas seine erste Missionsreise an, autorisiert von der antiochenischen Gemeinde.11 Über die Zwischenzeit bis zu diesem Ereignis wissen wir fast nichts. Der Weg führt nach Zypern, Pamphylien und Lykaonien. Im Einzelfall mag es zur Konversion von Heiden gekommen sein, zumal in den Gebieten, wo kaum jüdische Bevölkerung wohnte. Überwiegend aber hielten sich die Missionare an die örtlichen Synagogen. In deren Umkreis trafen sie auf eine stattliche Zahl von sog. Gottesfürchtigen, „phoboumenoi, sebómenoi“, also Heiden, die gewisse Sympathien für den jüdischen Glauben hegten, von einer Konversion aber absahen. Man konnte dem jüdischen Monotheismus, der sozial ausgerichteten Ethik und dem Altersvorsprung der jüdischen Religion viel abgewinnen. Zugleich aber wurde die jüdische Alltagsfrömmigkeit, wie sie etwa in klaren Reinheits- und Speisevorschriften oder im Festkalender sowie im Initiationsritual der Beschneidung Ausdruck fand, abgelehnt.

Die Antiochener treten in ihrer Mission mit einem revolutionären Programm auf: Wenn jemand zu Christus gehört, dann sind die bislang trennenden Unterschiede Jude und Heide, Mann und Frau, Sklave und Freier irrelevant, aufgehoben (Gal 3,28$Gal 3,28; 1 Kor 12,13$1Kor 12,13).12 Man kann in die Christusgemeinschaft eintreten und muss sich als Mann deswegen nicht mehr beschneiden lassen. Wer als Mann Christ wird, braucht nicht mehr die Beschneidung zu übernehmen. Männer und Frauen sind nicht mehr an die jüdischen Reinheits- und Speisevorschriften gebunden, und auch soziale Schichtungen werden relativiert. Es ist dies zweifelsfrei eine Schaltstelle innerhalb der Geschichte des frühen Christentums. Die Urgemeinde in Jerusalem hat diesen Weg mehrheitlich nicht mitgehen können. Eusebius weiß in seiner Kirchengeschichte zu berichten, dass noch im zweiten Jahrhundert die Bischöfe der Jerusalemer Gemeinde beschnitten waren, d.h. sie sind den Gegebenheiten des Judentums treu geblieben.13 Die Grundsätze der antiochenischen Gemeinde haben eine Sprengkraft. Paulus ist nicht der Begründer dieser Prinzipien, wohl aber ihr Tradent und derjenige, der sie unbeirrt und mit Kraft durchsetzt. In der Folgezeit wird er so kämpferisch für diesen Weg eintreten (etwa im sog. antiochenischen Konflikt: Gal 2,11–14), dass er in eine zunehmende Isolation zu allen maßgeblichen Gruppierungen des Urchristentums gerät.

Ich will diese Konflikte nur kurz ansprechen. Im Anschluss an diese erste Missionsreise verteidigen Barnabas und Paulus vor der Jerusalemer Urgemeinde auf dem sog. ApostelkonventApostelkonvent die Grundsätze der antiochenischen Mission (Gal 2,1–10; Apg 15,1–29). Paulus stellt es so dar, als habe man sich per Handschlag (Gal 2,9) auf einen gemeinsamen Weg geeinigt, der ihm und Barnabas das Recht auf Mission unter den Heiden zugesteht, ohne diese zugleich auf die Tora zu verpflichten. Jedoch wird ab jetzt beständig die Mission des Paulus von Nachstellungen und Behinderungen begleitet, die diese Beschlusslage des Apostelkonvents ignorieren. Paulus trennt sich zu Beginn der zweiten Missionsreise, die erstmals bis nach Europa führen wird, endgültig von Barnabas (Apg 15,36–41). Wohl gleichzeitig hat er sich mit Petrus, der den Grundsatz der Freiheit von der jüdischen Speisegesetzgebung nicht konsequent vertrat, überworfen (Gal 2,11–14).14 Auf der zweiten und dritten Missionsreise gewinnt Paulus eigene Mitarbeiter. Der Kontakt zur Heimatgemeinde AntiochiaAntiochia wird peripher (allenfalls ein Kurzbesuch: Apg 18,22), die Namen Barnabas und Petrus begegnen nicht mehr. Für die jüdische Gemeinde in Jerusalem und auch für Diasporajuden ist Paulus zu diesem Zeitpunkt ein ApostatApostat, ein Abgefallener (vgl. die über Paulus kursierenden Nachrichten in Apg 21,21 und die Gegnerschaft der asiatischen Juden in Apg 21,27), aber auch große Teile der judenchristlichen Gemeinde begegnen ihm mit äußerster Reserviertheit (Apg 21,21f.; Röm 15,31). Paulus tritt die Reise zu seinem letzten Jerusalembesuch mit Sorge um sein eigenes Leben an und ist gleichfalls besorgt darum, ob die Kollekte (Röm 15,30–32), die er in einigen der von ihm gegründeten Gemeinden für die Armen in der Urgemeinde gesammelt hat, angenommen werden wird. In Jerusalem überschlagen sich die Ereignisse. Nach der Apostelgeschichte wird Paulus unter der von kleinasiatischen Juden erhobenen Anklage „Dies ist der Mensch, der alle Menschen an allen Enden lehrt gegen unser Volk, gegen das Gesetz und gegen diese Stätte“ (Apg 21,28) beinahe gelyncht. Nur das Eingreifen der römischen Soldaten verhindert den Übergriff der Menge. Nach jahrelangen Verzögerungen des Prozesses appelliert Paulus als römischer Bürger in höchst bedrohlicher Lage an den römischen Kaiser und wird nach Rom überführt. Hier verlieren sich seine Spuren.15

Ich will diesen gedrängten Überblick über entscheidende Daten der VitaVita des Paulus mit einigen grundsätzlichen Bemerkungen abschließen. Es wurde bereits mehrfach erwähnt, dass Paulus in einem historischen Sinn nicht der Begründer des Christentums ist. Wir müssen uns freimachen von der Vorstellung, im ersten Jahrhundert Judentum und Christentum klar voneinander abgrenzen zu können. Jüdische Existenz unter Einbeziehung des Bekenntnisses zu Jesus Christus ist grundsätzlich möglich. Christliche Existenz unter Beibehaltung des jüdischen Rahmens ebenso. Klarere Konturen werden in einigen Regionen zum Ende des ersten Jahrhunderts erreicht, indem etwa durch jüdische Jurisdiktion Christusgläubige aus der SynagogeSynagoge ausgeschlossen werden (Joh 12,42; 16,2) und indem Christen von der Synagoge abwertend als der Synagoge des Satans sprechen (Apk 2,9; 3,9). Selbst der römische Staat scheint sich erst zu Beginn des zweiten Jahrhunderts deutlicher auf eine Unterscheidung zwischen Juden und Christen einzustellen.

Welche Gestalt hat das Selbstverständnis des Apostels? Paulus sagt in Röm 11,1: „Auch ich bin ein Israelit, vom Geschlecht Abrahams, aus dem Stamm Benjamin.“ Unzweideutig reklamiert er sein Jude-Sein und spricht von den Juden als von seinen Brüdern (Röm 9,3). Und doch erscheint er mir wie ein Mann oder eine Frau in einer Trennungsphase, in der zur Wahrung der eigenen Sicherheit und zum eigenen Schutz der alte Zustand demonstrativ behauptet wird, in Wahrheit aber schon längst andere Wege beschritten werden. In dem Galaterbrief, wohl nur wenige Jahre vor dem Römerbrief verfasst, zählt Paulus die Heidenchristen und sich selbst zu den Söhnen der Freien und eben nicht zu den Söhnen der Sklavin, die für das gegenwärtige Jerusalem steht (Gal 4,21–31). Paulus befindet sich in einer polemischen Auseinandersetzung mit seiner Vergangenheit (in dieser Hinsicht auch Phil 3,4–8) und mit dem Judentum seiner Zeit. Schärfste Attacken wechseln mit einem Werben um IsraelIsrael. Einmal steht die Tora ganz auf der Seite der Sünde, des Todes des Fleisches (Röm 5,12f.; 7,7–9.13), dann aber ist die Tora gerecht, heilig und gut (Röm 7,12). Gottes Zorn ist schon über Israel gekommen (1 Thess 2,16), dann aber hofft Paulus auf eine zukünftige Rettung Israels (Röm 11,26). Auch wenn man die Paulusbriefe in der Chronologie ihrer Entstehung liest, bleiben Ungereimtheiten, kann nicht alles mit in sich folgerichtigen WandlungenWandlungen erklärt werden. Freilich ist unverkennbar, dass Paulus in seinem letzten Brief, dem Römerbrief, gerade im Blick auf Israel, die Schrift und die alttestamentlich-jüdische Heilsgeschichte Linien zieht, wo er zu früheren Zeiten Schlussstriche gezogen hätte (Röm 1,2.16; 3,21.31 u.ö.)16, andererseits aber auch zu einer Universalisierung des Christusgeschehens auf Juden und Heiden durchdringt (Röm 1,18–3,20; 3,23; 5,12), die den früheren Schreiben noch abgeht.17 Die Vorstellung, eine neue Religion zu gründen und seinerseits als Religionsstifter aufzutreten, wäre ihm nach meiner Sicht absurd vorgekommen.18 Christus steht als der Gesandte (Gal 4,4) in der Heilsgeschichte, die alttestamentliche Schrift fungiert als Zeuge des Evangeliums. Gleichzeitig muss er erfahren, dass Israel, dem in erster Linie das Kommen des Messias Jesus Christus gilt (vgl. das „zuerst“ in Röm 1,16), in seiner Mehrheit seine Verkündigung und diejenige anderer Missionare ablehnt. Das Verhältnis des Paulus zu seinem Volk Israel ist daher ausgesprochen ambivalent. Für Paulus bleibt grundsätzlich der Rahmen jüdischer Theologie in Bezug auf die Schrift bestimmend, auch wenn er wesentliche Inhalte, wie am Beispiel der Speisegebote und der Beschneidung gezeigt, mit Blick auf die Öffnung des Evangeliums zu den Heiden verlässt. Man kann jedoch nicht sagen, alle Elemente der Theologie des Paulus seien jüdisch und einander nur neu zugeordnet. Nein, diese Elemente haben in dem Zentrum der Christusverkündigung eine neue Mitte gefunden, die sich zu den überkommenen Elementen sowohl affirmativ als auch kritisch, aber auch negierend verhält. An diejenige Stelle im Gesamtsystem, die zuvor die ToraTora einnahm, ist nun Jesus Christus getreten.19 Es lag ja in der Konsequenz der Regelungen der Tora, eine Grenze IsraelsIsrael zur paganen Umwelt zu ziehen. Wenn Paulus den Glauben an Jesus Christus den Werken des Gesetzes20 gegenüberstellt, dann überschreitet er die Grenzen jüdischer Identität.

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