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Den Kanon im Kanon aufbrechen:
Hinweise für die praktische Arbeit

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Wenn ein für die religiöse Bildung notwendiger „Kanon im Kanon“ nicht vorgegeben, sondern variabel ist, wenn vorliegende Textsammlungen allenfalls den Charakter von Orientierungshilfen haben, wenn grundsätzlich mehr Texte geeignet sind, als die jeweiligen Kinderbibeln oder Bildungspläne vorgeben, bedarf die Auswahl in der jeweiligen Situation von Unterricht, Katechese oder Bibelarbeit je neu didaktischer Überlegungen. Die Erkenntnis, dass die Auswahl von Texten vor aller Erschließung eine grundlegende didaktische Aufgabe darstellt[24], ist ein erster Schritt, um möglicher Kanonbildung vorzubeugen. Als unverzichtbar hat sich hier das Prinzip der Elementarisierung erwiesen, das exegetische, existenzielle, erfahrungsorientierte und entwicklungspsychologische Zugänge verbindet, das sowohl theologische Aspekte als auch die Aneignungs- und Verstehensbedingungen der Adressaten einbezieht und sich damit in dem von der Bibeldidaktik eingeforderten „Zwischen“ von Bibelwissenschaft und Adressatenorientierung[25], Tradition und Lebensbezug[26], theologischer und lebensweltlicher Relevanz bewegt. Die Berücksichtigung aller der genannten Dimensionen der Elementarisierung verhindert die einseitige Orientierung an Texten, die entweder leicht anschlussfähig an die jeweilige Lebenswelt erscheinen oder die umgekehrt nur um der Tradition willen ausgewählt werden. Über die bloße Auswahl eines Textes hinaus ist die Perspektive zu bedenken, unter der er thematisiert wird. So macht es einen wesentlichen Unterschied, ob der Dekalog exemplarisch für das jüdische Verständnis von Gesetz und Weisung, unter moralerzieherischen Aspekten oder als Freiheitstext erschlossen wird, oder ob die Noach-Erzählung die „dunkle“ Vorstellung von einem Gott, der die Vernichtung androht, thematisiert, oder auf eine Geschichte von der Rettung der Tiere reduziert wird.

|110|Aufbrechen lässt sich der Kanon im Kanon weiter durch die Arbeit mit der Bibel im Sinne einer Alteritätsdidaktik, die zum einen auf die Fremdheit der biblischen Glaubenstradition als solcher setzt, zum anderen die in Unterricht, Verkündigung und Katechese häufig verwendeten und womöglich überstrapazierten Texte gezielt zurücktreten lässt zugunsten von unbekannten, fremd oder gar anstößig erscheinenden Traditionen. Dass das Fremde mehr anzieht als das Altbekannte, gilt auch für biblische Texte. Möglicherweise erweist sich dann, dass das Buch Kohelet oder das Hohelied gar nicht so fremd erscheinen, sondern das Lebensgefühl heutiger Jugendlicher treffen, dass der Jakobszyklus durch die geschilderte Geschwisterthematik Grundschülerinnen mehr anspricht als die Abrahamstradition, dass die Erzählung von Kain und Abel Hauptschüler durchaus zu packen vermag, dass Opferrituale in ihrer Verknüpfung von Heiligem und Gewalt für die Unverfügbarkeit des Lebens sensibilisieren und dass irritierende Elemente durch Konflikte oder einen zürnenden Gott keineswegs zu einer Generalabsage an die Bibel als ganze führen. Auch die Bibellektüre nach den Regeln des kanonischen Lesens – „,Zusammenhänge aufnehmen‘ – ‚Mut zur Fläche (narrative Bögen, übergreifende Zusammenhänge!)‘ – ‚Mut zum Surfen im Inter-Text ‚Bibel‘!“[27], sei es nur durch die Beachtung der Verweisstellen am Rand – führt zur Entdeckung neuer Traditionen und schlägt den Bogen von der Schöpfung zur Neuschöpfung, von der Genesis zur Apokalypse. Gewährt die Begrenzung auf einen Kanon im Kanon zwar Sicherheit, aber vielfach auf Kosten von Eintönigkeit, können „fremde“ Texte die Bibel erstmals oder wieder neu „interessant“ erscheinen lassen – ein Ziel, dem sich nicht verwehren kann und darf, wer mit der Bibel arbeitet.

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