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1. Erfolgsprodukt und Megaphänomen Einführung in die
Kulturgeschichte des Bieres

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Bier ist das erfolgreichste Produkt der Konsumgeschichte. Seine Erfindung steht am Beginn der Zivilisationsgeschichte. Die ersten Brauer wirkten dort, wo der Mensch sesshaft wurde und das Städtewesen seinen Anfang nahm. Die größten Erfolge feierte das Bier aber zunächst in Europa. Von den Häfen der spätmittelalterlichen Hansestädte und Englands aus setzte es seinen weltweiten Siegeszug lange vor der großen Globalisierung des späten 20. Jahrhunderts fort. Heute ist Bier – sieht man einmal vom Tee und vom Wasser ab – das am weitesten verbreitete Getränk der Welt. Seinen ewigen Konkurrenten Wein lässt es zusammen mit allen modernen Brausegetränken weit hinter sich. Inzwischen ist das Bier sogar bis ins Weltall vorgedrungen: Im Auftrag der NASA untersuchte 2001 die Biotechnikerin Kirsten Sterrett die Brautechnik unter den Bedingungen der Schwerelosigkeit. Das Ergebnis: Weltraumbier punktet aufgrund einer effizienteren Gärung durch einen höheren Alkoholgehalt.1

Bier ist das kulturelle Megaphänomen der sich globalisierenden und ausdifferenzierenden Moderne schlechthin. Gab es bis weit ins 20. Jahrhundert hinein in vielen kulturellen Großräumen Bier allenfalls in den Provinzhauptstädten zu kaufen – das ländliche Indien, die Weidegebiete Tibets, die Dörfer am Amazonas und der kongolesische Regenwald sind hierfür Beispiele –, so ist das Getränk heute global verfügbar. Ausnahmen bilden nur jene Länder, die den Alkoholkonsum dogmatisch und erbitterter denn je zuvor ablehnen. Auch das ist ein bier- und kulturwissenschaftlich bemerkenswerter Befund. In der großen Mehrzahl der Kulturräume erreicht das Bier inzwischen die meisten sozialen Milieus und alle Altersschichten oberhalb der Kindheit. Sogar dort, wo die Moderne derzeit die Reste des vorindustriellen Zeitalters bedrängt, dient das Bier als Chiffre für einen globalen und konsumorientierten Lebensstil: Chinas Peripherie, das provinzielle Südamerika oder die Montanregionen Afrikas etwa zeugen von dieser Dynamik.

Die Veränderungen in der Bierkultur des mitteleuropäischen Raums gestalten sich im Vergleich dazu relativ langsam. An der Schwelle zum digitalen und globalen Zeitalter haben sich Eckkneipen, Feierabendbiere und Maßkrüge erhalten – ebenso wie einige seit Längerem bestehende Konsummuster: Der gesetzliche Rahmen der Bundesrepublik Deutschland erlaubt die Abgabe von Bier an Jugendliche ab dem 16. Lebensjahr, in Begleitung von Erziehungsberechtigten bereits ab dem 14. Lebensjahr. Das reale Einstiegsalter in den Bierkonsum dürfte mit zehn bis 14 Jahren sogar noch darunter liegen.2

Bier bedient dabei ein weit ausdifferenziertes Spektrum kultureller Normen und Wertzuschreibungen: Es steht im Ruf, billiges Massengetränk sowie Basis des Alkoholismus am unteren Rand der Gesellschaft zu sein. Gleichzeitig enthält Bier Nährstoffe. Ein Liter hat etwa 430 Kalorien, eine Halbliterflasche deckt ein Zehntel des täglichen Energiebedarfs. Keine Frage also: In Massen getrunken ist Bier ungesund und macht dick. Der im Bier enthaltene Alkohol kann als Suchtmittel fungieren. Aber: Bier hat in den letzten Jahren auch an Ansehen gewonnen. Fassgereifte Jahrgangsabfüllungen erreichen heute Höchstpreise. Der edle Gerstensaft krönt sogar die exklusiven Menüs von Spitzenrestaurants, wo eigens geschulte Biersommeliers ihn auf die geschmacklichen Nuancen der Speisen abstimmen. In Gestalt von „Craft Beer“ reüssiert Bier inzwischen als Lifestyle-Getränk eines jungen, urbanen Publikums. Die Produzenten spielen auch die Traditionskarte aus, die in Deutschland zu einem wichtigen Qualitätslabel geworden ist – 500 Jahre Reinheitsgebot.

Als „global player“ der modernen Ernährungskulturen hat das Bier seine regionalen und nationalen Qualitäten aber nicht eingebüßt. Das Weißbier der Bayern, das Stout der Iren oder das Maisbier der Mexikaner sind längst mehr als nur Getränke. Bier ist zum nationalen Symbol geworden, zum in seiner Komplexität und Geschichte reduzierten Stereotyp ganzer Staaten und Regionen. Eine global operierende Bierindustrie, bestehend aus transnationalen Megakonzernen und handwerklich arbeitenden Mikrobrauern, liefert den Treibstoff für die Erfolgsstory. 2014 lag die weltweite Bierproduktion bei 1,96 Milliarden Hektolitern, Tendenz steigend.3

Bier findet heute unter allen alkoholischen Getränken die weiteste räumliche und soziale Verbreitung. Gleichzeitig blickt es auf die längste Geschichte aller alkoholischen Getränke zurück: Die Ursprünge bierartiger Getränke reichen bis in das 10. vorchristliche Jahrtausend zurück. Bier ist älter als die frühesten Destillate, die im Zweistromland des 4. vorchristlichen Jahrtausends hergestellt wurden, und sogar älter als der Wein, der wahrscheinlich um 7500 v. Chr. im nordiranischen Zagrosgebirge gekeltert wurde. Der Getreidetrunk ist auch untrennbar mit dem Sesshaftwerden des Menschen verbunden, dem Ackerbau und den ersten stadtähnlichen Siedlungen. Und allein das Bier spiegelt alle großen Linien der Geschichte.

Dieses Buch unternimmt den zugegebenermaßen verwegenen Versuch, die gesamte Kulturgeschichte des Bieres nachzuzeichnen. Biergeschichte im Sinne von Kultur- und Konsumgeschichte wird auf diese Weise auch zu einer Geschichte der Menschheit.4 Bier ist dabei nicht nur Produkt, sondern in seinen kulturellen Bezügen Produzent und Katalysator soziokultureller Veränderungen. Die Beziehung des Menschen zum Bier dient als Ariadnefaden, an dem sich die vorliegende Schilderung durch den gewaltigen historischen Unterbau des Getränkes tastet. Ein Unterfangen, das umso schwieriger erscheint, da sich nicht nur Herstellungsweisen, Zutaten und vor allem kulturelle Wertigkeiten des Bieres im Lauf der Jahrhunderte permanent veränderten und an herrschende gesellschaftliche Bedingungen und Bedürfnisse anpassten. Gerade innerhalb der letzten Generation durchliefen die globalen Kulturen und mit ihnen die Konsumstile weltweit einen dramatischen Wandel, der bei vielen Konsumenten zu Unsicherheit, zu einer kritischen Haltung gegenüber industriellen Produktionsverfahren und einer Neubewertung von vielen Lebens- und Genussmitteln führte.5 Diese fundamentalen Transformationen betreffen auch das Thema Bier; denn Bier ist nicht nur das Produkt der natürlichen Bestandteile Hopfen, Wasser und Malz, sondern immer auch Symbol gesellschaftlicher Positionierungen und kulinarischer Politiken.

Das Hauptaugenmerk legt die vorliegende Betrachtung auf die Produzenten, Konsumenten und alle anderen, die mit Bier beschäftigt waren oder sind. Im Mittelpunkt stehen die Mahlzeitensituationen, die Diskussionen und Kämpfe ums Bier und seine stets neu zu verhandelnde Position innerhalb der kulturellen Normen einer Gesellschaft. Der Genuss von Bier wird dabei als sozial tradiertes Verhalten mit hoher symbolischer Qualität verstanden.

Trinkkultur verstehen wir als Kommunikation und als soziales Handeln. Bier ist damit ein symbolisch besetztes Kulturgut, in dem sich gesellschaftliche Normen, Rollen und Entwicklungen in großem Umfang spiegeln. Diese dezidiert kulturwissenschaftliche Herangehensweise unterscheidet sich von anderen mit dem Thema Ernährung befassten Disziplinen und bleibt ihnen doch stets verbunden. Während sich die Medizin mit den Inhaltsstoffen und dem Suchtfaktor von Bier beschäftigt, verhandeln Diätetik, die Ökotrophologie oder die Ernährungswissenschaft den richtigen Platz und die angemessene Menge des Konsums im Rahmen der alltäglichen Ernährung. Haltbarkeit, Geschmack und Zusatzstoffe sind das Metier der Lebensmittelchemie. Die Grundbestandteile des Bieres – Hopfen und Getreide – sowie deren Anbau und Züchtung erforschen die Agrarwissenschaften. Die technischen Fragen der Bierproduktion fallen in den Bereich der Brauwissenschaften oder des allgemeinen Ingenieurwesens. Die Geschichte der Brautechniken und der agrarischen Grundlagen der Bierproduktion sowie die Hintergründe des Handels mit Bier sind Sache der Ökonomie und der Wirtschaftsgeschichte.

Von all diesen Ansätzen, die das Getränk in den Mittelpunkt einer Technik- oder Produktgeschichte stellen, unterscheidet sich diese Kultur- und Konsumgeschichte des Bieres. Denn der Fokus liegt hier stets auf dem Menschen, den Kulturen und Gesellschaften hinter dem Bier. Sie versteht sich als kompakter Überblick, der das über zahllose Einzeldarstellungen, wissenschaftliche Aufsätze oder Statistiken verstreute Material zum Alltagsthema Bier allgemeinverständlich bündelt und vor einem kulturwissenschaftlichen Hintergrund neue Perspektiven und Deutungen eröffnet – und dies für ein wissenschaftliches, aber auch für ein eher alltagshistorisch interessiertes Publikum.

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