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1.3.1. Die Blockade

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Die Blockade73 wird nach dem 11. November beibehalten und dient sogar als Druckmittel bis zu ihrer tatsächlichen Aufhebung im März 1919, was aus dem Waffenstillstand vom November de facto einen bedingten Waffenstillstand macht. Die Franzosen sind die Letzten, die der Aufhebung zustimmen.

Die Blockade macht sich seit 1917 bemerkbar in einer, verglichen mit französischen und englischen Städten, spektakulär hohen Sterblichkeitsrate in den deutschen Städten. In Berlin steigt die Sterblichkeit von Kindern und Frauen an. Bei Frauen über 60 Jahren steigt die Sterblichkeit von ungefähr 62/1000 im Jahr 1916 auf fast 85/1000 1917. 1919 ist die Rate mit mehr als 65/1000 höher als die von 1916. Im Fall der Sterblichkeit von unter einjährigen Mädchen ist die Rate 1919 sogar weitaus höher (ungefähr 180/1000) als während des Krieges (sie betrug 110/1000 im Jahr 1916). Bei unehelichen Kindern ist die Rate noch höher und hält sich bis 1921 bei 300/1000. Auch in diesem Fall steigt sie am stärksten zwischen 1918 und 191974. Zwar schlägt zu diesem Zeitpunkt die Epidemie der Spanischen Grippe zu, doch trifft diese ganz Europa, sodass sich die erhöhte Sterblichkeit in Berlin im Vergleich zu Paris oder London dadurch nicht erklären lässt. Allerdings trifft die Grippe Deutschland ganz besonders hart aufgrund der vom Hunger und den seit Winter 1917 besonders spürbaren Einschränkungen geschwächten Körper.

Natürlich ist diese übermäßige Sterblichkeit nicht nur der Blockade zuzuschreiben. Ihre Ursachen wurden auch in Deutschland diskutiert, wobei vor allem die Linke das kaiserliche Regime und die Armeeführung im Nachhinein der Fahrlässigkeit und Unfähigkeit anklagte, da beide gänzlich auf die Kriegswirtschaft gesetzt und die Zivilbevölkerung vernachlässigt hätten75. Sozialgeschichtliche Untersuchungen haben seither diese Unfähigkeit des Staates76 bestätigt, die zum großen Teil auf die ideologisch geprägte Vision der „Welt im Krieg“ und auf die Kraftanstrengungen der deutschen kriegführenden Generäle zurückzuführen ist. Der übertriebene Dirigismus und der Mangel an Lebensmitteln gingen einher mit einem Aufschwung des Schwarzmarktes77, was sich noch stärker auf die Versorgungslage und den ungleichen Zugang zu Nahrungsmitteln auswirkte.

Die Inflation und die Blockade, das Nachkriegschaos und der Regimewechsel haben diese Situation zusätzlich verschlimmert. Nach Meinung von Beobachtern war es also möglich, die ganze Verantwortung für das Versorgungsdefizit der Bevölkerung auf manichäische Weise entweder den Regierungsverantwortlichen oder der alliierten Kriegführung zuzuschreiben.

Wie dem auch sei, die Auswirkungen der Blockade waren echt und trugen zur übermäßigen Sterblichkeit der jüngsten und ältesten Altersklassen sowie der am meisten benachteiligten sozialen Gruppen bei, indem sie zu einer Kürzung der individuellen Rationen führten, die viel drastischer ausfiel als in anderen kriegführenden Ländern. So waren Ende 1918 die Fleischrationen in Berlin auf 12 % des Vorkriegsstandes gefallen und die Rationen der Getreideprodukte wie Brot auf 48 %78. Diese Effekte waren zudem dauerhaft, und ihr Ausgleich dauerte seine Zeit. Noch 1922 betrug die Jahresration an Fleisch in Deutschland nur die Hälfte des Vorkriegsniveaus (52 kg 1913 und 26 kg 1922)79.

Es ist sehr schwierig, die Verluste, die direkt auf die Blockade zurückzuführen sind, zu beziffern, denn die anderen Faktoren wie z.B. für die Bevölkerung unglückliche innenpolitische Entscheidungen haben sie ebenfalls stark beeinflusst. Zudem war der Hunger nicht immer die direkte Todesursache, sondern begünstigte vielmehr die Verbreitung tödlicher Krankheiten wie der Tuberkulose, die während des Krieges ausbrach. Ebenso war die von der Spanischen Grippe verursachte Sterblichkeit in Deutschland nach den Berechnungen von C. Paul Vincent um 250 % höher als in Großbritannien, im Verhältnis zur Anzahl der Betroffenen. Folglich sind, immer noch gemäß Vincent, die Zahlen in einem Memorandum des Reichsgesundheitsamtes (die Berechnungen wurden im Dezember 1918 eingestellt), das 763.000 Hungeropfer während der Blockade auswies, weitgehend plausibel – umso mehr, da sie weder die Opfer des Jahres 1919 noch die Opfer der Spanischen Grippe einbeziehen, die bereits Ende 1918 gestorben sind80.

Die Blockade hatte auch nicht zu vernachlässigende symbolische Auswirkungen. Indem sie sich gegen Frauen und Kinder wandte, brachte sie eine spezifische Form der Kriegsgewalt ins Zentrum der Heimatfront und trug zur Totalisierung des Krieges bei – wie bei den ersten Bombardierungen von Zivilisten oder bei den U-Boot-Angriffen gegen Passierschiffe.

Zusammen mit der Beschädigung des Staatsgebietes und dem Verlust der Kolonien, wie auch mit der Erinnerung an die Besetzung weiter Gebiete im Osten des Kontinents81, trug die Erinnerung an die Blockade, die bisweilen für politische Zwecke absichtlich kultiviert wurde, auch zum Erfolg der Idee vom mangelnden Lebensraum und der dringenden Notwendigkeit einer unabhängigen Lebensmittelversorgung, eventuell durch Ostkolonisation, bei82. Diese Idee ging über die Kreise der Ökonomen und Geographen hinaus und erreichte bisweilen sogar die breite Öffentlichkeit. Einer der großen Bucherfolge der Weimarer Republik war beispielsweise – trotz seiner schwerverdaulichen und kleingedruckten 1300 Seiten – der Roman Volk ohne Raum von Hans Grimm, der all diese Themen zusammenmischte. 1926 erschienen, waren 1933 bereits 200.000 Exemplare des Buchs verkauft.

Die Blockade stellte für jene, die sie erlebt hatten, eine „Kriegserfahrung“ dar. Dieses Faktum sollte auch von denjenigen beachtet werden, die anführen, dass die Nationalsozialisten mehr Zuhörer und Anhänger unter der jungen Generation fanden, die die Front nicht erlebt hatte, und dadurch die These der „Brutalisierung“ durch den Krieg entkräften wollen83. Die junge Generation, die dem Nationalsozialismus anhing, hatte natürlich nicht den Grabenkrieg erlebt, aber auf andere Art und Weise machte auch sie die Erfahrung des Krieges. Belinda Davis beschreibt dies folgendermaßen: „die Schrecken des Regimes, das Weimar folgte (…) muss in Relation gesehen werden zu der Gewalt der Erfahrungen an der Heimatfront wie auch zu denen, obwohl sehr verschieden davon, an der Kriegsfront“84.

Diese jungen Menschen waren nicht nur während des Krieges sozialisiert worden, sondern in gewisser Weise auch durch den Krieg und vor allem durch die Blockade. Für C. Paul Vincent wurde die „zum Opfer gewordene Jugend von 1915–1920 die radikalste Anhängerschaft des Nationalsozialismus“85. In dieser Hinsicht bestätigt die Tatsache, dass es die Jugendlichen und nicht die Veteranen waren, die die nationalistischen und revanchistischen Kohorten bildeten, vielleicht nicht die These von der „Brutalisierung“ nach Mosse, aber sie entkräftet sie auch nicht.

Weiterhin verlängerte die Blockadeerfahrung de facto den Krieg über den Waffenstillstand hinaus und lieferte denen Argumente, die die Haltung der Sieger im Allgemeinen und der Franzosen im Besonderen anprangerten. Die Franzosen wollten tatsächlich die Blockade weiter verlängern. Wenngleich die Verantwortung für diese während des Krieges aufgrund ihres in erster Linie maritimen Charakters den Briten zugeschrieben wurde, ist ihre Verlängerung über den 11. November hinaus den Franzosen zuzuschreiben.

WBG Deutsch-Französische Geschichte Bd. VII

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