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Die Zwischenkriegszeit als Versuch der Kriegs- und Traumabewältigung

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Um die Anfänge von Weimar besser zu verstehen, hatte der Historiker Peter Gay, Freud-Biograph und Kenner der deutschen Kultur, seit 1968 die Vorstellung des „Geburtstraumas“ der deutschen Republik vorgeschlagen, indem er „die vier ersten Jahre der Republik (betonte), die aus fast ununterbrochenen Krisen bestanden“ und „einem blutigen Bürgerkrieg“6. Der Begriff wurde seither auch von anderen Historikern übernommen. Diese resümierend, spricht Jean Solchany in Bezug auf Weimar von einer „außergewöhnlichen Anhäufung von Traumata“7.

Während die Historiker jedoch vor allem die Traumata dieser Zeit, die Niederlage und Versailles in den Vordergrund stellen, vergessen sie fast, die große Ursprungskrise zu benennen. Das große Trauma war nicht nur das der Gründung der Republik, es war in erster Linie das des Krieges und des Kriegsausgangs. In dieser Hinsicht war Deutschland kein Sonderfall. Die Problematik betraf jede Bevölkerung, die vom industriellen Töten betroffen war und diesem in weiten Teilen und zu ihrem Unglück zugestimmt hatte, zumindest für eine gewisse Zeit. Die Zivilbevölkerung musste nun nolens volens „im Schatten des Weltkriegs“8 weiterleben. Selbst ein Richard Bessel, der durchaus Zweifel hinsichtlich der Kriegsauswirkungen hegte und sie dabei nicht immer in sozialer Hinsicht bemaß, schließt sein Werk doch mit der Feststellung ihrer enormen Bedeutung für Deutschland9. Vielleicht muss man tatsächlich auch an anderer Stelle als in der Gesellschaft und den sozialen Gruppen nach den Auswirkungen des Krieges suchen. Wie dem auch sei, Michael Geyer stellte fest: „In kaum einer anderen Zeit standen Krieg und Tod so sehr im Mittelpunkt wie in der ersten Nachkriegszeit“10.

Die Geschichte Frankreichs und Deutschlands im Speziellen und Europas im Allgemeinen in dieser Zeit ist zunächst und vor allem diejenige der Verarbeitung und Bewältigung der individuellen und kollektiven Erfahrungen im Ersten Weltkrieg11 sowie der Verletzungen, die diese sowohl für die Individuen als auch für die Gesellschaften bedeuteten. Man kann daraus freilich nicht schließen, dass all diese unleugbaren Verletzungen und Erfahrungen sich in dauerhaften Traumata niedergeschlagen haben. Noch weniger kann man behaupten, „das“ Trauma als individuelles und persönliches Phänomen könnte im Fall einer großen Anzahl von Traumatisierten in ein „Kollektivtrauma“ mit greifbaren sozialen Folgen münden. Spezialisten zufolge erlebt der Einzelne ein Trauma, wenn er sich in Todesgefahr befindet. Die – meist visuelle – Wahrnehmung ist der Ausgangspunkt für einen psychischen Einbruch, hervorgerufen durch einen „unvorhergesehenen Unfall“, der einen Effekt von „Lähmung“, ein Eintauchen in „das Entsetzen, den Terror“ hervorruft, indem er den Tod und die Zerstörung des Körpers gegenwärtig macht. Der Staat ist nicht mehr in der Lage, einen Diskurs herzustellen, der ausreichend isoliert betrachtet werden und „rechtfertigen (könnte), warum der Einzelne sich dort wiederfand, zu genau jenem Zeitpunkt, als sein Leben verneint wurde, sein Tod vergegenwärtigt“. Anschließend wird die Wiederholung, deren Rhythmus sich nach einer Latenzphase beschleunigt, das bestimmende Symptom der traumatischen Neurose12. Aber das Trauma drückt sich ebenso oft im Schweigen aus. Der Psychiater Jean-Marc Berthomé erinnert daran, dass es sich jenseits der Erfahrung befindet, dass es a priori nicht „objektiv“ sein kann13. Für viele Menschen war es deshalb seelisch – wie auch körperlich – unmöglich, den Krieg hinter sich zu lassen.

Auf der Grundlage der Quellen, über die wir verfügen, ist es sehr schwierig, die Anzahl der wirklich Traumatisierten, im exakten Sinn des Wortes, festzustellen. Es ist jedoch unzweifelhaft, dass der Erste Weltkrieg Millionen von Individuen getroffen und diese in jeder Hinsicht „verletzt“ hat. Doch auch wenn die durch den Massenmord verursachten Traumata ihre Wurzeln in der seelischen Struktur haben, stellen sie ebenso einen Untersuchungsgegenstand für den Historiker dar. Michael Geyer hat in dieser Hinsicht auf den unterschiedlichen „Umgang mit dem (Massen)tod“ nach dem Ersten und Zweiten Weltkrieg in Deutschland hingewiesen. Man könnte hier die Unterschiede zwischen Frankreich und Deutschland bezüglich der Art anfügen, wie sie den Krieg hinter sich ließen. Diese Unterschiede machen seiner Meinung nach die Vorstellung von einer einzigartigen psychischen und ahistorischen Antwort auf das Trauma zunichte und eröffnen damit „die Möglichkeit einer historischen Betrachtung dieser Problematik“14.

Eine der Aufgaben, die sich dem Historiker stellen, besteht genauer gesagt darin, diese Millionen von individuellen Verletzungen zusammenzurechnen. Ab wann wird diese Addition einzelner traumatischer Schocks zum großen kollektiven Trauma einer ganzen Gesellschaft, zu einer „sozialen Krankheit“15, um den Ausdruck von George L. Mosse zu übernehmen? Eine „soziale Krankheit“, die die Zauberlehrlinge der Politik sich weiterentwickeln lassen, um besser behaupten zu können, sie zu behandeln. Der Nationalsozialismus konnte von den Deutschen, die sich ihm anschlossen, als ein Mittel betrachtet werden, das Trauma des Krieges und der Niederlage zu bekämpfen – im selben Moment, als sie dieses Mittel ersannen und ohne Unterlass immer wieder neu erfanden16. Dieses Trauma war daher vielleicht mehr noch als eine medizinisch feststellbare Realität eine kulturell und politisch vermittelte Konstruktion – zum Beispiel durch die Kriegsliteratur, aber auch durch Mythen, politische Reden, künstlerische und kulturelle Produktionen sowie durch Interpretationen. Selbst wenn sich diese Darstellungen als falsch und ohne Bezug zum wirklich im Krieg Erlebten erwiesen, so stellt sich die Frage, warum auf diese mittelbaren kulturellen Konstruktionen des Krieges zurückgegriffen wurde.

Die Frage kann nicht dadurch gelöst werden, dass man die Idee eines direkten Einflusses des Krieges auf die Nachkriegsgesellschaften und ihre politische Entwicklung verneint17, und gleichzeitig die Einflüsse der kulturellen Produktion eingesteht, die ein mythisches Bild des Krieges bieten. Der Bezugsrahmen in diesem Fall, so instrumentalisiert und deformiert er auch sein mag, bleibt der vorangegangene Krieg mit seinen Auswirkungen. Die sozialen Akteure, die sich seiner bemächtigen, beabsichtigen daraus Gewinn zu ziehen, selbst wenn sie ihr politisches Kalkül eingestehen müssen. Sie erwarten implizit, dass diese Mobilisierung ein Echo in der vom Krieg geplagten Öffentlichkeit findet, während diese ihn zu vergessen sucht. Auf der anderen Seite des politischen Spektrums war der Pazifismus durch seine radikale Demobilisierung der kollektiv geteilten Vorstellungen während des Krieges letztlich auch ein Mittel, eine neue Bedeutung zu erschaffen, die der Kriegswirklichkeit übergestülpt werden konnte. Er erlaubte, diese neu zu interpretieren und sich von dem Sinn, den man dem Krieg zwischen 1914 und 1918 gegeben hatte, ebenso zu distanzieren wie von jenem, den ihm die politischen Gegner nach 1918 gegeben hatten.

Ohne in die Falle des teleologischen Ausdrucks „Zwischenkriegszeit“ zu tappen, ohne sich vom „Dämon des Ursprungs“18 heimsuchen zu lassen oder sich in monokausalen Erklärungen zu ergehen, geht es darum, eine Darstellung der deutsch-französischen Geschichte nach 1918 zu wagen und auf diese Art und Weise vielleicht neue Interpretationsmöglichkeiten zu eröffnen.

WBG Deutsch-Französische Geschichte Bd. VII

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