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4. Auge in Auge: 1919–1924 4.1. Krieg nach dem Krieg oder Krieg dem Kriege

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Die beiden Länder wurden von offenbar gegensätzlichen Meinungsströmungen durchzogen, die allerdings bisweilen in ein und demselben Individuum zusammenkamen. Die Hoffnung auf Frieden, eine Rückkehr zum normalen Leben, die Normen des Zivillebens und das Ende der kriegsbedingten Entbehrungen war, wie wir gesehen haben, in der öffentlichen Meinung beider Länder weit verbreitet. Diese Hoffnung schloss im Fall Frankreichs jedoch keineswegs eine bestehende Feindseligkeit gegenüber demjenigen aus, den man noch als „le Boche“ bezeichnete. Der Wille, Deutschland zahlen zu lassen, der sich nicht nur auf den Poincarismus beschränkte, illustriert diese ambivalenten Gefühle. In Deutschland wurde die Hoffnung auf Frieden ebenfalls von einer Feindseligkeit gegenüber den ehemaligen Feinden und vor allem den Franzosen ergänzt. Der Frieden von Versailles verstärkte diese Animosität noch, die sich, vor allem bei der Rechten, gegen neue Feinde im Innern richtete, die für die Niederlage verantwortlich gemacht wurden: Sozialisten, die mittels der Niederlage die Republik begründet hatten, Kommunisten, die Unruhe und Chaos stiften, Separatisten, Profitmacher und Juden, denen man vorwarf, all das auf einmal zu sein.

Diese Ambiguität zeigt sich auch auf politischer Ebene im Abstimmungsverhalten der Wähler. Angesichts einer expandierenden Sozialistischen Partei (SFIO, Section Française de l’Internationale Ouvrière), die jedoch gespalten und auf dem Weg der Zersplitterung war – die Abspaltung vollzog sich 1920 auf dem Kongress von Tours –, angesichts einer Radikalsozialistischen Partei (Parti radical), die hinsichtlich des einzugehenden Wahlbündnisses – mit der Rechten oder mit der Linken – gespalten war, schließen sich die Rechten in Frankreich zu einem Block zusammen und bilden den „Nationalen Block“. Dieser profitiert in der öffentlichen Meinung von den Auswirkungen des remobilisierenden Ausbruchs des Jahres 1918 sowie denen des Sieges und der Vertragsverhandlungen, aber auch von der Welle der bisweilen sehr gewalttätigen sozialen Unruhen der Jahre 1918 bis 1919 – das Departement Seine zählte 1919 130 Streiks, das waren fast 370.000 Streikende175 – und von der Angst vor dem Bolschewismus und der Rhetorik des „Bürgerkriegs“176.

Es ist Antikommunismus vermischt mit Antigermanismus, die im gemeinsamen Wahlmanifest harte Nationalisten, konservative Katholiken und gemäßigte Republikaner zu einem ungleichen ‚Block‘ vereinten. Ihr Wahlprogramm propagiert in der Tat die „Verteidigung der Zivilisation gegen den Bolschewismus, der nichts als eine Form der deutschen Gefahr und eine Negierung jeglichen sozialen Fortschritts ist“177. In den Wahlen vom 16. und 30. November erhält der Nationale Block 319 Sitze, das ist die absolute Mehrheit. Allerdings behalten auch die zentristischen Parteien und parlamentarischen Gruppen, falls sie sich von der Rechten lösen und sich vereinigen sollten, die Möglichkeit, Mehrheiten zu bilden. Wegen der Präsenz einer größeren Anzahl von Veteranen wird die Kammer „chambre bleu horizon“ genannt. Eine Kammer, über die Maurice Agulhon schrieb: „Wenn es gestattet ist, einen weiteren Augenblick auf die Farben einzugehen, kann man sagen, dass diese blaue Kammer – geboren aus einem anti-roten Reflex heraus – auch etwas Weißes (Weiß ist traditionell die Farbe der kirchennahen Monarchisten) hatte. Denn eine der Hauptideen der Rechten (und zweifellos eines Teils der Linken) war, dass der Antiklerikalismus der Vorkriegszeit veraltet war (…)“178. Die französische Politik erprobte also neue Spaltungen im Vergleich zur Vorkriegszeit, während sie die aus dem Krieg hervorgegangenen Denkweisen gleichzeitig zum Teil beibehielt.

Nach der Wahl von Paul Deschanel – gegen Clemenceau – zum Präsidenten der Republik durch die beiden Kammern bildet Alexandre Millerand, einer der „Architekten“179 des Blocks, eine Regierung, die vielmehr einer kleinen Union sacrée (allerdings ohne Sozialisten) ähnelt als einer harten Rechtsregierung. Im Innern jedoch führen die Regierungen Millerand (1919–1920), Leygues (1920), Briand (1921–1922) und schließlich Poincaré (1922–1924) eine Politik, die „im Nachhinein wie eine reaktionäre Politik erscheint, wenngleich sie in dem Moment als Übersetzung des nationalen Konsens konzipiert war, der sich während des Krieges gebildet hatte“180. Es war eine harte Politik gegenüber dem besiegten Deutschland, die im „kleinen Krieg“ im Ruhrgebiet 1923–1924 ihren Höhepunkt erreichte, die sich aber schon in der „Generalprobe“181 1921 mit der Besetzung von Düsseldorf, Ruhrort und Duisburg abgezeichnet hatte sowie mit den Zollsanktionen im Anschluss an die deutsche Weigerung, die auf der Pariser Konferenz im Januar 1921 getroffenen Zahlungsmodalitäten der Reparationszahlungen zu akzeptieren, sowie mit der Unterstützung Polens in der Angelegenheit von Oberschlesien 1921–1922182.

Diese Jahre zeichnen sich gleichwohl auch durch das Aufkommen eines diffusen Pazifismus in der französischen Gesellschaft aus, der seinen Ursprung oft im Milieu der Veteranen selbst hat183. Dieser weitgehend integrierende Pazifismus mündete nur selten in antimilitaristische Positionen. Die Association Républicaine des Anciens Combattants (ARAC), die vom Schriftsteller und Kriegsteilnehmer Henri Barbusse, der der extremen Linken nahestand, gegründet und geleitet wurde, zählte zwar in jener Zeit 20.000 Mitglieder, blieb jedoch eine Minderheit im Vergleich zu den großen Vereinigungen Union Fédérale (UF) und Union Nationale des Combattants (UNC), die 1932 beide nahezu eine Million Mitglieder hatten. In Frankreich geht dieser Pazifismus zumeist mit einem gewissen Patriotismus einher184, auch wenn andererseits auch nebulöse, aktivistische Pazifistenorganisationen entstehen, die sich „integral“ nennen und einen Bruch mit dem patriotisch-pazifistischen Konsens vollziehen.

In Deutschland werden die Gedankenströmungen, die widersprüchlichen politischen und sozialen Nachkriegsbewegungen durch die Auswirkungen der Niederlage, des Regimewechsels und des „Diktats von Versailles“ intensiviert. Selbst wenn eine gewisse Hoffnung auf Demokratie, auf Rückkehr zu einer friedlichen Lage existiert und in einigen Regionen oder sozialen Schichten von der Mehrheit gehegt wird185 – wie zum Beispiel in den Landstrichen, die stark von der Generalmobilmachung und daher von den Kriegsverlusten betroffen waren –, regieren in anderen Regionen, in anderen Milieus oder in den großen Städten Chaos und Agitation. Die komplexe Litanei der revolutionären Bewegungen, der reaktionären Staatsstreiche, der Grenzkämpfe der Freikorps, der politischen Attentate, die die ersten Jahre der Weimarer Republik prägten, zeugen von dem Zustand der „politischen Desintegration“186, in dem sich die deutsche Gesellschaft befindet. Auch wenn sich Historiker uneinig sind über die direkten Auswirkungen des Krieges auf die offene und/oder latente Gewaltsituation, in die sich Deutschland in den Jahren 1918–1924 hineingeworfen findet, sind die Resultate doch unleugbar: Die deutsche Gesellschaft ist ein Januskopf mit einem Gesicht, das bei der Rückkehr zum Frieden lacht, und einem anderen, hassverzerrten Gesicht. Die Ergebnisse der Wahlen spiegeln, wie im Falle Frankreichs, in gewisser Weise diese Spaltung wider. Erzielte das demokratische Lager – SPD, DDP, Zentrum, BVP – 1919 noch 76 % der Stimmen bei den Parlamentswahlen, geht es 1920 auf 47 % zurück und bleibt bis 1928 um die 50 %. Die autoritären Parteien der Rechten und extremen Rechten (DNVP, DVP, NSDAP) steigen von 15 % 1919 auf 30 % im darauffolgenden Jahr, um sich von 1920 bis 1930 zwischen einem Viertel und einem Drittel der Wählerstimmen einzupendeln. Die Parteien am linken Rand (USPD und KPD) erreichen ihren Höhepunkt 1920 mit 20 % und schwanken anschließend zwischen 9 % und 17 %. Hans-Ulrich Wehler unterstreicht in seinem Werk, dem auch diese Zahlen entnommen sind, dass dem noch die „Splitterparteien“ hinzugefügt werden müssen, die ebenfalls, über die Wahlergebnisse selbst hinaus, „ein irritierendes Indiz für die nachlassende Integrationskraft der großen etablierten Parteien“187 waren.

Diese integrative Schwäche ist zweifellos auch eine der Ursachen für die politische Gewalt, obwohl die großen Parteien mit ihren privaten Schutzmilizen sicherlich ebenso an ihr teilhatten. Die politische Gewalt kulminierte 1918 bis 1924, blieb aber eine Konstante im politischen und sozialen Leben der Weimarer Republik. Während in Frankreich das Kriegsende durch eine Rhetorik des Bürgerkriegs gekennzeichnet war, blieb diese in Deutschland nicht auf dem Niveau von Worten, sondern nahm verschiedene Formen an, die sich in sieben große, sich bisweilen überlagernde Typen einteilen lassen:

– die revolutionären Aufstände gefolgt von ihrer Niederschlagung durch Regierungs- oder Hilfskräfte (Freikorps),

– die Streiks mit Aufstandscharakter,

– die Putschversuche der extremen Rechten (Kapp-Lüttwitz-Putsch, die Schwarze Armee von Küstrin bis hin zum Putsch im Bürgerbräukeller durch Hitler und die Nationalsozialisten),

– die Straßenkämpfe zwischen den politischen Kräften,

– der Terrorismus, die politischen Morde und Attentate von allen Seiten (aber zahlenmäßig ganz klar dominiert von denen der extremen Rechten),

– der regionale und regionalistische Separatismus,

– die Konflikte zwischen Berlin und der Provinz, vor allem Bayern (bis 1924), dem Rheinland, Preußen.

Walther Rathenau verkörperte in gewisser Weise die gespaltene Persönlichkeit der Gesellschaft. Er weckte auf der einen Seite Erwartungen und Hoffnungen – allerdings gegensätzliche188: auf Frieden, auf wirtschaftliche Gesundung, auf die Rückkehr Deutschlands in den ersten Rang der Nationen –, und auf der anderen Seite kristallisierte sich um ihn herum ein vielgestaltiger Hass heraus: Ihm wurde wild durcheinander vorgeworfen, ein vaterlandsloser Jude zu sein, ein Industrieller, der nur seinen eigenen Interessen dient, oder gar darin gescheitert zu sein, den deutschen Sieg sicherzustellen. Der junge nationalistische Intellektuelle Ernst von Salomon, der an der Ermordung Rathenaus am 14. Juni 1922 beteiligt war, bezeugte in seinem Roman Die Geächteten diese Mischung aus Hass und Hoffnungen, die ihn zu Verschwörung und terroristischer Handlung führte. Das Beispiel der Ermordung Rathenaus war in Deutschland bei weitem kein Einzelfall. Es fügte sich in einen Kontext der politischen Gewalt ein, die sich erst zwischen 1925 und 1928 etwas beruhigte, um dann nach dem 1. „blutigen Mai“ 1928 in Berlin wieder richtig aufzuleben.

Während die konservativen Veteranenvereinigungen in Frankreich weiterhin von einem diffusen Pazifismus erfüllt sein konnten, war dies in Deutschland undenkbar. Am Ende der zwanziger Jahre zählte die größte dieser Veteranenvereinigungen, die bereits vor dem Ersten Weltkrieg existierte, der überaus konservative Kyffhäuserbund, 29.000 Vereine und mehr als zwei Millionen Mitglieder189, der anti-republikanische Stahlhelm ungefähr 400.000 bis 500.000190. Beide befanden sich über den Sinn des Krieges unwiderruflich im Kampf mit dem aus der KPD hervorgegangenen Rotfrontkämpferbund mit etwa 100.000 Mitgliedern und dem SPD-nahen Reichsbanner Schwarz-Rot-Gold (ungefähr eine Million Mitglieder), das den Bund republikanischer Kriegsteilnehmer191 beherbergte, ohne dass sie ein „pazifistischer und patriotischer“ Konsens einte. Selbst wenn sie sich bisweilen, wie in Frankreich, darauf einigen konnten, dass die Soldaten gleichzeitig Helden und Opfer waren, blieb dennoch offen, wessen Opfer sie gewesen sind: des Krieges, des blinden Imperialismus der alten Eliten, des vermuteten Verrats der neuen republikanischen Eliten. Hier konnte es keine Übereinstimmung geben, nicht einmal über ein vorsichtig zu bewahrendes Schweigen über diese Verantwortung, denn das hätte als einvernehmliche Geste des Gedenkens wahrgenommen werden können. Dieser Zeitabschnitt, in dem sich die Interpretationen des Krieges durch jene, die ihn erlebt hatten, herauskristallisierten oder durch jene, die daraus einen politischen Hebel machen wollten, fiel mit einer besonders gespannten internationalen und vor allem deutsch-französischen Lage zusammen, die sich erst 1924–1925 entspannte, indem sie andere Alternativen anbot, sich den Krieg und die Nachkriegszeit vorzustellen.

WBG Deutsch-Französische Geschichte Bd. VII

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