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3 Das Meer als Hindernis, Verkehrsweg und Siedlungsraum

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Dass die neuzeitliche Erschließung unbefahrener Seewege und unbekannter Länder nicht durch „vornehme Dogen auf pomphaften Staatsschiffen erfolgte, sondern durch wilde Abenteurer und Seeschäumer, kühne, die Ozeane durchstreifende Waljäger und wagende Segler als die ersten Helden einer neuen maritimen Existenz“52, trifft ebenfalls auf die mediterranen Gesellschaften der Antike zu. Auch für sie gilt, dass die Eroberung des Meeres das Werk unerschrockener, berufsmäßiger Seefahrer war. Allerdings ereignete sie sich nicht aus wissenschaftlicher Neugier heraus, sondern, um den Tausch von Waren von den Säulen des Herakles im Westen bis an die Levante im Osten zu ermöglichen. Wie den Walfängern des 18. und 19. Jahrhunderts, von deren Welt uns Hermann Melvilles Moby Dick einen beeindruckenden Ausschnitt vermittelt, offenbarte sich den seefahrenden Händlern der Antike der Ozean, nicht abenteuerlustigen Entdeckern. Handel und Schifffahrt bildeten die Klammer, die Phöniker und Griechen mit ihren weit zerstreuten Interessensphären verband. Die sagenumwobene Fahrt des samischen Schiffseigners Kolaios (um 630 v. Chr.) erscheint als frühes Beispiel einer wagemutigen, allerdings auch unfreiwilligen Meeresüberschreitung53, denn er war auf dem Weg von Griechenland nach Ägypten in einen Sturm geraten, der ihn schließlich bis zur Straße von Gibraltar verschlug. Als erster Grieche soll er in dem für sein Reichtum an Metallen berühmten Tartessos gelandet sein, nahe dem phönikischen Gades im Südwesten der Iberischen Halbinsel.54 Dort habe Kolaios vorteilhafte Geschäftsabschlüsse tätigen können, die ihm 60 Talente Gewinn einbrachten. Ein Zehntel seiner Erträge verwendete er für die Fertigung eines Greifenkessels, den er als Weihegeschenk dem Heratempel seiner Heimatstadt Samos stiftete. Es gab jedoch weniger spektakuläre Formen von Kontaktaufnahmen zum Zweck des Güteraustauschs, über die ein anschaulicher Bericht bei Herodot vorliegt: Wenn die Karthager nach Westafrika segeln, laden sie ihre Waren ab und legen sie am Strand nebeneinander aus. Dann steigen sie in ihre Schiffe und geben ein Rauchsignal. Sobald die Einheimischen den Rauch sehen, kommen sie ans Meer; dann legen sie Gold als Preis für die Waren hin und ziehen sich zurück. Daraufhin erscheinen die Karthager und sehen nach. Entspricht das Gold ihrer Meinung nach dem Wert der Waren, so nehmen sie es und fahren ab; andernfalls gehen sie wieder auf die Schiffe und warten dort. Jene aber nähern sich dann wieder den Waren und legen Gold hinzu, bis sie sie zufriedenstellen.55

Gewöhnlich erfolgte die Erschließung eines Absatzmarktes über die Gewinnung der Oberschichten der Zielregion. Die weitgereisten Seefahrer tauschten mit ihnen Geschenke, schlossen Verträge ab und ebneten so den Weg für weitere kommerzielle Transaktionen. Das Interesse galt hauptsächlich Rohstoffen wie Holz oder Luxusgütern, Nahrungsmitteln wie Getreide, Wein, Öl und Menschen (Sklaven), vor allem aber den begehrten Metallen Silber, Blei und Zinn, für welche eine ständig wachsende Nachfrage bestand. Wer waren diese Navigatoren, die sich auf die langen und gefährlichen Routen aufmachten? Die soziologische Einordnung der Händler-Abenteurer bereitet einige Schwierigkeiten. So lassen sich bei Homer sowohl Belege beibringen, dass der Warenaustausch als eine für einen vornehmen Mann unziemliche Beschäftigung empfunden wurde, als auch für das Gegenteil. Zwar kommt keine Bezeichnung für Händler vor, dafür werden aber die Phöniker als für die Abwicklung der Tauschgeschäfte Zuständige erwähnt. Dass sie negativ gezeichnet werden, scheint mit ihrer verwegenen Tätigkeit, wobei Piraterie und Angst vor Fremden eine Rolle spielten, zusammenzuhängen. Andererseits sprach Herodot mit Hochachtung von den Leuten, die sich auf die großen Seerouten aufmachten. Der bereits erwähnte Kolaios von Samos dürfte ein wohlhabender Mann gewesen sein. Nur wer ein Schiff samt Ausrüstung und Warenlager besaß, war in der Lage, sich am Fernhandel zu beteiligen. Hinzu kam, dass eine lange Seefahrt mit beträchtlichen Unwägbarkeiten verbunden blieb; weswegen die Gewinne entsprechend hoch ausfallen mussten, um die eingegangenen Risiken zu kompensieren. Die Fortschritte im Schiffsbau und in der Navigation sowie der Ausbau fester Routen und Absatzmärkte führten zu einer Intensivierung des Seehandels und zur Herausbildung eines eigenen Berufsstandes. Darauf anspielend vermerkte der Historiker Thukydides, der ein besonderes Sensorium für die Bedeutung des Meeres und der Seefahrt entwickelte: Das Seemannshandwerk ist eine Kunst (techne), die man nicht nur so gelegentlich nebenher treiben kann, sondern auf die man sich mit ganzer Kraft verlegen muss.56

Parallel dazu lässt sich eine Differenzierung der mit dem Fernhandel zusammenhängenden Tätigkeiten beobachten. Dazu zählte das Aufkommen von Handelsgesellschaften, nicht selten mit multiethnischem Charakter. Griechen, Karthager und Italiker fanden sich zusammen, um maritime Geschäftsabschlüsse zu tätigen. Demosthenes liefert ein Beispiel für staatsüber-greifende Geschäftsverbindungen, das sich verallgemeinern lässt.57 Es handelt sich um einen um 340 v. Chr. abgeschlossenen Darlehensvertrag für eine Seefracht, bei dem Kreditgeber und Kreditnehmer aus verschiedenen Orten stammten: Athen, Phaselis und Karystos.


Griechische Kolonisation

Wenn wir heute eine kleinasiatische Küstenlandschaft in einer beliebigen ländlichen Region aufsuchen, die in der Antike zum Kernbereich des griechischen Kulturkreises gehörte, können wir die aufschlussreiche Beobachtung machen, dass sich die Äcker fast bis zum Meeresufer hin ausdehnen. Es hat den Anschein, als ob der landwirtschaftlichen Ausnutzung von jedem Quadratmeter Boden absolute Priorität eingeräumt wird. Gemäß der Logik einer solchen Landaufteilung und -nutzung drängt sich die Vermutung auf, dass das Meer als Hindernis wahrgenommen wird, weil es die planvolle Kultivierung der Felder unterbricht. Eine derartige Raumordnung mag man als etwas befremdlich empfinden, zumal sämtliche Mittelmeeranrainer seit der griechischen Antike auf das Meer hinschauten, das nicht nur ihre Blickrichtung, sondern auch die Dynamik der Beziehungen zum Nachbarn bestimmte und damit einen zentralen Stellenwert als Lebensraum erlangte. Das scheint sich in den von den Nachfahren ehemaliger Steppenvölker, die das Osmanische Reich begründeten, besiedelten Küstenregionen anders zu gestalten. Es entsteht der Eindruck, dass die heutigen türkischen Bewohner die ehemals griechische Kulturlandschaft mit dem Rücken zum Seeufer vermessen, was auch der Grund dafür ist, dass sie mit großem Geschick und Fleiß beträchtliche Erträge aus ihrer Arbeit an den betreffenden Parzellen erzielen, ansonsten aber das Wasser als eine notgedrungene Unterbrechung ihrer gewohnten, auf die Bewirtschaftung der Felder ausgerichteten Tätigkeit ansehen. Den Menschen aus dem Altertum dürfte eine solche Lebenseinstellung ungewöhnlich vorgekommen sein. Das Meer ragte in ihren Alltag hinein, bestimmte ihren Lebensrhythmus. Es wurde daher weniger als Hindernis, sondern vielmehr als verbindendes Element, als integrativer Bestandteil der eigenen lebensräumlichen Existenz empfunden. Daher spielte das Mittelmeer in der griechischen Geschichte eine Hauptrolle als Plattform der Lebensgestaltung, der Siedlungsgeschichte und der politischen Kultur, noch mehr: Es wurde für die Geschicke der an seinen Gestaden beheimateten Völker identitätsbildend.

Im Verlauf der großen Kolonisationsbewegung (8.–6. Jahrhundert v. Chr.) siedelten sich griechisch sprechende Menschen aus dem ägäischen Raum an den Küsten Süditaliens, Siziliens, der Südküste Galliens und der Ostküste Iberiens, der Kyrenaika, an den Ufern Thrakiens, des Hellespont und des Schwarzen Meeres an. In Nordsyrien suchten Griechen Al Mina auf, betrieben von dort aus einen regen Handel mit Chalkis und Eretreia auf Euböa. Schon bald wurde die Bildung von Interessenzonen erkennbar. So dominierten etwa Korinth und Chalkis im westlichen Mittelmeerraum, während die Propontis und das Schwarzmeergebiet seit dem 7. Jahrhundert v. Chr. von Megara und Milet aus erschlossen wurden.58 Die Expansion führte zu Konflikten und zu Reaktionen anderer Völker. Sie rief eine Ausweitung des Einflussgebiets der Phöniker hervor, die schließlich die Seewege entlang der Küste Nordafrikas bis nach Iberien hin kontrollierten: Gades und Karthago waren ihre westlichen Stützpfeiler.59

Kolonien wurden gegründet, um der Übervölkerung und den daraus resultierenden wirtschaftlichen Schwierigkeiten in der Heimat zu begegnen oder um Rohstoffe für die örtliche Wirtschaft und damit neue Märkte zu gewinnen.60 Doch bleiben diese Erklärungsversuche einseitig. Jedenfalls gingen bereits existierende Handelsbeziehungen einer Besitznahme voraus. Denn es bildeten sich verschiedene Siedlungstypen heraus. Am wichtigsten war die apoikia, die typische Kolonie, die als Ableger der Mutterstadt angelegt wurde und danach als autonome Polis mehr oder minder engen Kontakt zu ihr unterhalten konnte. Es kam auch vor, dass Tochterstädte ihrerseits Filialen gründeten (Megara Hyblaia oder Selinunt). Die apoikia, gewöhnlich agrarisch ausgerichtet, behauptete sich als übliches Siedlungsmodell. Daneben gab es das emporion, eine Niederlassung, die als Stützpunkt für die Navigation, als Stapelplatz oder als Handelskontor diente. Aus dem archäologischen Befund ergeben sich Rückschlüsse auf die unterschiedlichen Beweggründe, die zur Kolonisation fremder Landstriche geführt haben mögen. Das Beispiel der von Thera aus besiedelten Kolonie Kyrene ist gut überliefert. Wir erhalten einen Einblick in die Landnahme und die Entwicklung der prosperierenden Stadt. Viele Generationen nach der Gründung der Kolonie bat die Mutterstadt, den in Kyrene ansässigen Theraiern das Bürgerrecht zu verleihen und berief sich dabei auf frühere bilaterale Abmachungen. Das Ersuchen wurde gewährt und eine Abschrift des Beschlusses im Tempel des Apollo in Delphi hinterlegt: Die Volksversammlung hat folgendes beschlossen: Da Apollo von sich aus dem Battos und den Theraiern das Orakel gegeben hat, Kyrene zu besiedeln, scheint es bestimmt zu sein für die Theraier nach Libyen auszusenden den Battos als Führer (archegetes) und König (basileus), als Gefährten aber sollen die Theraier ziehen. Zu völlig gleichen Bedingungen sollen sie ziehen aus jedem Haushalt (oikos), dazu sollen sie einen Sohn auswählen. Von den Theraiern, sofern sie frei sind, soll ziehen, wer will. Wenn die Siedler dann die Kolonie in festen Besitz haben, dann soll jeder von den Familienangehörigen, der später in Libyen landet, sowohl das Bürgerrecht als auch an den Ehren teilhaben und soll von dem noch nicht einem Besitzer zugewiesenen Land einen Teil durchs Los erhalten.61

Der Text bietet wertvolle Hinweise für die Modalitäten des Kolonisationsprozesses. Demnach entwickelte sich die Kolonie zu einer autarken Ackerbürgergemeinde, die unter der Leitung eines aus der Aristokratie stammenden oikistes (Gründer) stand, der von der Mutterstadt mit den Schiffen und dem für die Errichtung der Stadt Notwendigen versehen wurde. Er überwachte die Landverteilung und schuf die politischen, rechtlichen und religiösen Institutionen der neuen Polis.62 Als göttlicher Schirmherr der neuen Gründungen waltete Apollon, dessen Orakel in Delphi vor jeder Auswanderung befragt wurde. Dies führte alsbald dazu, dass Delphi zur Schaltstelle der griechischen Kolonisation avancierte. Die Teilnahme an einer überseeischen Unternehmung musste nicht immer freiwillig erfolgt sein. Vermutlich waren die Betroffenen unverheiratete waffenfähige Männer, die aus Familien mit mehr als einem Erben stammten. Da in einigen Kolonien die Siedler gamoroi („die das Land unter sich geteilt haben“) hießen, wurde offensichtlich die Auswahl der Böden unter dem Aspekt der landwirtschaftlichen Nutzbarkeit getroffen. Auf Münzen der Kolonie Selinunt erscheint beispielsweise der Sellerie, auf denen von Metapont die Kornähre. Obwohl die Kolonien unabhängig waren, konnten sich einige nicht allein von der Bewirtschaftung ihres Umlandes ernähren. Sie blieben auf den Arbeitseinsatz der unterworfenen Bevölkerung angewiesen. Daher spielte der militärische Aspekt eine zentrale Rolle: Die Kolonisation eines Gebietes war auch ein Tätigkeitsbereich für erprobte Krieger, weswegen die frühesten Siedlungen mit besonderer Berücksichti gung ihrer strategischen Lage angelegt wurden.


Metapont

Die Auswirkungen der Kolonisation waren erheblich. Die Verbreitung der in der Heimat bewährten Institutionen samt einheitlicher Städtebaumuster (hippodamischer Bauplan) sowie die Zunahme des Schiffsverkehrs und des Handels führten zu ökonomischen Veränderungen, zu einem wirtschaftlichen Aufschwung und zur Verstärkung eines panhellenischen mittelmeer-umspannenden Bewusstseins. Auch konnte die Kolonisationsbewegung beträchtliche Nebenwirkungen auf die sozialen und politischen Verhältnisse in den Mutterstädten entfalten, wie das folgende Beispiel verdeutlicht.

Eine Luftaufnahme der unteritalischen Stadt Metapont zeigt eine auffällige Anhäufung von symmetrisch abgegrenzten Landfluren, die aufgrund der Geradlinigkeit der Trennmarken sowie der Gleichmäßigkeit der einzelnen Parzellen hervorstechen.63 Offensichtlich sind hier die ältesten Spuren des Kolonisationsprozesses festgehalten worden, als im Kontext der Landnahme die verfügbaren Ackerflächen vermessen und unter den Neusiedlern aufgeteilt wurden. Dies geschah wohl in der Absicht, die Vergabe der Felder an die betroffenen Kolonisten im Geist der Gleichheit zu verteilen. Demnach erhielten die ersten Ankömmlinge etwa gleich umfangreiche Landgüter zugewiesen. Die Zuteilung der Landparzellen erfolgte offenbar im Losverfahren, was den Grundsatz der Gleichberechtigung zwischen den unterschiedlichen Siedlern zusätzlich unterstreicht. Möglicherweise versuchte man auf diese Weise bewusst in der Fremde das zu verwirklichen, was in der Heimat oft genug verwehrt worden war: Die Nivellierung der Besitzunterschiede. Damit hoffte man die Sprengkraft einer stets brodelnden Quelle sozialer Umstürze durch Herstellung einer Plattform der ökonomischen Chancengleichheit auf Dauer zu entschärfen.

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