Читать книгу Bora oder Brüche zwischen zwei Schnitten - Walter Kranz - Страница 4

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Bei Paul Schweyers Betrieb angekommen, bleiben Bernard nur noch zehn Minuten! Zehn Minuten, eine lange und kurze Zeit. Jenachdem. Jetzt sind es nur noch neun Minuten. Für Bernard sind jetzt neun Minuten unendlich kurz. Die angebrochenen zehn Minuten scheinen keine Zeit mehr zu sein.

Der Portier ist auch nicht bestrebt, Bernard die Zeit zu verlängern:

„Ja, Sie werden erwartet, gehen Sie in das Foyer. Herr Schweyers Sekretärin wird Sie dort in Empfang nehmen.“

Bernard geht in das Foyer und sieht sich dort um. Er kann nichts Erinnerungswürdiges entdecken. Oder ist vielleicht jenes Bild würdig in Bernards Erinnerung einen Platz zu finden? Möglich!

Bernard hat sich das Betriebsfoyer anders vorgestellt.

Bernard hat sich auch Chefsekretärinnen anders vorgestellt. Jedenfalls nicht so, wie diese Dame, die der Herr Portier ihm freundlicherweise als „des Direktors Sekretärin“ vorstellt. Sie geht konsequent an Bernards Vorstellungen vorbei.

„Kommen Sie,“ sagt die Sekretärin, „der Herr Direktor ist noch nicht da, ich werde die Angelegenheit mit Ihnen vorbesprechen.“

Ihre Stimme passt auch nicht in Bernards Klischeevorstellung. Sie ist nicht sekretärinnenhaft, wobei er nicht definieren kann, was und wie sekretärinnenhaft denn sein soll. Diese Sekretärin macht Bernard ratlos.

Er ertappt sich, wie er seine Eigenart Menschen anzustarren an ihr wieder einmal erprobt.

Weil Bernard glaubt, ihren Augen ausweichen zu müssen, lenkt er die Augen auf seine Knie. Dort entdeckt er die grünen Flecken, die vom Grasknien beim Rasenmäher herrühren. Bernard schämt sich ihretwegen und er ist sich sicher, dass sein Gesicht rot anläuft. Das ist immer so bei ihm.

„Kommen Sie“, wiederholt die Sekretärin, weil Bernard auf ihre erste Aufforderung nicht reagiert. Er erschrickt und eilt ihr nach. Sie ist schon fast oben, setzt ihren Fuß bereits auf die zweite Treppe. Während sie hinaufgehen, stellt die Sekretärin sich Bernard vor. Ungezwungen. Unprotokollarisch:

„Nennen Sie mich Elisabeth“, sagt sie. Ihren Nachnamen verschweigt sie. - Noch!

Bernard bemerkt, dass die Teppiche auf dem Boden gar nicht teuer und exklusiv sind. Man hört halt so viel davon!

Auch Elisabeths Büro ist schlicht gehalten. Mit demselben Teppich wie der Gang ausgelegt: graublauer Nadelfilz. Die Wände sind ab halber Höhe gläsern. War vermutlich früher einmal ein Großraumbüro. Eine Weltkarte, auf der Fähnchen in verschiedenen Farben das Globalisierungsbestreben manifestieren, verhindert den Blick in das Nachbarbüro, woher Schreibmaschinengeklapper und eine lispelnde Mädchenstimme erkennbar sind.

„Setzen Sie sich“, sagt Elisabeth und Bernard gehorcht.

„Der Herr Direktor ist leider schon wieder unterwegs. Er musste zu einem wichtigen Arbeitsessen mit der Delegation für den Globalisierungsgipfel. Aber er hat angerufen und gesagt, dass er sich freut, Sie baldmöglichst zu begrüßen. Seine Biografie, seine Memoiren seien ihm wichtig. Sehr wichtig.“

Aus einem der Stahlschränke kramt Elisabeth einen Akt hervor, den sie Bernard hinlegt und dabei bedeutungsvoll mit dem Kopf nickt. Bernard wird schon wieder bang.

„Das sind seine Personalien. Seine Aufzeichnungen. Seine Notizen. Er hat mich gebeten, sie Ihnen auszuhändigen, damit Sie sich ein grobes Raster zurechtlegen können bis er kommt.“

Bernard öffnet den Akt und schlägt den Deckel um. Aber er seine Gedanken schweifen ab. Bernard ist gleich konzentrationslos wie zu Hause, als der Rasenmäher seine Gedanken störte. Bernard überlegt, wie er in kurzer Zeit die ihm fremde Personalie studieren, wie er sich ein Bild machen, ein Raster zurechtlegen soll.

Elisabeth muss Bernards Gedanken lesen können. Jedenfalls sagt sie: „Es gäbe da noch ein anderes Informationssystem, aber ohne Erlaubnis des Herrn Direktors darf da niemand ran. Wir werden warten müssen bis er kommt.“

Bernard schöpft Hoffnung. Wenn es je etwas gegeben hat, das ihm Mut machte, dann war es die Aussicht auf einfachem Weg ans Ziel zu kommen. Auf geraden Weg. Auf direktem Weg.

Anstatt sich die Mühe zu machen und in den Papieren zu wühlen und zu grübeln schielt Bernard nach Elisabeth. Ihr modisches Kleid scheint mit der Weltkarte abgestimmt zu sein. Die halblangen Haare trägt sie offen, nur mit einem, zum Blau der Jacke passenden Band leicht nach hinten gezwungen. Man kann nicht sagen, dass sie schmal oder schmächtig sei. Nein, kann man nicht sagen. Sie ist wohlproportioniert. Aber auf keinen Fall dick. Auch nicht dicklich.

Das Telefon surrt. Elisabeth hebt ab, wartet einen Augenblick, neigt ihren Kopf zur Seite, so dass ihr braunes Haar nach vorne fällt, greift nach einem Zettel, biegt dann mit schlanker Hand ab, fährt zum Telefon und drückt einen der vielen Knöpfe, deren Handhabung Bernard ein Tohuwabohu ist. Plötzlich weicht die Röte aus ihren Wangen. Blaue Äderchen werden sichtbar. Heben sich auf weißer Haut deutlich ab. Bernhard sieht ihre Stirn Schweißperlen gebären.

„Er wird nicht kommen“, sagt Elisabeth, nachdem sie den Hörer aufgelegt hat.

„Wird lange Zeit nicht kommen.“ Das zweite Mal sagt sie es tonlos und abgehackt.

„Hat einen Unfall gehabt. - Kommen Sie. Kommen Sie.“

Weil Bernard nicht reagiert, fasst Elisabeth seinen Unterarm und zieht ihn mit sich: „Kommen Sie schnell. Wir müssen sofort hin.“

Sie zieht Bernard wie ein kleines Kind hinter sich her. Vorbei an den ockerfarbenen Bildern. Vorbei an dem Portier, der ihnen etwas Unverständliches nachruft. Aber Elisabeth hört nicht hin, hört einfach nicht hin, will nur noch weg vom Betrieb, hin zur Unfallstelle.

Weil Elisabeth aufgeregt ist, schlägt Bernard vor, dass er fahre. Elisabeth winkt ab, kaum sichtbar, aber sie winkt ab, setzt sich hinter das Lenkrad ihres Autos, bittet Bernard sich anzuschnallen und fährt dann los. Bernard spürt, die Fahrerin möchte am Ziel sein, bevor sie gestartet ist.

Elisabeths Fahrweise wirkt verkrampft. Bernard hört nicht gerade das Knirschen, aber er spürt, dass sie die Zähne aufeinander beißt, wenn ihr rechter Fuß aufs Gaspedal drückt.

Elisabeth fährt riskant. Bernard ist sich nicht sicher, dass es ihr bewusst ist. Sie überholt einen Lastwagen und bremst ihn brüsk ab, um nicht auf den davor fahrenden Personenwagen zu knallen. Nach links ausweichen wäre nicht möglich. Auch dort wäre eine Kollision unvermeidlich.

Elisabeth murmelt während des Überholmanövers: „Hat einen Unfall gehabt, Paul. - Und Andreas ist gefahren. - Das wird Schwierigkeiten geben.“

„Ist Paul Ihr Direktor, dessen Biografie ich verfassen soll?“

Elisabeth nickt.

„Und Andreas? Wer ist Andreas?“

„Sein Chauffeur!“

Bora oder Brüche zwischen zwei Schnitten

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