Читать книгу Bora oder Brüche zwischen zwei Schnitten - Walter Kranz - Страница 5

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Blaulicht und Martinshorn heulen ihnen entgegen. Elisabeth tritt brüsk aufs Bremspedal. Das Auto kommt quer zur Fahrbahn zum Stehen und lässt dem Krankenwagen fast keine Fahrt.

„Das wird er sein. Da drinnen werden sie liegen, “ murmelt Elisabeth.

Sie lenkt ihren Wagen an den Straßenrand.

„Fahren Sie weiter“, sagt sie und deutet mit dem Zeigefinger auf das Lenkrad. Es ist ausgeschlossen eine Türe zu öffnen. Rechts eine Bruchsteinmauer und links vorfahrende Autos. Eines nach dem andern. Elisabeth und Bernard wechseln die Sitzplätze im Wageninnern. Während Elisabeth über Bernard kriecht, fühlt er ihre Rundungen. Riecht er ihr unaufdringliches Parfum. Wehen ihre Haare in sein Gesicht. Es ist eng in dem Wagen, aber sie schaffen es, die Plätze zu tauschen.

Vorne ist eine Menschenansammlung zu erkennen. Leute lungern herum oder hängen wie Trauben an der rechtsseitigen Böschung. So, als würden Schausteller sich dahinter produzieren. Wäre da nicht die polizeiliche Unfallsicherung, eine nicht zu übersehende, signalrote Unfallvorschau, man könnte tatsächlich vermuten, dass sich hinter dem Menschenauflauf Komödianten darböten.

Es stehen viele Autos am Straßenrand, darum können Elisabeth und Bernard nur weit weg vom Geschehen anhalten. Ein Polizist winkt und deutet, sie sollen weiterfahren. Nach seinen heftigen Bewegungen zu urteilen, ist er ärgerlich. Elisabeth sieht nicht hin. Sieht einfach nicht hin.

Sie nimmt Bernard bei der Hand und zieht ihn weiter. Ein anderer Polizist hält sie auf. Sagt, sie sollen wieder gehen. Zurück. Da gäbe es nichts zu gaffen. Auch da hört Elisabeth nicht hin. Sie geht mit Bernard um den Polizisten herum auf das Wrack des Direktionswagens zu. Bernard spürt wie ihre Hand zu zittern beginnt. Auch ihr Griff wird fester. Er merkt, dass sie Halt sucht.

Elisabeth zieht Bernard langsam, immer einen halben Schritt vor ihm, auf die zerbrochene, zerstückelte Windschutzscheibe zu. Mit der Hand fährt sie über die Metallteile des Wagens und versucht angestrengt, im Wageninnern etwas oder jemand zu erkennen.

Ein verbogenes Lenkrad. Ein aufgesprungenes Handschuhfach. Ein Scheibenwischer auf dem Armaturenumbau. Eine Uhr hängt am violetten Draht auf die Kupplung und baumelt leise hin und her. Dazwischen Glas. Halbauseinandergefaltete Straßenkarten. Löchrige Handschuhe. Bunte Rachenbonbons verstreuten sich über das ganze heillose kaputte Durcheinander.

Elisabeth drückt Bernards Handgelenk noch fester.

„Da klebt Blut. Sehen Sie, da klebt Blut. Ach Gott, ich kann kein Blut sehen. Konnte es nie. Schon als Kind nicht. Mein Gott, da klebt da Blut?“

Elisabeth richtet sich auf und erbleicht. Ihr Mund setzt zu einem Schrei an, der aber nicht heraus will und in den Ansätzen erstarrt. Sie steht da. Die Beine gespreizt. Die Arme gespreizt. Die Finger gespreizt. Den Mund gespreizt. Selbst einige Haare spreizen sich. Alles ist gespreizt und erstarrt. Auch der Schrei will nicht heraus aus ihr. Dieser Schrei, der entkrampfen wollte, verkrampft sich selbst. Er wird zum Kloß, der für einen Menschenhals zu dick ist und nicht durch den Schlund will. Ihr bleiches Gesicht wird rot, dann blau. Wahrscheinlich vergisst sie bald das Atmen. Einer der Umstehenden beobachtet es und ruft nach einem Arzt.

Es ist gut für Elisabeth, dass noch ein Arzt auf der Unfallstelle ist, obwohl der Krankenwagen bereits weggefahren ist.

Elisabeth wird von dem Arzt zum polizeilichen Vernehmungswagen geführt. Es ist ein sonderbares Zusehen wie Elisabeth an der Doktorhand zum Wagen geht. Breitbeinig. Im Spreizschritt. Sich ruckartig bewegend. Nach Art von Marionetten oder Robotern. Hätte sie nicht dieses modischfarbene Kleid an, sondern einen silbern glänzenden Overall, man könnte meinen, Außerirdische seien an dieser Stelle gelandet und wüssten nicht, wie man sich auf Erden bewegt.

Derjenige, der vorhin nach dem Arzt gerufen hat, ist auch Polizist. Polizist in Zivil. Bernard muss ihm glauben, da er sich als solcher ausweist. Er muss ihm glauben, obwohl Bernard sich nicht vorstellen kann, was der zivile Fahnder auf der Unfallstelle soll.

Der Polizist fragt Bernard wer die Frau sei und was sie auf der Unfallstelle wolle. Bernard gibt Auskunft so gut er kann. Dann fragt der Polizist: „Und Sie? Gehören Sie zu ihr?“

Bernard winkt ab: „Nein! Wir gehören nicht zusammen. Nicht so, was man landläufig darunter versteht.“

„Was soll das? Gehören Sie zu ihr oder nicht? Ja oder Nein?“

„Das kann man nicht mit Ja oder Nein beantworten. Da gibt es nur ein sowohl als auch. Sie verstehen?“

Bernard merkt, dass der Polizist nicht versteht. Dass es für ihn nur die Kategorie Ja oder Nein, Schwarz oder Weiß gibt. Jede für sich. Niemals in Kombination. Keine Grautöne.

„Ihren Namen?“ fragt der Polizist und zückt sein Notizblöcklein, um Bernard wie einen Verbrecher oder Verkehrssünder in seine Brustdatei aufzunehmen. Zunächst gedenktt Bernard sich zu verweigern. Da er aber keine Zeit vergeuden will, gibt er die gewünschte Auskunft und ist erstaunt, dass er danach in Ruhe gelassen wird.

Im Unfallauto entdeckt Bernard eine Taschenagenda, die von der Polizei noch nicht beschlagnahmt worden ist. Bernard öffnet das kleine Büchlein, in der Hoffnung, irgendetwas zu finden. Was, ist eigentlich egal. Nur etwas. Das kleine lederige Buch gehört nicht Paul Schweyer, sondern offensichtlich dessen Frau oder Tochter. Eigentlich, denkt Bernard, hätte ich es wissen müssen, dass diese Art von Taschenagenden von Frauen benützt wird. Oder von Mädchen. Nicht aber von Männern. Das hätte ich eigentlich wissen müssen.

Bernard blättert Seite für Seite um. Er sucht nach Hinweisen. Doch die Blätter nach der ersten Seite, auf welcher die Eigentümerin eingetragen ist, sind keusch. Unbeschrieben. Vermutlich deswegen von der Polizei nicht beschlagnahmt.

Bernard schließt die Agenda und streichelt das weiche Leder. Es scheint echtes Leder zu sein. Jedenfalls riecht Bernard Ledergeruch. Jawohl, frischen Ledergeruch. Obwohl man sagt, es gebe entsprechenden Spray. Dann öffnet er wieder die erste Seite und vergewissert sich. Dort steht: Angelika Schweyer, Froschgrabenstrasse 5.

Bernard stellt weiters fest, dass Flüssigkeit über den Boden des Unfallwagens kriecht und sich langsam durch Schmutz und Bonbons ihren Weg bahnt. Wenn das Benzin ist, besteht Brandgefahr. Bernard wundert sich, dass der zivile Polizist raucht

Als Elisabeth das Polizeifahrzeug verlässt, scheint sie sich erholt zu haben.

„Kommen Sie“, sagt sie und nimmt Bernard wieder am Handgelenk, „gehen wir, hier haben wir nichts mehr zu suchen.“

Ohne ein Wort des Dankes an den Arzt zieht Elisabeth Bernard hinter sich her zu ihrem Auto.

„Wir müssen zum Krankenhaus“, sagt sie und reicht ihm mit auffordernder Geste die Wagenschlüssel.

Der Menschenauflauf ist kleiner geworden. Der Abtransport der Verunfallten lässt die Sensationshungrigen weitergehen. Am Straßenrand steht eine kleine Gruppe von Menschen. Aus deren Gestikulieren Bernard unschwer erkennen kann, dass sie den Verlauf des Unfalls kommentieren.

„Wer ist Angelika Schweyer“, fragt Bernard unvermittelt.

Elisabeth schweigt.

„Wer ist Angelika Schweyer“, lässt Bernard nicht locker.

„Sie ist seine Frau“, sagt Elisabeth. „Eigentlich habe ich ihr meine Anstellung als Sekretärin zu verdanken, obwohl sie Paul keine Sekretärin gönnt. Obwohl sie Pauls Sekretärinnen hasst. Jawohl hasst. Richtiggehend hasst. Mit jeder Faser ihres Körpers. Mit jedem Hauch ihres Daseins hasst sie seine Sekretärinnen. Natürlich auch mich.“

Bora oder Brüche zwischen zwei Schnitten

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