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Etwas ramponiert und mit dem Wunsch behaftet, ein erfrischendes Bad zu nehmen, holte ich die verbeulte Zigarettenpackung aus meinem Jackett. Ich entnahm ihr eine wie eine Banane gebogene Zigarette und steckte sie mit Wohlbehagen an.

Die Geschichte hätte unter Umständen schlimm ausgehen können. Mehrmals gleich.

Zum ersten hätte mich der Wagen über den Haufen fahren können. Zum zweiten hätte er den Bettler an der Hausmauer zerdrücken können. Zum dritten hätten uns die Passanten ganz schön zur Minna machen können.

Wenn eine Menschenmenge einmal in Wut gerät, ist sie äußerst gefährlich. Sie hört zu denken auf und handelt nur noch instinktiv, wobei der Gegenstand oder die Person, die den Unmut entfacht hat, vernichtet werden muss.

Froh darüber, dass alles noch glimpflich abgegangen war, trat ich aus der Polizeistation.

Da stand er!

Der Blechnapf hing eingedrückt an einem alten Ledergürtel. Ob der Napf die Beule vorhin erst abbekommen hatte, war nicht zu sagen. Seine Füße steckten nackt in abgetretenen, geflickten Sandalen. Jesus und seine Jünger hätten so etwas weggeworfen. Das Hemd hatte keinen Kragen und war an der linken Brustseite — in der Herzgegend — aufgerissen. Ein freundliches Schmunzeln lag unter den dicken grauen Bartstoppeln. Die große Hakennase glänzte. Er hatte weit abstehende Ohren, und als er nun den Mund öffnete, sah ich, dass ihm ein Schneidezahn fehlte.

Er wischte sich die Rechte an der speckigen Kleidung ab, um sie mir gereinigt entgegenzustrecken.

„Danke, Mister“, sagte er.

Ich drückte die Hand. „Wofür?“

„Dafür, dass Sie mir das Leben gerettet haben.“

„Vergiss es, Freund. War für mich selbstverständlich.“

„Aber Sie haben doch dabei Ihr Leben riskiert", sagte der Bettler verständnislos.

Ich legte ihm meine Hand auf die knöcherne Schulter. „Wer einen Job hat wie ich, nimmt das nicht so ernst. Man stumpft ab, wenn man mehrmals die Woche für andere Leute die Rübe hinhalten muss.“

Er blickte mich prüfend an. „Bulle?“ Ich schüttelte den Kopf. „Schnüffler“, erwiderte ich.

Er warf mir einen versöhnlichen Blick zu. „Mein Name ist Lucky March, Mister.“

„Meiner nicht“, grinste ich. „Ich heiße Biff Calder. Einen Drink auf den Schrecken, Lucky?“

Er riss erfreut die Augen auf. „Sie sind ein großzügiger Mann, Mr. Calder.“

Ich schüttelte den Kopf. „Für dich bin ich Biff. Klar, Lucky?“

Er nickte und freute sich darüber, dass ich nicht arrogant war. „Okay, Biff.“

Wir setzten uns in eine kleine Bar. Zuerst wollte uns der Wirt nichts geben, denn Lucky war leider nicht nach der letzten Mode gekleidet. Als ich dem Mann jedoch mit giftigen Blicken, unterstrichen mit saftigen Drohungen, gut zuredete, bekamen wir die Flasche White Label, die ich verlangt hatte und aus der ich nun für Lucky und für mich einen Drink einschenkte.

Die Flasche mit dem restlichen Whisky überreichte ich Lucky mit den Worten: „Vorrat für schlechte Zeiten.“

Seine Augen füllten sich mit Tränen der Rührung. „Ich — ich weiß nicht, wie ich Ihnen danken soll, Biff. Ich bin bloß ein Bettler.“

„Vergiss es, Lucky.“

„Ich war nicht immer Bettler. Es hat auch mal Zeiten gegeben, da trug ich einen Anzug wie Sie. Nicht nur am Sonntag, Biff. Ich hatte auch eine Frau und einen Sohn. Das, was Sie heute vor sich sehen, hat der Staat aus mir gemacht.“

„Der Staat sind wir selber, Lucky“, wandte ich ein.

„Dann pfui Teufel vor uns selbst“, sagte Lucky bitter. „Sie holten meinen Jungen vor sieben Jahren von zu Hause fort. Ich war damals Portier in einer kleinen Lackfabrik. Er musste nach Vietnam. Er kam nicht wieder. Er war als Held gefallen. Als Held, Biff!“

Ich hätte ihm in diesem Augenblick ein paar banale Sprüche aufsagen können. Sprüche, die aus dem Heldentod etwas Erstrebenswertes machten. Aber ich hätte ihm damit keinen Gefallen getan, und schon gar nicht hätte er sich damit trösten lassen. Deshalb schwieg ich.

„Ich scheiße auf das Heldentum, Biff! Ich möchte meinen Jungen wiederhaben“, presste Lucky unter Tränen hervor. „Als ich das Telegramm erhalten hatte, betrank ich mich sinnlos. Ich betrank mich von diesem Tag an, so oft ich konnte. Klar, dass sich so was schnell rächt. Ich verlor zuerst meinen Posten und dann meine Frau. Sie fand einen Abstinenzler und ließ sich von mir scheiden. Vielleicht ist sie mit dem anderen glücklich geworden. Ich weiß es nicht. Wünsche es ihr aber. Sie kann schließlich nichts dafür, dass alles so gekommen ist. Ich kam mehr und mehr herunter — und heute bin ich das, was man eine gestrandete Existenz nennt. Muss froh sein, wenn mir jemand ein paar Cent schenkt, wenn mir mal jemand ein Stück hartes Brot gibt oder mich, wie Sie, zu einem Whisky einlädt. Niemand fragt danach, wie es dazu gekommen ist. Man rümpft nur die Nase, wenn man mich sieht. So wie der verdammte Wirt vorhin. Man möchte am liebsten nichts mit mir zu tun haben.“ Lucky March wischte sich über die feuchten Augen. „Ein Sauleben, das ich da führe, Biff. Sie können’s mir glauben.“

„Warum reißt du dich nicht mal zusammen, Lucky?“, fragte ich.

Er lächelte matt „Das sagt sich so leicht. Ich hab’s auch schon mehrfach versucht. Es geht nicht. Seit dem Tod meines Jungen ist in mir etwas zerbrochen. Vielleicht dauert’s nicht mehr lange, bis ich ihn wiedersehe. Heute hätt’s beinahe geklappt.“ Lucky richtete sich mit einem Ruck auf. Er lachte heiser und schüttelte den Kopf. „Verzeihen Sie, Biff. Ich hatte nicht die Absicht, Sie mit meinen Sorgen zu belästigen.“

„Tat aber sicher gut, sich mal wieder auszusprechen“, entgegnete ich.

Der arme Kerl griff schnell nach dem Glas. Er trank hastig, um den Kummer loszuwerden.

„Biff“, sagte er dann, „ich möchte mich dafür revanchieren, dass Sie mir das Leben gerettet haben. Ich besitze zwar kein Geld...“

„Du willst mich doch nicht etwa beleidigen, Lucky“, knurrte ich.

„Wenn Sie mal ’nen Tipp brauchen, Biff — ich komme viel herum. Ich höre manchmal das Laub faulen. Das könnte Ihnen vielleicht mal nützlich sein.“

Ich baute meine Zigarettenpackung vor ihm auf, was bedeutete, er könne sie behalten. „Okay“, sagte ich dann. „Wenn ich mal etwas wissen will und nicht selber draufkomme, melde ich mich bei dir, Lucky.“

Er schien zufrieden. Er zog die Augenbrauen wichtig hoch und tönte: „Ich werde immer für Sie dasein, Biff. Merken Sie sich das. Sie finden mich immer in dieser Gegend. Eine feste Bleibe hab’ ich nicht.“

Guter alter Lucky March.

Als ich ging, wusste ich, dass ich einen Freund gewonnen hatte. Einen Freund zwar, mit dem man sich nicht überall zeigen konnte, dessen Treue sich aber bestimmt länger hielt als die eines smokingbedressten Playboys.

Gemordet wird in langen Sommernächten: Krimi-Lesefutter Thriller Paket

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