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Blond, hübsch und blauäugig war Lydia Fersten. Ein ungemein sympathisches Mädchen von knapp zwanzig Jahren, modern gekleidet und ansteckend quirlig. Sie war noch nie in der Wiesen-Klinik gewesen, deshalb hatte sie sich das große Gebäude schon draußen sehr beeindruckt angesehen, und nun staunte sie drinnen über die spürbar angenehme Atmosphäre. Manche Krankenhäuser sind nüchtern und unpersönlich, haben das Flair von Operationsfabriken, von Fließbandbehandlung und Computertherapie. In der Wiesen-Klinik stand der Mensch im Vordergrund, und alles, was um ihn herum passierte, war in erster Linie auf ihn und sein Wohlbefinden abgestimmt.

Dr. Richard Berends, der Chefarzt, stand auf dem Standpunkt, die Klinikatmosphäre dürfe den Patienten nicht deprimieren, sondern müsse mit dazu beitragen, dass er so rasch wie möglich wieder gesund wurde.

Lydia Fersten fragte den Pförtner nach dem Weg zu Dr. Berends und bekam eine ausführliche Auskunft. Als sie wenig später aus dem Lift trat, sah sie den Chefarzt. Ihr Vater hatte ihn ihr beschrieben, deshalb erkannte sie ihn sofort. Er war ein Mann, zu dem man auf Anhieb Vertrauen fasste, groß, sportlich, aufrichtig und seriös. Eine echte Persönlichkeit war der Leiter der Wiesen-Klinik, das spürte Lydia gleich. Er hatte eine Ausstrahlung, über die nur außergewöhnliche Menschen verfügen, und Lydia erkannte jetzt schon, dass sie keinen besseren Entschluss hätte fassen können. Es war richtig gewesen, hierher zu kommen.

Dr. Berends war nicht allein. Er unterhielt sich mit einem jungen Kollegen.

„Haben Sie eine Elektrophorese und eine Untersuchung der Knochenmarkzellen vorgenommen?“, wollte der Chefarzt soeben wissen.

„Ja“, sagte der junge Arzt.

Lydia Fersten blieb stehen und wartete, bis der Mediziner auf sie aufmerksam wurde.

„Und?“, fragte der Chefarzt.

„Die Anzeichen deuten auf eine Makroglobulinämie hin. Da es sich um eine seltene Erkrankung handelt, habe ich keine Erfahrung damit. Ich habe Lymphdrüsenschwellungen, Milz- und Lebervergrößerung und Blutarmut festgestellt.“

„Es ist bekannt, dass dieses Leiden, das erst in höherem Lebensalter auftritt, und bei dem es sich um eine Neubildung des lympathischen Systems handelt, von unterschiedlicher Bösartigkeit sein kann.“

Der junge Arzt nickte. „Die Patientin ist neunundsiebzig Jahre alt. Welche Therapie schlagen Sie vor, Dr. Berends?“

„Wir werden die Patientin in den nächsten Tagen sehr genau beobachten.“

Der junge Mediziner schaute den Leiter der Wiesen-Klinik überrascht an. „Ist das alles?“

„Die Krankheit zählt zu den Paraproteinämien und verläuft häufig ohne Behandlung gutartig mit einer Dauer von zehn und mehr Jahren, Herr Kollege. Eine Therapie mit Zytostatika wäre nur bei einem rasch fortschreitenden Fall angezeigt.“

„Ich verstehe“, sagte der junge Arzt. „Vielen Dank, Dr. Berends.“

Als er sich umwandte und ging, wurde der Chefarzt auf Lydia Fersten aufmerksam. Sein intelligenter Blick huschte rasch an ihr auf und ab, aber es war ihr nicht unangenehm. Es gab Männer, die versuchten auf diese Weise herauszufinden, welche Chancen sie hatten. Bei Dr. Berends hatte Lydia dieses Gefühl nicht. Er begegnete bestimmt allen Menschen mit diesem wachen Interesse. Ein kleines, verlegenes Lächeln huschte über ihr apartes Gesicht.

„Ich bin Lydia Fersten.“

„Fräulein Fersten“, sagte der Chefarzt herzlich und streckte ihr die Hand entgegen. „Ihr Vater erzählte mir, Sie wären hübsch. Ich muss feststellen, er hat gelogen. Sie sind nämlich eine ausgesprochene Schönheit. Kommen Sie mit in mein Büro!“ Seine aufrichtige Herzlichkeit machte es Lydia leicht, ihre Hemmungen über Bord zu werfen. Er machte sie mit seiner Sekretärin Veronika Baier bekannt und führte sie in sein Büro, in dem er ihr zunächst einmal Platz anbot.

„Möchten Sie etwas trinken?“, erkundigte er sich. Veronika Baier stand abwartend in der Tür.

„Kaffee vielleicht?“, fragte Dr. Berends.

„Danke ja“, sagte Lydia, und die Sekretärin zog sich für kurze Zeit zurück.

Dr. Berends wollte hören, wie es Lydias Vater ging.

„Großartig“, sagte sie.

„Meine Frau und ich sprechen noch sehr oft von ihm.“

„Das tut Vater auch. Sie beide haben großen Eindruck auf ihn gemacht“, sagte die blonde Besucherin.

„Genau wie er auf uns. Charlotte und ich haben ihn bewundert. Er ist von einem beeindruckenden Pioniergeist beseelt.“

„Das Blut eines Abenteurers fließt in seinen Adern.“

„O ja, das kann man sagen.“

Mit einem Motorrad, das sich Lydias Vater eigens für diesen Zweck gekauft hatte, fuhr er kreuz und quer durch Norwegen. Oft war er tagelang allein und hauste in einem primitiven Zelt, obwohl er sich bei seinem Einkommen wesentlich mehr Luxus hätte leisten können, denn er war Manager eines großen Kölner Hotels. In Haugesund hatte das Arztehepaar den unternehmungslustigen Kölner kennengelernt.

„Andere steigen für immer aus, ich nur für sechs Wochen“, hatte er gesagt. „Danach kehre ich in die Tretmühle des Alltags zurück und freue mich auf die nächste große Reise. Wohin die gehen wird, weiß ich noch nicht. Vielleicht ins tibetanische Hochland.“

Charlotte und Richard Berends verbrachten eine amüsante Zeit mit ihm. Er sprach häufig und mit sehr viel Liebe über seine Tochter, die diplomierte Krankenschwester war und eine Stellung suchte, die sie ausfüllte. Trotz seiner guten Verbindungen war es ihrem Vater bisher nicht gelungen, etwas Passendes für sie zu finden.

Der Zufall brachte die Entscheidung. Dr. Berends sagte, für eine tüchtige, ambitionierte Krankenschwester wäre in der Wiesen-Klinik immer ein Platz frei, und Lydia solle sich mit ihm in Verbindung setzen.

Als der Chefarzt mit seinen Frau aus Norwegen zurückkehrte, läutete zwei Tage später in seinem Büro das Telefon, und Lydias Vater war am anderen Ende. Er fragte, ob das Angebot noch Gültigkeit habe, und der Chefarzt bejahte die Frage.

„Lydia wird sich melden“, sagte daraufhin Albert Fersten, und einen Tag später rief tatsächlich seine Tochter an.

Und nun war sie hier.

Veronika Baier brachte zwei Tassen Kaffee. Lydia nahm ihn wie der Chefarzt mit Milch, aber ohne Zucker.

Sie wies auf ihre Aktentasche.

„Wenn Sie meine Zeugnisse sehen wollen ...“

„Die kann sich später Schwester Hanna, die Oberin, ansehen“, sagte Dr. Berends und nahm einen Schluck vom heißen Kaffee. „Ihr Vater hat mir versichert, dass Sie sehr tüchtig sind, und ich halte ihn für einen sehr objektiven Menschen. Er würde es nicht behaupten, wenn es nicht stimmte. Nicht einmal bei seiner eigenen Tochter.“

„Sie haben recht. Die Wahrheit geht meinem Vater über alles, und er legt im Berufsleben äußerst strenge Maßstäbe an.“

„Genau wie ich“, sagte der Arzt. „Ich finde, wir sind es unseren Patienten schuldig, unser Bestes zu geben.“

„Dazu bin ich jederzeit bereit“, sagte Lydia Fersten.

„Ich bin sicher, wir werden sehr gut miteinander auskommen“, meinte Dr. Berends.

Das Telefon unterbrach die Unterhaltung. Dr. Berends entschuldigte sich und nahm den Hörer ab. Man bat ihn in die Aufnahme. Er versprach, sofort zu kommen und legte auf.

„Tja, so geht es. Man hat keine zehn Minuten für ein ungestörtes Gespräch“, sagte er bedauernd. „Fräulein Baier wird Sie zur Oberin bringen. Wir haben ein sehr schönes Wohnheim. Schwester Hanna wird Ihnen Ihre Unterkunft zeigen.“

Er reichte Lydia die Hand, und kurz darauf nahm sich Veronika Baier ihrer an.

„Dr. Berends ist ein viel beschäftigter Mann“, stellte Lydia Fersten fest.

„Das kann man wohl sagen. Es ist keine Seltenheit, dass er in der Woche hundert Stunden in der Klinik verbringt.“

„Wie hält er das aus?“, fragte Lydia bewundernd.

„Das fragen wir uns alle“, sagte die Sekretärin des Chefarztes lächelnd. „Im Moment geht es bei uns besonders hoch her. Wir erwarten in Kürze einen äußerst exotischen Patienten aus Arabien. Seit Jahrzehnten ist es bei den Scheichs Mode, sich in Europa untersuchen und nötigenfalls behandeln zu lassen. Da der gute Ruf der Wiesen-Klinik weit über die Grenzen unseres Landes hinaus bekannt ist, hat sich das Staatsoberhaupt des Emirats Yanba entschlossen, sich von Dr. Berends und seinen Kollegen gründlich untersuchen zu lassen.“

Lydia strahlte. „Das ist ja wunderbar. Dann wird die Wiesen-Klinik noch mehr an internationalem Ansehen gewinnen.“

„Ich glaube, das wäre unserem Chef gar nicht mal so recht. Die Wiesen-Klinik soll nicht in den Verdacht geraten, nur für hoch- und höchstgestellte Persönlichkeiten da zu sein. Hier wird allen geholfen. Dem Armen ebenso wie dem Reichen. Ohne Ansehen der Person. Darauf legt Dr. Berends allergrößten Wert. Kommen Sie, ich bringe Sie zu Schwester Hanna. Sie ist eine sehr resolute Person. Lassen Sie sich von ihrer rauen Schale aber nicht abschrecken. Sie hat einen butterweichen Kern, und für jene, die sie mag, geht sie glatt durchs Feuer.“

Sammelband 4 Krimis: Mordgeflüster in Venedig und drei andere Krimis

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