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Mr. Moore legte die Karteikarte auf den Schreibtisch zurück.

„George Miller hat das Zuchthaus seit der Einlieferung nicht verlassen“, sagte er mit Nachdruck. „Das unterliegt keinem Zweifel.“

„Darf ich ihn sprechen?“

„Selbstverständlich Miss Hill.“ Moore war der stellvertretende Direktor des Zuchthauses von St. Quentin. Der eigentliche Chef befand sich auf einer Konferenz in Mexiko. Moore telefonierte. „Gut, ja ja, ich weiß Bescheid“, sagte er am Ende des Gesprächs und legte auf. Er blickte mich an. „Sie finden ihn im Gefängnishospital. Er liegt dort seit drei Wochen. Er hat eine schwere Magenoperation hinter sich.“

„Das bedeutet, dass er zur Zeit des Bankraubes bereits im Hospital lag?“

„Ja“, sagte Moore.

„Sehr interessant“, bemerkte ich.

Moore lächelte. „Das Hospital ist mindestens ebenso scharf bewacht wie das eigentliche Zuchthaus“, sagte er. „Obwohl es außerhalb der Gefängnisblöcke liegt, sind die Sicherheitsvorkehrungen nicht weniger streng. Im Gegenteil, die Kontrollen sind sogar noch häufiger.“

„Wer leitet das Hospital?“

„Dr. Bench. Er hat natürlich einen Assistenten.“

„Wird jede Operation hier im Hospital ausgeführt?“

„O nein, dafür ist Dr. Bench nicht qualifiziert. Einfache Operationen kann er natürlich erledigen.“

„Wie viele Patienten liegen in dem Hospital?“

„Augenblicklich sind es siebzehn. Wir haben es uns zur Gewohnheit gemacht, nur wirklich ernste Fälle anzunehmen.“

„Vielen Dank, Sir.“

Zehn Minuten später saß ich Dr. Bench gegenüber. Es war ein hagerer, distinguiert aussehender Endfünfziger mit Halbglatze und Brille. In der Tasche seines Arztkittels steckten mindestens zehn Kugelschreiber.

„Es macht keinerlei Mühe, Sie mit Miller zusammenzubringen“, meinte er. „Miller liegt in einem Einzelzimmer.“

„Das ist ziemlich ungewöhnlich, nicht wahr?“

„Nicht unbedingt. Schwere Fälle bringe ich stets in Einzelzimmern unter.“

Er erhob sich. „Darf ich Sie bitten, mir zu folgen?“

Ein Gefängnishospital unterscheidet sich nur wenig von einem Zellenblock. Der gleiche Mechanismus an den Türen, das gleiche Guckloch, die gleiche triste Gesamtatmosphäre. Nur ist die Innenausstattung der Räume heller und freundlicher, die Betten sind besser, und die Fenster größer. Größer sind aber auch die Gitter, die sich vor diesen Fenstern befinden.

Der Wärter schloss auf. Wir traten ein. George Miller blickte mich an. Er lag im Bett und las Zeitung. Langsam ließ er die Zeitung sinken.

„Das ist Miss Hill vom FBI“, stellte mich der Arzt vor.

Miller sagte nichts. Er starrte mich nur an. Er hatte ein blasses Gesicht mit tiefliegenden Augen. Er sah nicht sonderlich gesund aus, aber das galt für die meisten, die ein paar Jahre hinter Gittern verbracht hatten.

Ich trat an das Fußende des Bettes. „Es gibt ein paar Leute, die behaupten, dass Sie kürzlich an einem Bankraub beteiligt gewesen sein sollen“, sagte ich.

„Spinner!“, meinte er.

Dr. Bench rückte an seiner Brille herum. „Das klingt in der Tat sehr abwegig“

„Sie waren draußen, Miller“, sagte ich. „Die Frage ist nur, wie Sie das geschafft haben.“

Er grinste. „Warum denken Sie nicht ein wenig darüber nach?“

„Ich bin gerade dabei“, sagte ich.

Bench lachte kurz. „Das ist ein merkwürdiger Dialog“, meinte er.

Ich fand, dass Benchs Lachen nicht sehr natürlich klang und fing an zu begreifen.

„Wann verlassen Sie abends das Hospital?“, fragte ich ihn.

„Feste Zeiten gibt es da leider nicht“, meinte er. „Das hängt ganz von der vorliegenden Arbeit ab. Warum fragen Sie?“

„Nur so. Sie fahren stets allein raus?“

„Meistens mit meinem Assistenten.“

„Wer ist das?“

„Dr. Geraldini.“

„Wer ist nachts hier?“

„Ich verfüge über ein Dutzend geschulter Pfleger“, erwiderte er.

„Zwei, davon haben jeweils Nachtdienst. Wenn kritische Situationen auftreten, können sie mich leicht erreichen. Ich wohne nur eine Viertelstunde von hier entfernt.“

„Wo ist Dr. Geraldini jetzt?“

„Im Labor. Soll ich ihn rufen?“

„Nicht nötig. Ich spreche später mit ihm.“

Ich schaute Miller an, dessen Hände unruhig über die Bettdecke glitten.

„Schlechte Nachrichten für Sie, mein Lieber. Das Geld ist zum Teufel. Ich habe es in der vergangenen Nacht kassiert.“

„Welches Geld?“, fragte er.

„Die vierzehn Millionen. Die ganze Summe habe ich allerdings nicht auftreiben können. Es fehlen hunderttausend Dollar. Wissen Sie, was aus dem Rest geworden ist?“

Er schaute mich an, ohne zu blinzeln. „Ich weiß nicht, wovon Sie sprechen.“

„Geld verdirbt den Charakter“, sagte ich seufzend. „Das erlebt man besonders in Ganovenkreisen sehr häufig. Dozer wurde von Greenland erschossen, der gern den Boss spielen wollte, und Greenland wiederum wurde von seinem Girl erledigt, das die vierzehn Millionen reizten. Was sagen Sie nun?“

„Das sind Namen, die mir nichts bedeuten“, meinte Miller gleichmütig. Er hatte sich ausgezeichnet in der Gewalt. Aber mein Gehör für Untertöne war gut entwickelt. Ich spürte, dass er Angst hatte.

Ich blickte Bench an. „Wie ist das, wenn Sie abends rausfahren? Wird Ihr Wagen untersucht?“

Er lächelte matt. „Untersucht? Die nehmen ihn förmlich auseinander! Abend für Abend. Es ist jedes Mal lästig, aber natürlich gewöhnt man sich allmählich daran. Wenn Sie glauben sollten, dass es möglich wäre, einen Gefangenen aus dem Hospital nach draußen zu schmuggeln, muss ich Sie enttäuschen. Das ist völlig ausgeschlossen!“

Ich blickte Miller an. „Haben Sie mir etwas zu sagen?“

„Ja!“, nickte er grimmig. „Good bye!“

Ich grinste und ging mit Bench hinaus.

„Ein Beruf ist das!“, seufzte der Arzt. „Er bringt viel Ärger. Man muss schon eine dicke Haut haben, um mit diesen Burschen klarzukommen. Aber irgendjemand muss den Job ja übernehmen. Ich schreibe zurzeit ein Buch. Es befasst sich mit der Psyche der Gefangenen. Ohne meine Arbeit im Hospital wäre es ganz ausgeschlossen, das notwendige Material zu sammeln.“

Ich blieb stehen, weil wir an einer Tür vorbeikamen, auf der Labor stand.

„Ich würde gern Ihren Assistenten begrüßen“, sagte ich.

Wir gingen hinein. Dr. Geraldini war ein blasser Mitdreißiger, der das Aussehen und den Habitus eines Künstlers hatte: dichten, schwarzen Schnauzbart und dicke, ebenfalls schwarze Hornbrille. Bench besorgte die Vorstellung. Wir wechselten einige Worte, dann verließ ich mit Bench das Labor.

„Der gute Geraldini“, sagte Bench. „Er ist ein wenig scheu, wissen Sie. Aber sehr fleißig. Und enorm tüchtig.“

„Verheiratet?“

„Ja.“

„Und wie steht es mit Ihnen?“, fragte ich.

„Sehr glücklich verheiratet“, meinte er lächelnd. „Ich habe zwei Kinder. Sie bedeuten mir alles.“ Er blieb stehen und blickte mich an. „Spielen Sie doch mit offenen Karten, Miss Hill. Hinter jeder Ihrer Fragen verbirgt sich eine Absicht, nicht wahr?“

„Stimmt“, sagte ich. „Also gut, lassen Sie mich offen sein, aber nicht hier, im Korridor...“

Wir betraten sein Office und setzten uns. Bench schien etwas nervös zu sein. Unablässig rückte er an seiner Brille herum. „Ich bin wirklich neugierig, was Sie mir zu sagen haben“, meinte er.

„Ich halte es für denkbar, dass Sie und Geraldini dem Häftling Miller die Flucht ermöglichten“, sagte ich ruhig.

„Wie bitte?“, stammelte er. „Ich höre wohl nicht richtig? Sie sehen doch, dass Miller nicht geflohen ist...“

„Er war nur ein, zwei Tage draußen“, sagte ich. „Das war wohl so abgemacht. Da er seine Strafe sowieso bald rumhat, konnte er es sich leisten, wieder zurückzukommen.“

„Das können Sie nicht im Ernst glauben!“, murmelte er. „Es wäre technisch nicht möglich gewesen.“

„O doch, sehr gut sogar“, meinte ich, „immer vorausgesetzt, dass Geraldini und Sie mit von der Partie waren.“

Er atmete schwer. „Wir sind Beamte, Miss Hill. Ist Ihnen klar, was Ihr Vorwurf beinhaltet?“

„Es ist Ihnen vermutlich verdammt schwergefallen. Aber Sie wurden erpresst. Stimmt’s? Wahrscheinlich hat man Ihnen die Kinder entführt. Geraldini hat man eine hohe Belohnung versprochen. Sie sind sein Chef. Die Sorge um Ihre Kinder brachte sie dazu, Geraldini zu überreden...“

Er stützte die Ellenbogen auf die Schreibtischplatte und legte das Gesicht in die Hände.

„Nein!“, ächzte er. „Nein!“

„Es war ganz einfach. Miller wurde pro forma ins Hospital eingeliefert. Sie besorgten ihm einen Bart, der dem von Geraldini ähnlichsah, und eines Tages nahmen Sie Miller mit nach draußen. Miller saß neben Ihnen, er hatte Geraldinis dicke Brille auf und einen falschen Bart unter der Nase. Der Posten, der die Ausweise kontrollierte, schenkte Ihnen und Geraldini nur einen flüchtigen Blick. Der Wagen wurde kontrolliert und dann waren Sie mit dem falschen Geraldini draußen. Ihr Assistent aber lag im Bett und sorgte dafür, dass bei der Abend- und Morgenzählung alles stimmte.“

„Wollen Sie mir bitte erklären, wo ich den Sinn eines solchen Ausbruches sehen soll?“, keuchte Bench. „Sie müssen für die Theorie doch eine Erklärung haben!“

„Gewiss, die habe ich“, sagte ich ruhig. „Dozer hatte den Bankraub geplant. Er hatte dafür ein erprobtes Team parat, aber die Leute erklärten ihm rundherum, das Ding nur unter Leitung ihres ehemaligen Chefs drehen zu wollen. Dieser Chef war George Miller, ein Experte für Bankjobs. Nur ihm und seiner Routine wollten sich Dozers Leute anvertrauen. Dozer blieb also nichts anderes übrig, als Miller aus dem Zuchthaus zu holen. Dozer wusste, dass das einiger Kniffe und Erpressungen bedurfte, aber er war genau der Mann, der sich dafür die richtigen Methoden und Mittel einfallen ließ.“

Bench sackte plötzlich zusammen. Wäre er ein Verbrecher gewesen, ein Gangster aus Triebhaftigkeit und Veranlagung, hätte er beharrlich weiter gelogen. Niemand hätte ihm nachweisen können, dass meine Theorie stimmte. Aber Bench war kein Verbrecher, er war nur das Opfer einer skrupellosen Gangsterbande geworden.

„Geraldini und ich haben die Belohnung nicht angerührt“, würgte er hervor. „Das Geld liegt bei Geraldini auf dem Dachboden, unter altem Gerümpel. Wir wollten nichts davon haben.“

„Umso besser“, meinte ich. „Die Bank wird sich freuen, die hunderttausend in Empfang nehmen zu dürfen.“

Tiggers alias Herford schnappten wir eine Woche später, zusammen mit Nancy, seiner Frau. Er führte uns zu Wilsons Leiche. Es war nicht ganz leicht, mit ihm zu verhandeln, aber im Endeffekt hatte er unserer Puste, unserer Routine und den klaren Beweisen nichts entgegenzusetzen. Rayn und ich tippten den ganzen Tag wie besessen Berichte, Verhöre und Gutachten. Lieutenant Hoover half uns dabei. Wir knackten jede Nuss. Nur bei Miss Ronda hatten wir Pech. Wenn sie Lust verspürte, den Mund aufzumachen, tat sie es nur, um uns eine faustdicke Lüge aufzutischen, aber meistens schwieg sie. Rayn und ich nahmen das nicht weiter tragisch. Die Beweiskette war lückenlos. Wir hatten die Story, wir hatten die Zeugen, und wir hatten die Mittel, die junge Frau dorthin zu bringen, wohin sie gehörte.

Nichts konnte sie davor bewahren, jeden Morgen in einer Zelle aufzuwachen, um damit klar zu kommen, dass sie für den Rest ihres Lebens hinter Gittern aufwachen würde.

Lebend würde sie ihre Zelle niemals wieder verlassen.

ENDE

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