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Die Stunden verrannen wie zähflüssiger Sirup. Jana Härtling sorgte dafür, dass die Kinder zu Bett gingen, und auch Ottilie begab sich zur Ruhe, nachdem sie gefragt hatte, ob sie noch irgendetwas für Sören und Jana tun könne. Brütendes Schweigen herrschte im Wohnzimmer. Jana und ihr Mann hingen ihren Gedanken nach. Nur das monotone Ticken der Wanduhr durchbrach die absolute Stille.

Endlich kam Ben nach Hause. Sören und Jana wechselten einen raschen Blick.

„Es ist vielleicht besser, wenn ich mit ihm allein rede”, sagte Sören.

Jana presste die Lippen zusammen und nickte. Sie liebte ihre Kinder und hätte gern - wie jede Mutter - alles Leid und jeglichen Kummer von ihnen ferngehalten, doch das war nicht immer möglich, denn manchmal spielte das Leben mit gezinkten Karten und trickste selbst die wachsamsten Mütter aus.

Als Sören Härtling aus dem Wohnzimmer trat, war Ben bereits im Begriff, die Treppe hochzuschleichen.

„Guten Abend, mein Junge”, sagte Sören.

Ben blieb wie ein ertappter Einbrecher stehen.

„Guten Abend, Vati.” Er drehte sich langsam um. Ein unendlicher Weltschmerz lag in seinem Blick.

„Ich muss mit dir reden”, sagte Sören ernst.

„Hat das nicht bis morgen Zeit?”, kam es dünn über Bens Lippen.

„Ich fürchte nein“ sagte Sören bedauernd.

„Ich bin im Moment nicht besonders gut drauf, Paps”, ächzte Ben.

„Es geht um Leontine”, erklärte Sören.

Ben zog die Luft scharf ein und ballte die Hände zu Fäusten. Allein die Erwähnung von Leontines Namen schien ihm große Pein zu bereiten.

„Bitte nicht heute, Papa”, stieß der Junge rau hervor. „Nicht heute. Entschuldige mich.” Er hastete nach oben und verschwand in seinem Zimmer. Sören folgte ihm. Es musste sein. Er tat es bestimmt nicht gem. Er klopfte an Bens Tür. Ben antwortete nicht. Sören öffnete trotzdem die Tür.

„Tut mir leid, mein Junge”, sagte er, „aber die Sache duldet keinen Aufschub.”

Ben lag auf seinem Bett, der rechte Unterarm bedeckte seine Augen. Sören setzte sich zu ihm. „Bitte, Papa, es geht mir wirklich nicht gut”, stöhnte der Junge.

„Hattest du Streit mit Leontine?” Sören wäre froh gewesen, wenn er seinem Sohn dieses Gespräch hätte ersparen können, aber nach Alexander Neumanns unerfreulichem Auftritt in der Paracelsus-Klinik mussten sie beide da durch.

„Nein”, antwortete Ben einsilbig.

Sören zögerte einen Augenblick. Dann fragte er: „Weißt du, dass sie verheiratet ist?”

„Ja”, sagte Ben rau.

Sören war überrascht. „Seit wann?”

„Seit heute”, antwortete Ben. Es klang wie ein verzweifeltes Wimmern und weckte Sörens Mitleid.

„Hat sie es dir gesagt?”

„Ja”, schluchzte Ben.

„Hat sie mit dir Schluss gemacht?”

„Ja.” Ben schluchzte lauter.

Sören legte die Hand auf Bens Schulter.

„Ich weiß, wie dir zumute ist, mein Junge.”

Bens Kehlkopf hüpfte. „Das bezweifle ich.”

„Denkst du, ich hatte nie Liebeskummer? Ich weiß, wie weh das tut. Es zerreißt einem das Herz, und man möchte schreien, aber man kann nicht, weil der grausame Schmerz einem brutal die Kehle zudrückt. Du bist nicht der erste, der das erleidet. Es wiederholt sich alles im Leben. Wenn du es dir im Moment auch nicht vorstellen kannst, die Zeit wird diese Wunde heilen. Du wirst dich eines Tages wieder verlieben und so glücklich werden, wie ich es mit deiner Mutter bin.”

Sie schwiegen eine Weile. Ben atmete schwer. Sören ersparte ihm die Bemerkung, dass Leontine ohnedies nicht zu ihm gepasst hatte. Ben war mit Sicherheit auch jetzt noch anderer Meinung.

„Es tut so weh, so weh”, klagte der Junge.

„Ich weiß. Man denkt, die Welt habe aufgehört, sich zu drehen. Alles erscheint einem plötzlich so sinnlos, und man fällt in eine bodenlose Tiefe. Aber man stürzt nicht wirklich ab, solange man eine Familie und gute Freunde hat, die sich um einen kümmern.” Sören erhob sich. „Wir sind immer für dich da, das weißt du.”

„Ja”, krächzte der Junge. „Danke, Vati.”

„Versuch jetzt zu schlafen. Du wirst sehen, morgen sieht die Welt schon ein bisschen freundlicher aus.” Sören ging zur Tür.

„Vati ...”

Sören drehte sich um. „Ja, Ben?”

Ben nahm den Unterarm von seinen Augen, sie glänzten feucht.

„Wieso weißt du, dass Leontine verheiratet ist?”

„Ihr Mann war heute bei mir in der Klinik und forderte mich unfreundlich auf, dir nahezulegen, die Finger von seiner Frau zu lassen, sonst gäbe es großen Ärger. Aber deine Mutter hat schon viel früher geahnt, dass an der ganzen Geschichte etwas faul ist. Man darf die weibliche Sensibilität nicht unterschätzen. Frauen sind wachsamer und feinfühliger als der empfindlichste Seismograph.”

Als Sören Härtling ins Wohnzimmer zurückkehrte, sah Jana ihn gespannt an. Sie platzte beinahe vor Neugier.

„Hast du mit ihm gesprochen?” fragte sie heiser. Sören nickte ernst. „Wie hat er es aufgenommen?”, wollte Jana wissen. „Hast du ihm gesagt, dass Leontine verheiratet ist?”

„Er wusste es bereits.”

Janas Augen weiteten sich erstaunt. „Von wem?”

„Von ihr”, sagte Sören Härtling. „Sie hat mit ihm Schluss gemacht.”

„Das hat wahrscheinlich ihr Mann von ihr verlangt.”

Dr. Härtling nickte. „Nehme ich auch an.”

„Und nun?”, fragte Jana beklommen. „Wie geht es Ben?”

Sören rümpfte die Nase und schüttelte den Kopf. „Nicht sehr gut.”

„Ist er unglücklich?”, fragte Jana Härtling voller Mitgefühl.

Sören nickte finster. „Ziemlich.”

„Der arme Junge.” Jana seufzte laut. „Soll ich zu ihm gehen?”

„Du kannst ihm nicht helfen. Lass ihm Zeit, mit sich selber ins Reine zu kommen. Morgen wird dein mütterlicher Beistand mehr gefragt sein als heute.” Sören legte den Arm um die Schultern seiner Frau und sagte: „Komm, lass uns zu Bett gehen! Es ist schon spät.”

Als sie dann im Bett lagen und das Licht ausgeknipst hatten, sagte Jana: „Ist nicht schön, unglücklich verliebt zu sein. Ich war’s ein paarmal. Es tat jedes Mal ganz höllisch weh.”

„Selber schuld”, grinste Sören in die Dunkelheit. „Warum hast du nicht gleich auf den Richtigen gewartet?”

„Ich hatte ja jedes Mal gedacht, er wäre es”, erwiderte Jana.

„Bis ich dir über den Weg lief”, sagte Sören.

„Und bei dir war ich am Anfang nicht einmal sicher, ob du der Richtige bist.”

„Das ist aber nicht sehr schmeichelhaft für mich”, brummelte Sören.

Jana rückte näher. Ihre weichen Lippen suchten seinen Mund.

„Dafür liebe ich dich nach so vielen Jahren immer noch.”

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