Читать книгу Krimi Paket Mörderisches Lesefutter im August 2021: 16 Romane - A. F. Morland - Страница 10
3.
ОглавлениеAchim Warstedt wollte gerade sein Haus zum Unterricht verlassen, als Kramer anrief.
»Ja, ich weiß, wer Sie sind, Herr Kramer. Unser Direktor hat sich zur Genüge über Sie aufgeregt. Ehrlich gesagt, ich würde Sie ungern in der Schule treffen.«
»Kann ich verstehen.«
»Wie wär’s ab zwölf Uhr bei mir privat. Ich wohne in Millsen, Kahler Felsen 212.«
»Gerne. Ab zwölf Uhr also bei Ihnen.«
In der Boutique Irene herrschte schon am frühen Morgen erstaunlich lebhafter Betrieb. Irene Laysen schaute Kramer hilflos an, als er sich vorstellte und fragte, ob er mit ihr unter vier Augen sprechen könne.
»Im Moment passt es wirklich schlecht«, sagte sie und deutete auf ihre Kundinnen. »In einer Stunde vielleicht?«
»Na schön«, gab Kramer nach und suchte draußen nach einem Geschäft, das Kaffee verkaufte.
Mit einem Pfund Milde Auslese, gemahlen für die Maschine, und einem Päckchen großer Filtertüten betrat Kramer schließlich das Revier.
Engel lachte fröhlich auf. »Sie haben Kaffeedurst«, stellte er fest.
»Stimmt. Irene Laysen hat den Laden voller Kundschaft.«
»Natürlich, einige wollen kaufen, andere wollen endlich hören, was es mit dem gefundenen Fahrrad auf sich hat.«
»Herr Engel, ich habe eine etwas heikle Frage. Wenn Sie nicht antworten wollen, könnte ich das gut verstehen.«
»Versuchen wir’s mal!«
»Der Herr Apotheker hat etwas ausgefallene sexuelle Bedürfnisse.«
»Corinna hat also aus der Schule geplaudert?«
»Ja, aber nur in Andeutungen.«
»Stimmt wohl, aber ich bin mir ziemlich sicher, dass er nie versucht hat, sich an Anna heranzumachen. Das wollten Sie doch wissen.« Damit drehte Engel sich zu der blubbernden und röchelnden Kaffeemaschine um. Zu diesem Thema würde er Kramer keine weiteren Auskünfte geben.
Der seufzte. »Doch noch eine Frage zu den Lankenows, Herr Engel. Läuft die Apotheke gut?«
»Schwer zu sagen, nicht schlecht, würde ich denken, aber auch nicht überragend.«
»Wie ist Anna eigentlich zur Schule nach Rollesheim gekommen? Mit dem Fahrrad?«
»Nein, mit dem Bus. Sie ist gleich hier vorne an der Uferstraße in den Bus gestiegen und bis in die Rungestraße gefahren.«
»Herr Engel, ich denke ständig über diese Eigenart von Anna nach, dieses Umschalten. Was kann ihr am Samstag durch den Kopf geschossen sein, nachdem sie in den Krimser Forst eingebogen war?«
»Sie wollen wissen, was Anna in der letzten Zeit besonders beschäftigt hat?«
»Ja, das würde mich sehr interessieren.«
Engel goss Kaffee ein, blies über die dampfende Oberfläche und schaute Kramer ausgesprochen unwillig an. »Sie stochern im Nebel herum.«
»Das ist wohl wahr.«
»In der Woche vorher war sie bei mir hier im Revier und fragte, wie man feststellen kann, wohin ein Mensch, eine Familie verzogen ist.«
»Und? Haben Sie ihr helfen können?«
»Nicht helfen wollen, Herr Kramer. Es stimmt, Irene kannte zu der Zeit, als sie schwanger wurde, einen Eberhard Nachtwächter. Es stimmt auch, dass der noch vor Annas Geburt tödlich verunglückt ist. Mit seinem Motorrad.« Engel griff nach seinem Becher. »Er ist mit circa hundert Sachen gegen einen parkenden, ordnungsgemäß beleuchteten Laster geprallt.«
»Kennt man die Ursache? Alkohol, Rauschgift, geplatzter Reifen oder glatte Straße?«
»Weder noch. Er hatte seinen Führerschein gerade acht Monate und war schon ein polizeibekannter Raser und ein ortsbekannter Herzensbrecher.«
»Und er war Annas Erzeuger?«
»Wahrscheinlich. DNA-Analysen gab es damals noch nicht. Eberhard war ein Mädchentyp. Sie sind ihm nachgelaufen und er hat ungern eine Verehrerin zurückgewiesen.«
»Aber es gab schon damals die Blutgruppenbestimmung.«
»Richtig, und die passte. Irene hat die Blutgruppe Null, Eberhard A und Anna hat auch A positiv nun schauen Sie nicht so verwundert, ich kenne natürlich nicht von allen Werlebachern die Blutgruppe, aber nach Annas Verschwinden habe ich alte Akten gewälzt.«
»Noch etwas Merkwürdiges, Herr Engel. Anna kommt zu Ihnen, um herauszufinden, wohin die Familie Nachtwächter verzogen ist. Weiß sie nicht, dass die Nachbarin, die Apothekerin Christine Lankenow, die Schwester des verunglückten Eberhard Nachtwächter ist?«
»Ehrlich gesagt, ich habe keine Ahnung. Ich hab’s Anna nie erzählt, und ob Irene es ihrer Tochter Anna erzählt hat, weiß ich nicht.«
»Haben sich die Eltern Laysen nie bemüht, den Erzeuger ihres Enkelkindes herauszufinden?«
»Doch, aber nicht lange. Frau Laysen hätte Irene nach der Entbindung wegen des unehelichen Kindes am liebsten in ein geschlossenes Heim abgeschoben. Laysen senior mochte seine Enkelin Anna gut leiden, war sogar ein wenig stolz auf sie und hat das Verhalten seiner Frau weder verstanden noch gutgeheißen. Dann sind die beiden Laysens etwa zwei Jahre nach Annas Geburt auf der Autobahn bei einer Massenkarambolage ums Leben gekommen.«
Kramer trieb sich auf der Hauptstraße herum, bog einmal in den Wald ab und folgte den Hinweisschildern bis zum Werlebach, einem dünnen Rinnsal, das in der Nähe des Fähranlegers über einen winzigen Wasserfall in den Fluss mündete. Von dem Hauptweg führte ein besserer Trampelpfad bis an die Rückseite und das Gartentörchen des Dircks’schen Hauses. Kein Mensch unterwegs.
In Irenes Boutique herrschte jetzt gähnende Leere, Irene Laysen schaute Kramer unruhig an und unterbrach ihn rasch, als er sich vorstellte: »Waldemar hat mich angerufen. Wieso kümmert sich eine Versicherung um Anna?«
Kramer entschloss sich zu einer Schockmethode. »Weil sie im schlimmsten Fall zahlen muss.«
»Schlimmsten Fall?«
»Ja, falls Anna tot sein sollte. Sie haben doch zwei Versicherungen abgeschlossen.«
Irene Laysen wurde bleich, schwankte und musste sich an der Kassentheke festhalten. »Ist das Ihr Ernst?«
»Nicht nur das, Frau Laysen. Was, wenn Anna aus Leichtsinn oder mangelnder Vorsicht an ihrem Tod mitverantwortlich sein sollte?«
»Woher wollen Sie wissen, dass Anna tot ist?«
Ob sie wirklich vermutete oder hoffte, dass ihre Tochter noch lebte? Kramer musterte Irene Laysen unauffällig. Sie war eine sehr hübsche Frau, etwas über mittelgroß und schlank, mit großen, braunen Augen und einem weichen Mund. Je länger er sie ansah, desto mehr gefiel sie ihm, auch weil sie ihn an seine erste Schülerliebe erinnerte. Ihre Hände hielt sie jetzt fest umklammert. Die engen Jeans und das dünne TShirt unterstrichen ihre perfekte Figur.
Kramer beschloss, ein anderes Thema anzuschneiden. »Sie wissen, dass Martin Denzel ein Auge auf Anna geworfen hatte?«
»Ja«, fauchte sie. »Und ich weiß auch, dass Marlene Denzel strikt dagegen war. Sie meint, es reiche völlig, wenn die Laysens ihr einen Mann wegnehmen.«
»Martin hat mir erzählt, dass Anna in einem Sportverein ist?«
»Ja. Im SSV Rolletal.«
»Wo finde ich den?«
»Ich kann Ihnen eine Telefonnummer geben. Trainiert wird in der Turnhalle des Melle-Gymnasiums.« Irene Laysen kramte in einer Schublade und drückte Kramer eine Karte in die Hand. Sie hatte jetzt Tränen in den Augen.
Kramer schaute auf die Uhr. »Tut mir leid, ich muss zum nächsten Termin. Wenn ich wiederkomme, Frau Laysen, würde ich mich mit Ihnen gerne über Annas Vater unterhalten.«
»Der ist tot.«
»Trotzdem.«
Sie zuckte die Achseln, wischte sich die Tränen weg und maß Kramer mit einem langen, halb abschätzigen, halb herausfordernden Blick. »Das Jackett steht Ihnen nicht. Und Lederflicken an den Ellbogen sind schon lange aus der Mode.«
Die Bemerkung ärgerte Kramer. »Wenn ich Sie demnächst zu einem Wein einlade, werde ich mich vorher umziehen.«
»Gute Idee«, nickte Irene Laysen zustimmend, etwas zaghaft, aber freundlich lächelnd.
Kramer hätte gerne gewusst, auf was sich die Antwort bezog: auf die Einladung oder das Jackett. An der Tür drehte er sich noch einmal nach ihr um, sie sah ihn fest an und strich mit einer Hand leicht über ihre Taille, als wollte sie daran erinnern, dass sie Mode für Mädchen und junge Frauen nicht nur verkaufte, sondern auch selbst tragen konnte. Kramer hielt ihrem Blick stand und lächelte schließlich, was sie prompt erwiderte.
Achim Warstedt wohnte in einer Villa, von der Kramer nur träumen konnte. Sie lag auf der „richtigen Seite“ der Straße, die Fenster nach Süden zum Fluss und in der unteren Etage ein Pool, der halb in das Haus, halb in den Garten ragte, umgeben von einer breiten Veranda aus Holz und steinernen Stelzen. Das Haus war eineinhalbstöckig an der Straße und dreistöckig mit „Keller“ am Hang, für einen Junggesellen viel zu groß und mit dem Gehalt eines Studienrates unerschwinglich. Also reiche Eltern oder ein großer Lotteriegewinn. Andererseits fuhr Warstedt einen bescheidenen französischen Mittelklassewagen. Kramer wartete schon neben der Haustür, als Warstedt erschien, groß, sportlich, braun gebrannt, mit einem interessant hässlichen Gesicht. Dass viele Schülerinnen für ihn schwärmten, war verständlich.
»Entschuldigen Sie bitte, Herr Kramer, aber es geht immer um Leben und Tod, wenn ich Klassenarbeiten zurück gebe, dann fließen Verzweiflungstränen und ich muss mir einfach Zeit zum Trösten und Ermuntern nehmen.«
»Macht gar nichts«, versicherte Kramer.
Sie setzten sich in Warstedts Arbeitszimmer, von dem aus man einen wunderschönen Blick über das sonnige Flusstal hatte. Warstedt öffnete die Verandatür, die Sonne schien für September immer noch zu warm aus einem makellos blauen Himmel.
»Also Anna. Unser Sorgenkind.«
»Haben Sie was dagegen, wenn ich ein Tonband mitlaufen lasse?«
Warstedt schüttelte den Kopf und räumte auf dem Glastisch den üblichen Krimskrams zur Seite, damit Kramer sein Gerät aufbauen konnte.
»Nicht nur für Sie ein Sorgenkind, Herr Warstedt. Auch die Kripo und eine Versicherung machen sich die allergrößten Sorgen. Man hat mir erzählt, dass Anna die unangenehme Eigenschaft hatte, mitten im Gespräch “mzuschalten“, also an etwas ganz anderes zu denken.«
»Stimmt. Aber die Sache ist komplizierter, Herr Kramer. Anna schaltet nicht um, weil ihre Konzentrationsfähigkeit erschöpft ist, sondern ich muss es etwas dramatisch ausdrücken: Anna wird umgeschaltet; sie kann sich dagegen gar nicht wehren. Sie gibt sich Mühe, dabeizubleiben, erst recht wenn die Sache sie eigentlich interessiert, aber der Umschalter in ihrem Kopf ist stärker und setzt sich durch.«
»Wie und wann bemerkt man als Laie diesen Umschaltprozess?«
»Nicht sofort, es sei denn, Sie schauen ihr im Moment des Umschaltens direkt ins Gesicht. Dann sehen Sie, wie na ja, das klingt jetzt wieder dramatisch ihre Augen leer werden, alle Aufmerksamkeit sich zurückzieht und die Spannung abschlafft. Sie bekommt ein völlig glattes, ausdrucksloses Gesicht, schön, aber ohne jedes Leben und so ansprechend wie eine Porzellanpuppe.«
»Eine Absence?«
»Vielleicht, aber sie merkt sich in dieser Zeit viele Dinge, nur die nicht, die Sie ihr gerade erzählen.«
»Wehrt sie sich nicht gegen dieses zwangsweise Umgeschaltet werden?«
»Sie behauptet, ja, sie würde sich wehren, aber sie sei zu schwach.«
»Glauben Sie ihr?«
»Ja, das tue ich, sie ist keine Lügnerin. Aber andere Lehrer glauben ihr nicht. Die werfen Anna vor, dass sie mit dem Sichwehren absichtlich viel zu spät anfängt und damit den Moment verpasst, in dem sie sich noch erfolgreich zur Wehr setzen könnte. Es erinnert viele meiner Kollegen an den Verlauf hysterischer Anfälle.«
»Herr Warstedt, Anna radelt durch den Krimser Forst und wird, bleiben wir bei dem Ausdruck, umgeschaltet, biegt also von dem ursprünglichen Kurs Richtung Fleissheim zu ihrer Freundin Günda Simrock ab und folgt einem anderen Ziel. Können Sie sich vorstellen, was das gewesen sein mag?«
»Nein.«
»Aber sie hat fixe Ideen.«
»O ja.«
»Sie ist in Werlebach bei der Polizei gewesen und hat sich bei Konrad Engel erkundigt, wie sie die Familie ihres Vaters finden kann.«
»Um Himmels willen, die Geschichte kennen Sie auch schon?«
Kramer nickte nachdrücklich: »Eberhard Nachtwächter, mit dem Motorrad noch vor Annas Geburt tödlich verunglückt.«
»Der gute Dorfpolizist hat sich wohl bei Irene erkundigt und dabei den Eindruck gewonnen, dass Irene ihre Tochter davon abhalten möchte, sich mit den Eltern Nachtwächter in Verbindung zu setzen. Also hat er Anna vorgeschwindelt, es sei nicht möglich, die Eltern Nachtwächter zu finden.«
»Was Anna nicht geglaubt hat.«
»Nein, deshalb stand sie eines Tages bei mir vor der Tür, ob ich ihr nicht helfen könne.«
»Und? Konnten Sie? Oder wollten Sie nicht?«
»Ich sollte nicht, Herr Kramer.«
»Das verstehe ich nicht.«
»Ich lebe mit einer Kollegin zusammen, sie heißt Manya Bercelius und sie hält Anna für ein ganz durchtriebenes Luder. Sie meint, Anna suche nicht meine Hilfe, sondern wolle in mein Bett.«
»Ihre Kollegin unterrichtet Anna auch?«
»Ja, in Mathematik und Biologie. In beiden Fächern ist Anna ausgesprochen schwach.«
»Sie haben Anna also abgewiesen?«
»Ja. Es hat mir, ehrlich gesagt, leid getan. Denn Annas Drang, ihren Vater posthum näher kennen zu lernen, ist schon Mitleid erregend.«
»Das Thema Vater ist also für Mutter Irene und Tochter Anna noch nicht abgeschlossen?«
»Nein. Ich fürchte, Irene macht es sich zu leicht, wenn sie ihrem Kind nur ein Grab zeigt und nichts vom Vater erzählen will. Sie hat ihn genannt, weil er tot und seine Familie aus Terborn fortgezogen ist.«
»Hat sie für diese Schweigsamkeit einen Grund?«
»Keine Ahnung, Herr Kramer. Ich rede zwar gelegentlich mit Irene Laysen, aber wir sind nicht so vertraut miteinander, dass sie mir solche Einzelheiten erzählen würde.«
»Gut, dann doch nochmal zurück zum leidigen Thema Sex. War Anna Ihrer Meinung nach noch Jungfrau?«
»Ja.«
»Kein Junge, Mitschüler in der Nähe, mit dem sie wie soll ich es formulieren auf Tuchfühlung gegangen ist?«
»Nein. Es gibt einen fast gleichaltrigen Schüler, Martin Denzel, der sich sehr um Anna bemüht hat, aber ohne Erfolg.«
»Martin Denzel kenne ich. Warum war oder ist Anna so hinter ihrem Vater her?«
»Ich bin kein Psychologe und weiß nicht, ob sie einen psychischen Defekt hat. Ich kann Ihnen nur eine Laienerklärung geben, die aber doch auf wie heißt es so schön langjähriger Beobachtung beruht.«
»Ich bitte darum.«
»Anna ist ja nicht dumpi, sie weiß sehr genau, dass sie eine psychische oder emotionale Störung hat, die ihr später, außerhalb der Schutzräume Schule und Wohnung, Schwierigkeiten machen wird. Wenn sie nun einen Vater hätte, so ihre Interpretation, hätte sie einen Menschen, der ihr diese Probleme aus dem Weg räumen würde.«
»Was will oder soll sie denn nach der Schule machen?«
»Mit der Mutter ist vereinbart, dass Anna die Schule verlässt, wenn sie die Versetzung in die nächste Klasse schafft. Dann soll sie eine Lehre als Verkäuferin beginnen, damit sie später einmal das Geschäft der Mutter übernehmen kann.«
»Anna ist minderjährig ...«
»Ja. Auch dafür gibt es eine Regelung, falls der Mutter etwas zustoßen sollte. Eine Nachbarin wird bis zur Volljährigkeit eine Vormundschaft übernehmen und auch eine Art finanzielle Aufsicht ausüben, bis Anna zweiundzwanzig Jahre alt ist. Wenn die Mutter stirbt, bekommt Anna aus einer Lebensversicherung eine Menge Geld.«
»Diese Nachbarin heißt... ?«
»Christine Lankenow. Eine Apothekerin, die mit ihrem Mann die ParacelsusApotheke direkt neben Irenes Boutique betreibt.«
»Aha. Und wenn dieser Christine Lankenow was zustoßen sollte ...?«
»Irene Laysen hat einen Cousin, Felix Prool. Er ist Rechtsanwalt in Neustadt an der Eltz. Der könnte dann einspringen. Und wenn der nicht will, gibt es einen Freund Irenes, der gegenüber an der Werlebacher Hauptstraße ein Geschäft hat.«
»Peter Dircks.«
»Genau. Das Meiste scheinen Sie ja schon zu wissen ...«
»Bis auf den Ort, an dem sich Anna jetzt aufhält* Kennen Sie noch andere Verwandte?«
»Nein. Irene ist ein Adoptivkind was schauen Sie so verblüfft? Wussten Sie das nicht? , das die Laysens angenommen haben, als feststand, dass sie keine eigenen Kinder bekommen würden. Die Laysens betrieben damals schon den Laden in Werlebach; allerdings soll es nur ein besserer Trödelladen gewesen sein, geschäftlich ein ziemlicher Misserfolg. Die Laysens sollen ein verkniffenes, humorloses und unfreundliches Ehepaar gewesen sein, unter dessen Lieblosigkeit Irene sicher schwer gelitten hat. Sie sind auf der Autobahn tödlich verunglückt; da war die Enkelin Anna schon geboren und zwei Jahre alt. Irene hat Annas Vater vor ihren Adoptiveltern strikt verschwiegen. Es gab eine Lebensversicherung zu Irenes Gunsten. Mit dem Geld hat sie den Trödelladen zu der Boutique umgebaut; wie es heißt, läuft die Boutique recht gut.«
»Woher wissen Sie das alles?«, staunte Kramer und Warstedt lächelte geschmeichelt. »Irene Laysen ist oft bei mir in der Schule gewesen, und als wir anfingen, uns über Annas Zukunft zu beraten, hat sie ein bisschen von sich erzählt. Irene wollte unbedingt alles so geregelt haben, dass sie nach einem Unfall sozusagen beruhigt ins Krankenhaus gehen könnte. Seit der Zeit duze ich mich auch mit Irene.«
»Irene Laysen ist eine recht attraktive Frau«, brummte Kramer. »Hat sie mal einen Freund oder Liebhaber erwähnt? Abgesehen von Waldemar Denzel, mit dem habe ich schon gesprochen.«
»Davon weiß ich nichts«, sagte Warstedt spürbar zurückhaltend. »So weit geht unsere Bekanntschaft nicht.«
»Aber sie muss doch einen Menschen haben, mit dem sie mal ihre Sorgen bespricht. Zu dem sie gehen kann, wenn sie sich einsam fühlt oder Anna wieder mal was besonders Dummes angestellt hat.«
»Ich weiß es nicht sicher, aber ich vermute, dass sie in solchen Fällen mit Peter Dircks redet.«
»Ich kenne Peter Dircks«, warf Kramer schnell ein.
Bevor Warstedt noch etwas sagen konnte, platschte es draußen laut und eine Frauenstimme rief: »He, du Stubenhocker, komm raus! Es ist wunderschön im Wasser.«
Warstedt schnitt eine Grimassse und stand auf. »Manya weiß nicht, dass Sie hier sind. Ich fürchte, sie muss sich erst etwas überziehen.«
»Kein Problem«, sägte Kramer, »ich denke, das Wichtigste haben wir ja schon besprochen.«
Warstedt kam nach zehn Minuten in Begleitung der jungen Frau zurück, die Kramer schon in Irenes Boutique gesehen hatte. Sie schien nicht begeistert, ihn hier anzutreffen, streckte aber eine Hand aus und meinte trocken: »Einen Privatdetektiv habe ich mir anders vorgestellt.«
»Mit Verlaub auch Sie entsprechen nicht meinen Erinnerungen an meine Mathepauker.«
Manya Bercelius lachte und dehnte sich geschmeichelt. Jede Wette, dass sie unter dem dünnen Sonnenmantel nackt war, und als Kramer ihrem Blick folgte, begriff er, dass Manya ihn nicht verführen, sondern ihren Freund beeindrucken oder auch reizen wollte.
»Wir haben uns über Anna Laysen unterhalten«, sagte Kramer und packte sein Tonband ein.
»Na, da haben Sie ja sein Lieblingsthema angesprochen«, erwiderte sie gehässig. »Hat er seine große Mitleidsarie für die hübsche Schauspielerin gesungen?«
»Schauspielerin?«
»Na klar, ein ausgefuchstes Luder, das es hervorragend versteht, sich interessant zu machen. „Umschalten“, wenn ich das schon höre! Die liebe Anna hat sich für ihre Dummheiten und Faulheit vorbeugend eine Entschuldigung gebastelt, notfalls strickt sie auch die Mitleidsmasche. Aber glauben Sie mir, Herr Kramer, das kleine Biest weiß ganz genau, was es will und wie es die Männer herumkriegt, ihre Wünsche zu erfüllen. Doch bei mir kommt sie damit nicht durch. Mathe muss man lernen und begreifen, und daran fehlt es
ihr. Sie ist faul und egozentrisch, dann rinnen ein paar Tränchen und wie von selbst geht der oberste Knopf der Bluse auf. Lassen Sie sich von der so harmlosen Kleinen nicht an der Nase herumführen, Anna ist ausgekocht und zielstrebig, wie ihre Mutter. Und wenn Sie jetzt meinen, ich würde nur so reden, weil ich eifersüchtig bin, liegen Sie völlig falsch.«
Warstedt stand im Zimmer und krümmte sich vor Verlegenheit. Auch Kramer wunderte sich über den Unterton von echtem Hass, zwischen Anna und Manya musste etwas vorgefallen sein, was er nur zu gern gewusst hätte. Aber nach einem Blick auf Manyas verzerrtes Gesicht war ihm klar, dass er es heute von ihr nicht erfahren würde. Ob Warstedt den Anlass dieses Hasses kannte?
Kramer verabschiedete sich so schnell wie möglich, ließ seine Karte da und überlegte im Auto, dass Manya Bercelius ihrem Achim Warstedt nicht traute. Sie war zwar eine sexy Frau, aber auch ziemlich besitzergreifend, und dass sie während ihrer Schimpfkanonade auf Anna nervös immer wieder ihren fast durchsichtigen Sonnenmantel glatt gestrichen hatte, gab ihm zu denken. Manya verteidigte ihren Achim wie einen wertvollen Besitz, was er wohl im wahrsten Sinne des Wortes auch war. Und als Gegenleistung bewahrte sie Warstedt vor aufdringlichen Schülerinnen und damit unter Umständen verbundenen Gerüchten.
Die Fahrt nach Neustadt an der Eltz hätte Kramer sich sparen können. Felix Prool, dicklich und auf geschwemmt, ziemlich aufgeblasen und arrogant, machte es kurz. Die beiden »Damen« Irene und Anna Laysen hatte er seit mehr als zwei Jahren weder gesehen noch gesprochen noch getroffen. Nein, kein Anruf, kein Brief, kein Telegramm, keine Postkarte, null Kontakt eben. Und von dieser VaterArie Annas wusste er auch nichts. Den Namen Eberhard Nachtwächter hatte er nie gehört nein, Irene hatte ihn nicht gefragt, ob er notfalls die Vormundschaft für Anna übernehmen könne. Er hätte auch sofort abgelehnt. Ja, wenn
Kramer so meine, wolle er nicht widersprechen man sei sich so weit wie möglich aus dem Weg gegangen. Gründe? Natürlich, aber was gingen einen xbeliebigen Privat Schnüffler die Probleme der Familien Laysen und Prool an.
An der Wohnungstür hielt Prool Kramer am Ärmel fest: »Wenn du Irene ins Bett kriegen willst, musst du ihr nur drohen, du würdest ihr Anna wegnehmen und in ein Heim stecken. Das ist ihre große Angst seit Geburt des Kindes. Um das zu verhindern, tut sie alles.«
Wenn er dabei nicht so schmierig gegrinst und ihn nicht geduzt hätte, wäre Kramer ruhig geblieben. Aber so wurde das Zucken in seinem rechten Arm übermächtig. Er holte aus und knallte dem grinsenden Prool einen lehrbuchreifen Haken ans Kinn. Dieser stürzte nach rückwärts um, knallte gegen irgendwelche Schränke mit Glassachen oder -türen, es rumpelte, klirrte und schepperte gewaltig und Kramer ging erleichtert zu seinem Auto. Das Schweinchen hatte mit seiner Bemerkung ein Rätsel in Irenes Benehmen gelöst.
Bei seiner nächsten Station wurde ihm mehr geholfen. Gunda Simrock war ein auf den ersten Blick unscheinbares Kind, trotz ihrer sechzehn Jahre, klein, noch etwas rundlich, naiv und unbedarft. Doch wer sich länger mit ihr unterhielt, merkte, dass sie Charme besaß, witzig sein konnte und ein fröhlicher, angenehm offener Gesprächspartner war. Kramer hielt sie für ehrlich. Äußerlich stand sie vielleicht im Moment noch im Schatten ihrer Freundin Anna, aber sobald Gunda Simrock sich etwas gestreckt hatte, würde sie eine ernsthafte Konkurrentin für Anna Laysen werden.
»Hast du eine Ahnung, wohin Anna gefahren sein könnte?«
»Nein, nicht die geringste, tut mir leid, Herr Kramer.«
»Hat sie dich schon früher mal auf diese Art und Weise versetzt?«
»Ja, mehr als einmal. Zu Anfang war ich natürlich stinksauer, bis ich dieses Umschalten in der Schule bei ihr häufiger erlebt habe, da glaubte ich ihr dann die Entschuldigungen.«
»Sie konnte sich dagegen nicht wehren?«
»Sie hat immer geklagt, nein, das sei stärker als sie. Sie hatte zuletzt richtig Angst davor. Ich möchte zum Beispiel möglichst schnell den Führerschein machen. Das traut Anna sich nicht. Was passiert, wenn es mich am Steuer erwischt?, hat sie gesagt.«
»Sag mal, Gunda, was hältst du von Achim Warstedt?«
»Ooch, der ist ganz nett, kein Heimtücker, aber mein Vater meint, der sei ein absolutes Weichei.«
»Anna mag ihn?«
»Schon, aber das hat sich in letzter Zeit etwas gelegt. Früher war sie fast verknallt in ihn, aber dann hat sie ihn einmal privat um Hilfe gebeten und er hat abgelehnt.«
»Er sollte Anna helfen, die Familie Nachtwächter zu finden?«
»Ja, genau.«
»Ich glaube, er hätte ihr geholfen, aber seine Freundin hat es ihm verboten.«
»Frau Doktor ist wahnsinnig eifersüchtig.«
»Frau Doktor ist ...?«
»Manya Bercelius. Unsere Mathelehrerin. Eine aufgeblasene Ziege.«
»Aber Anna ist doch eine Schülerin und keine Konkurrenz für Manya Bercelius.«
»Na ja, es gibt eine Reihe von unschönen Gerüchten über Herrn Warstedt und attraktive Schülerinnen.«
»Ist das dein Ernst?«
»Ja, aber Frau Doktor passt jetzt auf. Deswegen ist sie auch auf Anna so schlecht zu sprechen.« Gunda runzelte die Stirn.
»Gunda, hat Anna mal einen Felix Prool erwähnt?«
»Den Stinker aus Neustadt an der Eltz?«
»Genau den meine ich.«
»Hat sie. Bloß den nicht, hat sie mir ihr Leid geklagt; dann doch lieber den Hurenbock Bernd Lankenow zum Vormund als den Onkel Felix mit dem ewig offenen Hosenschlitz.«
»Hat sie sich wirklich so drastisch ausgedrückt?«
»Warum denn nicht? Wenn wir allein sind, reden wir offen.«
»Da möchte ich mal Mäuschen spielen!«
Gunda sah ihn schräg an, lenkte aber sehr diplomatisch ab. »Dazu müssten Sie aber erst einmal Anna finden.«
»Ich gebe mir alle Mühe. Du meinst also, sie hatte keinen Freund?«
»Nicht so, wie Sie das jetzt meinen. Der Martin Denzel war hinter ihr her, aber den konnte sie nicht leiden, der war ihr zu aufdringlich und zu unreif.«
Das letzte Wort brachte sie mit so viel Würde heraus, dass Kramer laut lachen musste. Nach einer halben Minute stimmte Gunda ein. »Okay, das ist das neueste Lieblingswort meines Vaters, wenn ich mal wieder was ausgefressen habe.«
»Anna beneidet dich um deinen Vater?«
»Woher wissen Sie das?«
»Viele haben mir erzählt, dass Anna unbedingt mehr über ihren Vater erfahren und deshalb ihre Großeltern kennen lernen wollte.«
»Ja, das stimmt.«
»Hättest du ihr nicht helfen können?«
»Sie hat mich nie darum gebeten.«
»Warum eigentlich nicht? Ihr seid doch Freundinnen.«
»Darüber habe ich noch nie nachgedacht«, gestand Gunda, über sich selbst erstaunt.
Kramer bedankte sich und Gunda zeigte ihm an der Haustür, dass sie ihm beide Daumen drückte. »Viel Erfolg, Herr Kramer!«
»Danke, Gunda, du hast mir sehr geholfen.«
Vor dem SimrockHaus rief er bei Irene Laysen an, die zwar aufstöhnte, aber nach einer Bedenkpause doch vorschlug: »Jetzt gleich?! Ich kann etwas früher.schließen.«
»Gern. Bin schon unterwegs.«
In Werlebach bog Kramer gerade von der Ufer in die Hauptstraße ein, als sein Handy bimmelte. Er hatte das Gerät brav in die Freisprechanlage gesteckt und konnte deshalb unbe
schwert dem Oberkommissar Engel zuwinken, der gerade das Revier verließ und ihn im Auto erkannte.
»Kramer.«
»Herr Kramer. Hier ist Manya Bercelius. Könnten wir uns bitte einmal unter vier Augen sprechen. Ich fürchte, mein Auftritt heute Mittag in Achims Haus hat bei Ihnen einen falschen Eindruck hinterlassen.«
»Im Moment ist das ganz schlecht. Ich bin mit Irene Laysen in der Boutique verabredet und schon etwas spät dran.«
»Noch jemand, der über mich herziehen wird.«
»Sie irren sich, bisher hat noch niemand schlecht über Sie gesprochen, Frau Dr. Bercelius. Auch die Schüler nicht.«
»Okay, heute Abend also nicht mehr. Wie steht’s mit morgen?«
»Schaffen Sie es morgen Vormittag in mein Büro? Ab neun Uhr sitze ich dort am Computer.«
»Schön, ab neun Uhr in Ihrer Detektei.«
»Darf ich Ihnen einen Rat geben? Um das Gebäude kurven sehr nette Damen in blauen Uniformen. Sie sind mit Parksündern ziemlich unbarmherzig.«
»Auch das noch. Guten Abend, Herr Kramer.«
Als er ausstieg, bemerkte er auf der anderen Straßenseite Corinna Babel, die eben in das Dircks’sche Geschäft ging. Sie hatte schon eine Hand auf der Klinke, als sie sich noch einmal umdrehte und ihn erkannte. Automatisch hob sie eine Hand, um ihm zuzuwinken, und er grüßte freundlich zurück.
In der Boutique war die Schaufensterbeleuchtung ausgeschaltet, nur zwei Lampen über dem Kassentisch brannten noch. Irene Laysen sah müde aus und gähnte verstohlen. »Das war eine regelrechte Schlacht heute.«
»So viel Kundschaft?«
»Jein. Meine Aushilfe hat mich versetzt. Man hockt eine Stunde an der Kasse und langweilt sich und dann kommen drei Kundinnen gleichzeitig.«
»Corinna Babel ist eben zu Dircks ins Geschäft gegangen.«
»Dann hängt bei ihr daheim der Haussegen wieder gewaltig schief.«
»Wir brauchen nicht lange.«
»Trotzdem. Lassen Sie uns nach oben gehen. Ich brauche einen Kaffee und ein Stück trockenes Brot. Mein Magen schleift auf dem Boden.«
»Gibt es in Werlebach ein nettes Restaurant, in das ich Sie einladen könnte? Ich habe heute auch noch nichts gegessen.«
»Nein, das fehlt hier. Es gibt nur das alte Fährhaus, scheußlich, laut und verräuchert, mit riesigen, fettigen, lauwarmen Portionen.«
»Pech.«
»Wie halten Sie das denn den ganzen Tag durch?«
»Alles Gewöhnung und Übungssache. An einem normalen Tag sitze ich die meisten Stunden hinter dem Steuer und warte. Da schläfert Essen nur ein.«
Sie warf einen prüfenden Blick auf seinen Gürtel. »46?«
»Eher 48. 46 hängt sehr vom Fabrikanten ab. Der gute Privatdetektiv ist weder dick noch dünn, weder groß noch klein, weder schön noch hässlich. Er ist der absolute Durchschnitt auf zwei Beinen. Man soll ihn ansehen und hat ihn gleich wieder vergessen. Deswegen fährt er auch den absoluten Mittelklassewagen in der am meisten bestellten, unauffälligsten Farbe.«
Irene Laysen schüttelte den Kopf. »Nun machen Sie sich doch nicht unbedeutend.«
»Liebe Frau Laysen, ich vermute mal, dass Sie morgens auch scharf überlegen, was Sie anziehen. Es soll praktisch und bequem sein, aber nicht jeder Kundin sofort Minderwertigkeitskomplexe einflößen.«
»Stimmt.« Sie schaute lachend an ihren Jeans und dem dünnen, kurzärmeligen Shirt herunter. »Aber müssen Sie jeden Tag Hemd und Krawatte tragen?«
»Nein. Ich muss nicht, aber wenn ich morgens meine Wohnung verlasse, weiß ich nicht, wohin es mich im Laufe des Tages verschlägt. In eine nette Boutique mit einer hüb
sehen Eigentümerin zum Beispiel oder in das Bischöfliche Ordinariat oder zum Präsidenten des Oberlandesgerichts. Alles schon da gewesen.«
Sie lachte wieder und winkte ihm, ihr nachzulaufen. »Vorsicht! Die Treppe ist steil, aber der kürzeste Weg.«
Hinter ihrem Büro öffnete sie eine Tür in einen viereckigen fensterlosen Schacht mit einer Wendeltreppe, auf der sie sehr gekonnt ihre Hüften schwenkte. Er folgte ihr auf der Treppe dichtauf, und als sie unvermutet stehen blieb, prallte er gegen sie. Sie schwankte und er legte beide Hände um ihre Taille, um sie festzuhalten, während sie aus demselben Grund beide Arme um seinen Nacken schlang.
»He«, murmelte Kramer, »auf vier Beinen steht man besser als auf zweien, wie?«
»Na klar doch!«, lachte sie leise und schaute ihn amüsiert an. »Deswegen ist es besser, du lässt mich los, oder willst du mich die restlichen Stufen hinauftragen?«
»Meine Knie werden tatsächlich etwas weich.«
»Bin ich so schwer?«
»Nein, nicht schwer. Ich werde aus anderen Gründen schwach.«
»Okay, dann nehme ich das mal als Kompliment.«
»So war’s auch gemeint.«
Sie presste sich fest an ihn und Kramer hatte Mühe, das Gleichgewicht zu bewahren.
»Nicht umfallen!«, befahl sie. »Die Treppe ist verflixt steil, was?«
Die Tür oben musste sie aufschließen.
»Kaffee?«
»Gerne.«
Sie hatte ihn in ein großes Wohnzimmer geführt, das zur Hauptstraße lag. Die Gardinen waren nicht vorgezogen, man konnte problemlos in die Fenster des ersten Stocks im DircksHaus sehen. In der Küche drüben fuhrwerkte Corinna herum und machte sich an Schränken und Herd zu schaffen. Irenes Küchenfenster gingen zum Hof.
Kramer lief ihr nach und schaute zu, wie sie die Kaffeemaschine auffüllte. »Kannst du mir verraten, warum Manya Bercelius so schlecht auf Anna zu sprechen ist? Du kennst doch Frau Dr. Bercelius?«
»Aber ja. Sie hat einen doppelten Grund. Oder sagen wir genauer, einen zweieinhalbfachen.«
»Das verstehe ich nicht.«
»Der erste Grund bin ich. Achim Warstedt hat sich mal sehr hartnäckig um mich bemüht.«
»Oha!«
»Du brauchst keine Grimassen zu schneiden. Er hat es versucht, sehr offen und sehr nett, aber keinen Erfolg gehabt, was Manya allerdings nicht glaubt. Der zweite Grund ist viel unangenehmer. Anna hält nicht viel vom Anklopfen an geschlossenen Türen. Und so hat sie mal drüben in der Lankenow-Wohnung Manya mit Onkel Bernd überrascht. Bernd hat mir hinterher gestanden, er und Manya seien gerade in einer besonders heftigen Aktion gewesen.«
»Onkel Bernd ist... ?«
»Bernhard Lankenow, der Apotheker. Anna kennt ihn seit Ewigkeiten und nennt ihn deshalb heute noch Onkel. Bernd ist ein netter, hilfsbereiter Kerl, aber auch ein grauenhafter, unersättlicher Schürzenjäger. Er hat Manya durch mich kennen gelernt und auch sofort rumgekriegt. Sie verzehrt sich nicht gerade in heißer Liebe zu ihrem Achim Warstedt, will das aber um jeden Preis verbergen.«
»Warum ist sie dann überhaupt mit Warstedt zusammen?«
Irene prustete geringschätzig: »Er hat Geld und Manya liebt Luxus.«
»Aber diese Liebe reicht nicht, sie vor Versuchungen a la Bernhard Lankenow zu schützen?«
»Nein«, stimmte Irene spöttisch zu.
»Na schön. Zwei Gründe, fehlt noch ein halber.«
»Du weißt, wie Corinna Babel neben der Aushilfe bei mir und Peter Dircks drüben ihr Geld verdient?«
»Ja, weiß ich.«
»Gut. Warstedt ist eines Tages ins Geschäft gekommen, als Corinna da war. Es war tierisch heiß und sie war äußerst knapp und dünn angezogen. Außerdem hat sie einen scharfen Blick für willige Männer; Warstedt ist seiner Manya nicht in hundertprozentiger Treue zugetan, sondern fühlt sich oft von ihr am Gängelband geführt in null Komma nichts lagen Corinna und Warstedt im Bett.«
»Wie hat Manya davon erfahren?«
»Corinna hat es ihr im Zorn auf die Nase gebunden. Frau Doktor kam eines Tages unten ins Geschäft und behandelte Corinna wie ein Stück Dreck. Ich hab’s nur zum Teil gehört, weil ich im Büro am Telefon hing.«
»Und dann ist Corinna der Geduldsfaden gerissen.«
»Genau so. Wenn Frau Doktor sich ihres Achims sicher wäre, hätte sie einfach darüber hinweggehört oder es nicht geglaubt, aber weil sie ihn zu gut kennt, wusste sie, dass Corinna die Wahrheit sagte. Seitdem ist alles, was mit der LaysenBlase zusammenhängt, ein rotes Tuch für die Bercelius. Ich wundere mich, dass sie hier manchmal noch einkauft.«
»Noch eine Beziehungskiste. Ich hatte heute das zweifelhafte Vergnügen, mit deinem Vetter Felix Prool zu reden.«
»O je.« Irene Laysen wandte sich zu Kramer um und verdrehte die Augen. »Felix das Ferkel. Ich merke schon, ich muss alles beichten. Aber erst nach einem Schluck Kaffee, meine Kehle kratzt. Gehst du bitte schon ins Wohnzimmer, ich komme nach, sobald der Kaffee durchgelaufen ist.«
Irene Laysen kam fünf Minuten später, setzte vergnügt stöhnend das Tablett mit Kaffeegeschirr und einer Schale voller Zwieback auf den Couchtisch ab und ging zum Fenster, um die Übergardinen vorzuziehen. Dann ließ sie sich mit Schwung neben Kramer auf die Couch fallen und sagte entschieden: »Komm ruhig etwas näher.«
Er legte eine Hand um ihre Taille und wunderte sich, dass sie sofort näher an ihn heranrückte und den Kopf auf seine Schulter legte.
»Felix war und ist ein Ferkel. Als meine Adoptiveltern noch lebten, sind wir öfter mal in Neustadt an der Eltz gewesen, um die Schwester meiner Adoptivmutter zu besuchen. Felix hat bei den Besuchen alles versucht, mich in dunkle Ecken zu schieben, um mir unter den Rock zu fassen oder den BH aufzumachen. Er war widerlich geil und bei einer wie mir dürfe man das ja ruhig. OTon Tante Berta. Das hat er später übrigens auch zu Anna gesagt und seitdem ist er für uns gestorben ...«
»Hast du davon deinen Adoptiveltern erzählt?«
»Aber ja. Doch Huhu haben mir nicht geglaubt.«
»Huhu?«
»Er hieß Hubert Laysen und sie Hulda. Also Huhu. Und so waren sie auch. Engstirnig, bigott und völlig freud- und humorlos. Stolz auf ihre strenge Erziehung. Alles musste ich mir im Haushalt oder im Geschäft verdienen. Jedes Kleid, jeden Kinobesuch und im Sommer jede Eintrittskarte ins Schwimmbad. Und dann habe ich es gewagt, mir einen zweiteiligen Badeanzug zu kaufen. Bikini konnte man das Monstrum gar nicht nennen. Ein altmodisch züchtiger Einteiler mit einem winzigen Streifen blanker Haut. Da hättest du mal Hulda erleben sollen! Schamlos, unzüchtig, verworfen. Ob ich so wie meine Mutter enden wolle.«
»Was heißt denn das nun wieder?«
»Ich kenne meine leiblichen Eltern nicht. Huhu haben mir nur mal erzählt, dass ich ein uneheliches Kind bin und meine Mutter mich noch auf der Entbindungsstation zur Adoption freigegeben hat. Ob mir das auch passieren solle?«
»Das nennt man eine schöne Jugend.«
»Du, ich bin fast verrückt geworden. Nachts habe ich von fremden Menschen geträumt, die auf der Straße stehen bleiben, mir über die Haare streichen und sagen: Du bist ein nettes Mädchen. Ich wäre wahrscheinlich mit jedem fortgelaufen ... Du bist doch nicht Huhu zu mir?«
Es sollte scherzhaft klingen, doch der Ton missglückte ihr und Kramer überlegte ernsthaft, ob er ihre Frage beantworten sollte. Dabei durchzuckte ihn eine Erinnerung.
Sie hieß Laura, eine blauäugige Blondine, die nie mehr nach Deutschland zurückkehren wollte und sich lieber mit Gelegenheitsjobs in Matalascanas durchschlug, als noch einen Winter mit Kälte, Wind und trübem Himmel zu erleben. Sie konnte entzückend mit den Zähnen klappern, wenn sie schilderte, wie der Ostwind unter den undichten Fenstern in ihre Wohnung hineinpfiff. Kramer verliebte sich Hals über Kopf in sie und auch sie schien mit ihm glücklich zu sein. Bis sie einmal gemeinsam mit einem Sonderbus nach Sevilla fuhren, um auf dem Flughafen eine Reisegruppe abzuholen, und Laura einem gut aussehenden Mann in Pilotenuniform um den Hals fiel. Ihr Kuss verriet, dass sie sich schon länger und vor allem sehr intim kannten.
»He, du«, beschwerte sich Kramer auf der Rückfahrt an die Küste. »Wer war denn das?«
»Ein uralter Bekannter aus bundesdeutschen Zeiten, aus der Vergangenheit. Kein Grund, eifersüchtig zu werden, Rolf.«
Doch dafür gab es bald Grund genug. Geheimnisvolle Anrufe, Briefe oder auch kleine Päckchen für Laura Eschwege häuften sich. Drei Monate nach dem Treff in Sevilla verließ sie Kramer, um nach Deutschland zurückzukehren und ihren Piloten zu heiraten. Dass Kramer sie nicht festhalten konnte, wusste er, und dass sie sich in einen anderen verliebt hatte, schmerzte zwar, aber er nahm es ihr persönlich nicht übel. Doch dass sie ihm ohne Anlass, aus heiterem Himmel an den Kopf warf, er sei ein kalter Fisch, außerdem der geborene Versager und werde es nie zu etwas bringen, obendrein als Liebhaber eine absolute Null, traf ihn hart. Sie sei froh, ihn endlich loszuwerden und aus diesem Mief von Erbärmlichkeit und Armut herauszukommen. Am liebsten hätte er sein Notizbuch gezückt und ihr vorgerechnet, wie viel Geld er ihr geliehen hatte, weil sie mit ihrem Einkommen nie auskam. Gegen seinen Willen hatte Laura darauf bestanden, dass er darüber Buch führte, es handele sich doch um persönliche Kleinstkredite, die sie selbstverständlich eines Tages zurückzahlen werde, was aber nie geschah.
Sie war sogar taktlos genug, ihm eine Heiratsanzeige zu schicken, die noch nach Matalascanas adressiert war und ihn deshalb erst mit großer Verspätung erreichte, weil er nach Lauras Abreise ebenfalls seine Zelte in Andalusien abgebrochen und sich einen Job in Portugal, an der Algarve, gesucht hatte. Immerhin besaß er jetzt einen Namen und eine Anschrift, und als er einmal dienstlich nach Düsseldorf hatte fahren müssen, versuchte er sie zu sprechen. In dem Haus kannte niemand eine Laura Ohlsen, geborene Eschwege, doch mit einiger Mühe fand er auch ihre neue Adresse heraus. In das abbruchreife Haus an einer lauten Straße wäre er nie gezogen und Laura gab zu, dass es wieder unter den Fenstern hereinzog. Nein, sie und ihr Pilot waren geschieden und sie fand keinen neuen Job. Für Spanien sei sie zu alt, wie sie meinte, und diesem Zigeunerleben fühle sie sich nicht mehr gewachsen. Als sie versucht hatte, näher an ihn heranzurücken, war Kramer aufgestanden und für immer gegangen.
Seit der Zeit hatte er zwar immer wieder Verhältnisse gehabt, sich aber nie mehr verliebt und seine Beziehungen so gleichmütig beendet, wie er sie angefangen hatte. Abgesehen von leisem Mitleid und vager Sympathie wagte er keine größeren Gefühle mehr zu investieren.
Irene räusperte sich und er kehrte aus seinen Erinnerungen in die Gegenwart zurück.
»Warst du denn wenigstens aufgeklärt?«
»Bist du verrückt?! Damit ich mich der schamlosen Wollust hingeben konnte? Nein, ich habe heimlich Bravo gelesen und geglaubt, ich wüsste danach alles.«
»Und dann kam einer, der dir über die Haare strich und flüsterte: Du bist ein schönes Mädchen, ich mag dich?«
»Ja. Nicht nur über die Haare ... Er hat mir sogar Blumen geschenkt, er konnte ja nicht wissen, dass ich sie wegwerfen musste, damit Huhu sie nicht sahen.«
»Und wer war dieser edle Ritter?«
»Er hieß Eberhard Nachtwächter, Zwei Jahre älter als ich.
Seine Eltern wohnten hier in Werlebach und Eberhard half meinem Adoptivvater manchmal bei der Entrümpelung oder bei Umzügen. Eberhard lernte Automechaniker, sein Vater hatte eine kleine Schlosserei unten am Fluss. Ich war nicht Eberhards erste Freundin, da hat er gar kein Geheimnis drum gemacht, die Mädchen liefen ihm nach. Und er war erfahren genug, Kondome zu kaufen und mir zu zeigen, wie man die benutzt. Ich habe alles für ihn getan. Das erste Mal war nicht besonders schön, aber die nächsten Male habe ich bis heute nicht vergessen. Wenn er mich geküsst und angefasst und gestreichelt und langsam ausgezogen hat, bin ich fast verrückt geworden. Und einmal habe ich es nicht erwarten können, wir haben ohne Schutz miteinander geschlafen und natürlich bin ich prompt schwanger geworden. Ich war mir noch gar nicht sicher, als er mit seinem Motorrad tödlich verunglückte. Tja, und dann musste ich Huhu beichten. Dass sie mich nicht auf der Stelle erschlagen haben, war das reinste Wunder. Natürlich sollte ich abtreiben, aber ich wollte nicht. Das Kind war das Einzige, was mir von Eberhard geblieben war. Und mein Kind sollte es besser haben als ich. Es wurde ein schrecklicher Kampf mit den beiden herzlosen Selbstgerechten und zunächst stand ich ganz alleine da. Dann, als sie meine Nachbarn wurden, haben mir Bernd und Christine Lankenow beigestanden. Und später, als er aus dem Gefängnis gekommen war, auch der Peter Dircks, der war ein guter Freund von Eberhard und hatte auch schon bei den Umzügen und Entrümpelungen geholfen.« Irene Laysen kicherte in der Erinnerung. »Peter war ebenfalls etwas verschossen in mich und eifersüchtig auf Eberhard. Na ja. Bernd Lankenow war, wenn du so willst, schon lange vor der Taufe Annas Pate. Und der zweite wurde Peter Dircks. Doch dieser blöde Hauptkommissar, dieser Grem, wollte mir einfach nicht glauben oder verstehen, dass die beiden mit Annas Verschwinden nichts zu tun haben können. Ich war gerade neunzehn geworden, als die Huhu verunglückten; die Lebensversicherung zahlte und Dircks
und die Lankenows haben mir geholfen, aus dem muffigen Trödelladen die Boutique zu machen. Ich hab Anna immer gesagt, Kind, du hast zwei Väter, die sich um dich kümmern, den Peter und Onkel Bernd, aber sie wollte unbedingt ihren richtigen Vater finden. Eines Tages habe ich sie deshalb auf den Westfriedhof mitgenommen und ihr Eberhards Grab gezeigt. Und weißt du, was da passiert ist?«
»Nein, ich habe keine Ahnung. Sie war wohl schwer erschüttert?«
»Nicht die Spur. Ob das alles sei, so ein mickriges Grab für ihren Vater?«
»Das ist hart!«
Irene seufzte: »Klar. Ein Prinz hätte ein anderes Grab.«
»Was für eine Rolle spielt es, ob er ein Prinz war oder nicht? Er war tot.«
»Du darfst nicht glauben, dass ich Anna immer verstanden habe. Manches wollte, manches konnte sie mir wohl nicht erklären.«
Ihre Hände berührten sich, weil beide zur selben Zeit nach dem letzten Zwieback in der Schale griffen.
»Bitte, der gehört dir«, verzichtete Kramer großmütig, obwohl sein Magen unanständig laut knurrte.
Irene Laysen rückte noch näher und lehnte sich fest an ihn, drehte den Kopf und bot ihren Mund zum Kuss an. Kramer küsste sie heftig und spürte ihre Einsamkeit und Lust. »Danke! Magst du noch einen? Es gibt noch eine halbe Tüte voll, alle alt und staubig.«
»Gerne.«
Sie sprang auf und lief in die Küche. Als sie sich wieder setzte, legte sie wieder ihren Kopf auf seine Schulter und presste seine Hand auf ihren festen Busen.
»Hast du damals Kontakt zu den Nachtwächters auf genommen?«
»Ja, so ungefähr ein halbes Jahr nach Annas Geburt. Ich wollte den Großeltern die Enkelin zeigen.«
»Und? Wie ist die Begegnung abgelaufen?«
»Nicht sehr glücklich. Die Nachtwächters befürchteten, ich sei gekommen, um finanzielle Forderungen zu stellen, also Unterhalt für Anna.«
»Oje.«
»Daran hatte ich in meiner Naivität gar nicht gedacht. Deshalb wurde es ein sehr frostiges Treffen. Wenig später musste Herr Nachtwächter wohl Konkurs anmelden. Nachbarn haben mir später erzählt, dass Vater Lorenz alles verkaufen musste, den Kleingarten, die Werkstatt, die Grundstücke, eben alles. Die Schande haben sie nicht ertragen, deswegen sind sie quasi über Nacht fortgezogen.«
»Als du mit Anna bei ihnen warst, lebte da Christine noch bei ihren Eltern?«
»Nein, sie hatte im Studentenheim ein Zimmer.«
»Weiß Anna denn, dass Christine ihre Tante ist?«
»Nein. Christine hatte mich gebeten, den Mund zu halten.«
»Warum eigentlich?«
»Das weiß ich nicht, das wollte sie nie erklären.«
»Und die Schwester Franziska?«
»Die auch nicht. Franzi ist überhaupt ein merkwürdiges Wesen. Ich habe dir doch erzählt, dass Peter Dircks mal in mich verschossen war?«
»Ja, aber daraus ist ja nichts geworden?«
»Nein. Er war nett und freundlich, aber kein Vergleich mit Eberhard. Und nachdem er bei mir abgeblitzt war, hat er sich an Franziska herangemacht. Das endete dann ziemlich dramatisch, als Peter in den Knast musste.«
»Weißt du denn, wo Franziska Nachtwächter jetzt steckt?«
»Nein, keine Ahnung.«
»Was ist mit der Schwester Christine, weiß die es?«, erkundigte Kramer sich nach einer kurzen Pause.
»Nein, Christine schwört, sie habe keinen Kontakt zu Franziska und sie wolle auch keinen. Solange sie zur Schule ging, hat sie alles organisiert, auf die Finanzen geachtet und die schlimmsten Katastrophen von der Familie immer wie
der abgewendet. Dann traf sie während ihres Studiums Bernhard Lankenow und die Eltern Nachtwächter haben ihr wohl sehr verübelt, dass sie daraufhin nicht mehr so viel Zeit hatte. Christine hat diese Undankbarkeit nie vergessen und nie vergeben, vor allem nicht den Vorwurf, sie hätte verhindern können, dass der Vater seine Werkstatt verkaufen musste. Aus, Ende der Beziehung. Bis heute legt Christine wenig Wert darauf, an ihre Familie erinnert zu werden. Und bei den klatschsüchtigen Werlebachern hat der Name Nachtwächter keinen guten Klang.«
»Anna soll nach der Schule eine Lehre machen?«
»Ja, bei Textil-Hektor in Rollesheim. Ich kenne die Eigentümerin recht gut und sie war sofort bereit, mir zu helfen, trotz Annas ...« Irene brach ab und Kramer ergänzte leise: »Trotz Annas Eigenarten.«
»Du hast schon so viel erzählt, hilf mir bitte noch in einem Punkt: Warum hast du Anna nie zu einem Psychologen oder Psychiater geschickt?«
»Sie ist nicht verrückt!«
»Nein, das behauptet auch keiner. Aber sie hat psychische Probleme, das weißt auch du. Und ein Fachmann oder eine Fachfrau könnte ihr vielleicht helfen.«
Irene Laysen schüttelte energisch den Kopf und presste die Lippen zusammen, darauf würde sie nicht antworten.
Kramer schob sie sacht zur Seite. »Dann bedanke ich mich sehr herzlich für deine Hilfe und deine Auskünfte ... Nein, Irene, noch habe ich keinen Hinweis darauf, was mit Anna an dem 29. Mai geschehen ist. Aber ich suche weiter. Das verspreche ich dir.«
Irene Laysen kuschelte sich wieder fest an ihn und Kramer wusste genau, was sie von ihm wollte und warum sie sich anbot.
»Schade, dass du schon gehen willst, ich möchte jetzt eigentlich nicht allein bleiben.« Sie drehte den Kopf und bot ihm den Mund an. Kramer zögerte einen Moment, dann küsste er sie fest und hungrig. Es ging ihm zu schnell.
»Tut mir leid, Irene. Heute nicht.«
Als ob sie seine Gedanken erriet, murmelte sie: »Du bist der Erste und der Einzige, der sich um Anna kümmert und mir keine Vorwürfe macht.«
»Ich komme wieder!«, versprach er leise.
Auf der Straße blieb Kramer stehen und schaute zum Dircks’schen Laden hinüber, wobei er überlegte, welche Frage Irene wohl hatte vermeiden wollen. In der Wohnung von Peter Dircks erlosch das Licht. Minuten später erschien Corinna auf dem Weg und ging über die Straße auf die Boutique zu, klingelte an der Haustür im Durchgang zu Hof. Unter einem Arm trug sie ein größeres Paket. Kramer stand fast auf dem Hof, im Schatten der Einfahrt. Corinna bemerkte ihn nicht, und als der Türöffner schnarrte und sie die Haustür einen Spalt aufschob, konnte er mühelos den Dialog der beiden Frauen verstehen.
»Hallo, Irene, ich bin’s, Corinna. Ich habe die Hose für Katrin Beelitz fertig. Wenn du mir die Weste gibst, bringe ich die Sachen noch rüber.«
»Das hätte eigentlich Zeit bis morgen.«
»Ach, du weißt doch, wie sie ist. Natürlich sagt sie immer, es eilt gar nicht, aber in Wirklichkeit kann es ihr nicht schnell genug gehen.«
»Willst du jetzt noch hinlaufen?«
»Ja, Peter hat mich nach dem Bad und dem Abendessen vor die Tür gesetzt und nach Hause will ich noch nicht. Der Alte ist wieder mal schrecklich gelaunt.«
»Danke, Corinna, ich komme ins Geschäft runter.«
Die Haustür fiel ins Schloss und wenig später leuchteten zwei Lampen hinter den Schaufenstern auf. Die Eingangstür zur Boutique wurde innen aufgeschlossen und Corinna schlüpfte in den Laden, kam wenig später wieder heraus und trug eine große Plastiktüte mit dem Aufdruck Irenes Boutique in der Hand.
Mehr aus Langeweile denn großer Neugier folgte Kramer
ihr. Wo mochte sie sich herumtreiben, wenn sie nicht nach Hause wollte? Vielleicht konnte er noch einmal mit ihr reden. Zum Beispiel über Achim Warstedt und Manya Bercelius. Corinna lief zügig die Hauptstraße hinauf und bog nach rechts in den Rotbuchenweg ein.
Die Gemeinde Werlebach hatte an der Straßenbeleuchtung gespart, sodass Kramer Corinna ohne Probleme im Halbdunkel verfolgen konnte, zumal sie ein helle Hose und ein helles Oberteil trug, er aber nicht fürchten musste, dass sie ihn sofort erkannte, wenn sie sich zufällig einmal umdrehen sollte. Dann fiel ihm plötzlich ein, welche Frage Irene wahrscheinlich hatte vermeiden wollen. Das Stinktier von Vetter in Neustadt an der Eltz hatte behauptet, von einer möglichen Vormundschaft für Anna könne keine Rede sein, aber eben das hatte sie Achim Warstedt erzählt.
Vor dem Haus Nummer 28 ging Corinna ein paar Stufen zur Tür hinunter und klingelte.
Ein Mann öffnete, den Kramer nicht kannte. Deshalb beeilte er sich, näher heranzukommen, und verbarg sich rechtzeitig hinter einer dichten Hecke.
Der Mann war hörbar erstaunt. »Hallo, Corinna.«
»Guten Abend, Herr Beelitz.«
»Willst du zu mir?«
»Nein, eigentlich wollte ich nur etwas für Ihre Frau abgeben, was sie in der Boutique gekauft hat. Ein paar Kleinigkeiten mussten noch geändert werden.«
»Meine Frau ist nicht da. Willst du nicht hereinkommen?«
»Ich weiß nicht recht. Wahrscheinlich störe ich Sie.«
»Nein, ich bin heute Abend allein. Du störst mich nie, das weißt du doch.«
Kramer verzog den Mund zu einer Grimasse. Dieser Beelitz schien zu wissen, womit Corinna unter anderem Geld verdiente. Ob er zu den Stammkunden zählte?
»Na schön«, gab sie nach. »Aber nur für ein Stündchen.«
»Okay. Geh schon mal ins Atelier, ich hole nur noch was zu trinken.«
Sieh mal an, Corinna war also nicht das erste Mal in diesem Haus, sie kannte sich aus. Sie ging hinein, die Tür fiel hinter ihr zu und Kramer war neugierig geworden. Doch als Voyeur konnte er sich nicht betätigen. Kaum war er hinter seiner Hecke hervorgekrochen und über den Rasen auf das Haus zugeschlichen, schaltete ein Bewegungsmelder einen starken Scheinwerfer ein.
Enttäuscht machte Kramer sich auf den Rückweg. Es war immer noch angenehm warm, am Himmel trieben nur vereinzelte Wölkchen, die Sterne funkelten, Romantik pur, wenn nur sein Magen nicht so geknurrt hätte. Doch der Tag bot noch eine weitere, unverhoffte Erkenntnis.
Nicht weit von dem Doppelhaus mit Boutique und Apotheke huschte eine Frauengestalt über die Straße: Irene Laysen. Kein Zweifel. Und sie verschwand im Hauseingang Dircks. Wie war das noch gewesen? In der Nacht von Freitag auf Samstag, den 29. Mai, hatte Corinna versucht, eine Unterkunft bei Peter Dircks zu ergattern, und der hatte sie mit der Begründung abgewimmelt, er habe schon eine Frau in der Wohnung. Irene Laysen? Sie kannten sich lange und gut, das hatte sie selbst zugegeben.
Jetzt fehlte nur noch eine Begegnung mit dem allwissenden Dorfpolizisten Konrad Engel. Doch der Engel flog andere Bahnen.
Also fuhr Kramer gemütlich nach Hause, stellte das Auto in seiner Garage ab und bummelte die paar Schritte zu seinem Haus.
Babsie hockte nicht auf dem alten Meilenstein, war also wohl mit einem Kunden auf ein Zimmer gegangen.
Kramer durchstöberte seinen Kühlschrank, fand tatsächlich noch drei bereits angetrocknete Scheiben Dauerwurst und zwei Eier, die sich zu Spiegeleiern auf Salami verarbeiten ließen. In einem Glas schrumpelten drei Spreewälder Gurken traurig vor sich hin. Das Knäckebrot war latschig. Bei seinem tollen Abendessen fragte er sich wieder einmal, wozu er eigentlich arbeitete.
Auf dem Anrufbeantworter in seinem Büro hatte sich die Hauptkommissarin Caro Heynen verewigt, die ihn lobte. »Wenn du noch weitere Protokolle und Berichte hast, wäre ich für eine Übermittlung äußerst dankbar.«