Читать книгу Krimi Paket Mörderisches Lesefutter im August 2021: 16 Romane - A. F. Morland - Страница 8

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Rolf Kramer verabscheute alle Versicherungspaläste. Ihm wäre es lieber gewesen, wenn die Versicherungen das Geld.in Prämiensenkungen stecken würden, statt sich solche Denkmäler und Schlösser zu bauen und ihre Vorstände zu großzügig zu besolden. Die Direktion des Allgemeinen Versicherungsvereins (A VV) nahm er von dieser Kritik allerdings in zwei Punkten aus. Der A W Palast mit seinen geschwungenen Seitenflügeln lag für ihn recht günstig, an der lauten sechsspurigen Kronenburger Allee, und hielt den Verkehrslärm von der Rückseite des Hauses in der Haffstraße fern, in dem Kramer eine Dreieinhalb-Zimmer-Wohnung im ersten Stock gemietet hatte. Das Fenster seines Schlafzimmers ging auf den kleinen rückwärtigen Parkplatz des A WBaus, der den höheren Tieren Vorbehalten war. Die kamen spät und gingen früh, sodass Kramer, seit Schülerzeiten ein Frischluftfanatiker, mitten in der Stadt bei offenem Fenster schlafen konnte. Rund um den Parkplatz hatte ein schönheitsdurstiger Gärtner sogar reichlich Kirschlorbeer angepflanzt und Kramer konnte sich so bei einem Blick aus dem Fenster der Illusion einer kleinen grünen Insel im innerstädtischen Häusermeer hingeben. Was freilich, wie er fand, teuer bezahlt war. Dieser Gedanke bedrückte und erregte ihn an jedem Zehnten des Monats, wenn die Kontoauszüge mit den Überweisungen für seine diversen Versicherungen eintrafen. Es gab nur eine Tatsache, die Kramer beim Gedanken an die Prämien friedlicher stimmte, und die hieß Victor Seyboldt, Leiter der Abteilung „Ungeklärte Schadensfälle“, was sich auf den Köpfen der Briefbögen besser ausnahm als die ehrliche Bezeichnung Versicherungsbetrug«. Mit Seyboldt verstand sich Kramer recht gut. Beide waren sie Profis und sahen nicht ein, warum jemand ohne Berechtigung und vorausgegangene Leistung kassieren sollte. Seyboldt verbreitete stets den Eindruck, als müsse er solche Summen von seinem privaten Girokonto bezahlen, und Kramer erinnerte sich in solchen Momenten an die Bankabrechnungen vom Zehnten eines jeden Monats.

Seyboldt hatte am gestrigen Montag angerufen, Minuten bevor Kramer nach einem ereignislosen Tag sein Büro verlassen wollte.

»Hallo, Rolf, Victor hier. Ich würde mich freuen, wenn Sie morgen Vormittag einmal bei mir hereinschauen könnten. Aber bitte lesen Sie vorher im Tageblatt über die neueste Entwicklung im Fall Anna Laysen.«

Das hatte Kramer heute beim Frühstück getan. Anna Laysen, sechzehn Jahre jung, war am Samstag, dem 29. Mai, spurlos verschwunden. Die letzten Zeugen hatten sie um 12.30 Uhr herum gesehen, als sie mit ihrem Fahrrad von der Lantener Drahtseilfähre herunterfuhr und in den Krimser Forst einbog, um nach Fleissheim zu radeln. Dort sollte sie eine Schulfreundin abholen; die beiden Mädchen wollten zu einem Thermalbad fahren. Doch bei der Freundin war sie nie eingetroffen. Der Fährmann der Lantener Fähre, der Anna seit Jahren kannte, und zwei über jeden Verdacht erhabene Zeugen zwei Geistliche, mit denen sich Anna während des Übersetzens unterhalten hatte waren die letzten Menschen, die Anna lebend gesehen hatten. Am Mittag des 29. Mai. Und nun hatte am vergangenen Freitag ein Nassbagger aus einem Badeteich bei Schalkenberg, rund achtzig Kilometer Luftlinie entfernt, ein durch den Baggergreifer schwer deformiertes Fahrrad herausgefischt, das die Kriminaltechnik in einer Sonderschicht am Samstag zweifelsfrei als Anna Laysens Rad identifiziert hatte. Von Freitagmittag bis Sonntagabend hatten Taucher den Teich abgesucht, aber keine Leiche gefunden. Am gestrigen Montag hatte die Terborner Kripo auf einer Pressekonferenz bekannt gegeben, dass die >Sonderkommission Anna< aufgelöst und der Fall dem Dezernat 111 übertragen worden sei. Was wohl im Klartext hieß, dass Kripo und Staatsanwaltschaft jetzt von einem gezielten Tötungsdelikt ausgingen. Nicht von einem Unfall, auch nicht von einem „spontanen“ Sexualverbrechen mit anschließender „Kurzschlusshandlung“ des Täters, weder von einer Entführung noch von einem Verkehrsunfall.

Wie fast alle Terborner hatte Kramer die Geschehnisse in den Zeitungen aufmerksam verfolgt. Manchmal passierte es, dass die Zeitungen, der Rundfunk und das Fernsehen sich an einem Fall geradezu festbissen, sei es, weil er spektakulär war, sei es, weil das Opfer besonders prominent war, sei es, weil es wie im Falle Anna Laysens um ein ungewöhnlich attraktives, harmloses und unschuldiges Mädchen ging. Noch jetzt, Anfang September, war fast jede Woche in einer der drei Terborner Zeitungen eine Meldung oder ein kleiner Artikel erschienen, und das Morgenecho, das sich durch knallige Bilder und riesengroße Überschriften auszeichnete, hatte die Geduld seiner Leser und die Fantasie seiner Redakteure besonders strapaziert.

Victor Seyboldt erwartete Kramer schon. Im“W“ hieß Seyboldt allgemein nur „der Graue“, weil Grau seine Lieblingsfarbe war: stets trug er graue Anzüge, graue Hemden, graue Krawatten die schwarzen Schuhe nahmen sich an ihm richtig farbig aus. Der Teppichboden in Seyboldts Zimmer war so grau wie seine Stahlrohrmöbel, die Sesselbezüge und die Aktendeckel, seine Gesichtsfarbe ähnelte gefährlich dem Grau seiner Anzüge, nebenbei auch dem seiner Augen und Haare. Frisch und gesund sah er nie aus, weil er zu wenig an die Sonne kam. Kramer kannte keinen anderen vergleichbar intelligenten Menschen, der so dumm, so geistig unterbelichtet und so schwachsinnig-blöd in die Gegend schauen konnte wie Victor Seyboldt, und es gab immer wieder Dumme, die sich zu ihrem Nachteil davon täuschen ließen und sich hinterher ob ihres Leichtsinns die Haare rauften. Aber wenn Seyboldt seine Lippen vorstülpte und jeden Moment wegen intellektueller Überforderung zu sabbern drohte, musste man sich schon gewaltig zusammenreißen.

Zum Glück gab es neben den Schuhen noch zwei Farbkleckse in Seyboldts Umgebung. Der eine war der Kaffee, den er anbot, schwarz wie die Nacht, heiß wie die Hölle und stark wie die Erbsünde. Der andere atemberaubende und ebenfalls pulsbeschleunigende Klecks hieß Sabrina und belegte Seybolds Vorzimmer. Sabrina liebte enge und schreiend bunte Kleider, die sie sich figürlich leisten konnte, und hatte Kramer einmal verraten, wie sie an die ungewöhnlichen Stoffe kam. Sie nähte gut und gern, in erster Linie weiße Sachen. Außerdem kaufte sie in der Künstlerkolonie Schwarzer Berg die alten Farbpaletten der Maler auf, legte sie auf dem Fußboden nebeneinander und wälzte sich in dem neu gefertigten engen weißen Kleid über die Ölfarbenreste. Sabrina hatte das so ernsthaft vorgetragen, dass Kramer sie lange unschlüssig musterte. Erstens war es ihr zuzutrauen Sabrina war engagiert, zuverlässig und immer gut gelaunt, aber auch eine Spur verrückt, sonst hätte sie es mit Seyboldt nicht aus gehalten und zweitens sahen ihre Kleider auch ganz so aus. Sabrina bot ihm an: Wenn er sie zu einem guten Essen einlud, würde sie ihm die Entstehung eines solchen Kleides in praxi vorführen. Sie müssten hinterher nur etwas warten, damit Farbe und Stoff trocknen könnten. Damit hatte sie überzogen, Kramer nahm das Angebot an, aber jetzt hatte Sabrina nie Zeit oder Schnupfen oder schon eine andere Einladung. Seyboldt hörte bei offener Tür zu und amüsierte sich. Inzwischen wusste Kramer, dass Sabrina glücklich verheiratet war. Seyboldt war Trauzeuge gewesen. Er und der Ehemann gingen gelegentlich gemeinsam auf die Jagd.

Heute dominierten Gelb und Schwarz und Kramer hielt Sabrina einen kleinen Vortrag über Mimikry im Tierreich. Es gebe harmlose Fliegen und Käfer, die sich gegen ihre Feinde als Wespen tarnten.

Sabrina lächelte melancholisch: »Ich habe keine Fressfeinde, Rolf. Und die Formel „Ich hab dich zum Fressen gern“ zielt ja meistens auf das Gegenteil.« Sie schaute an sich herunter. Dass sie ein Kind erwartete, hatte sie Kramer schon vorWochen erzählt. Nun rundete sich ein zartes Bäuchlein.

Der graue Victor sah eine düstere Zukunft vor sich. »Mutterschaftsurlaub, Rolf. Und vorher will sie ihren gesamten Resturlaub nehmen. Was wird nur aus mir? Kaffee?«

»Gerne. Wie auch immer es steht Ihnen gut, Sabrina. Auch der leichte grüne Ton auf Ihren wundervollen kastanienbraunen Haaren.«

»Danke für das Kompliment.«

Seyboldt grinste. »Sie ist heute besonders gut gelaunt keine Chance, Rolf.«

»Guten Tag, lieber Victor. So viel Zeit sollte sein.«

»Herzlich willkommen. Wie sieht es mit Ihren Aufträgen aus?«

»Wenn Sie wissen wollen, ob ich einen annehmen kann respektive möchte, lautet die Antwort: Jederzeit und freudigen Herzens.«

»Sie haben das Neueste über Anna Laysen gelesen?«

»Habe ich.«

»Das heißt ja wohl, sie lebt nicht mehr.«

»Anzunehmen.«

»Damit kommt der AV-Vins ins Spiel.«

»Ach nee.«

»Eine Lebensversicherung von Mutter Irene über zweihunderttausend Euro. Begünstigte: Tochter Anna. Und eine Lebensversicherung von Tochter Anna über fünfzigtausend Euro. Begünstigte: Mutter Irene.«

»Donnerwetter.«

»Stimmt. Und in meinem Hinterkopf schrillen alle Alarmsirenen. Was zum Teufel ist mit Anna Laysen passiert?«

»Das herauszufinden ist jetzt Aufgabe der Hauptkommissarin Caroline Heynen.«

»Na klar. Aber wir beide sind doch keine grünen Anfänger mehr. Das Mädchen ist am 29. Mai verschwunden und jetzt haben wir die zweite Septemberwoche. Da sind doch alle Spuren längst erkaltet, vom Winde verweht und aus dem Gedächtnis getilgt. Und: Caro kann ihren Kollegen Grembowski nicht in die Pfanne hauen.«

Hauptkommissar Kurt Grembowski hatte die anfangs dreißigköpfige Sonderkommission geleitet, die schon am 30. Mai eingerichtet worden war und wochenlang vergeblich nach einer Spur oder einem Hinweis auf Annas Verbleib gesucht hatte. Grembowski, im Präsidium Grem oder auch Grem der Grobe genannt, hatte den Misserfolg nur schwer verkraftet.

Obwohl Kramer den Fall bisher nur in den Zeitungen verfolgt hatte, war er auch über Grems Einseitigkeit gestolpert: Taucher hatten den Fluss abgesucht, Hunde hatten auf allen Parkplätzen in der Nähe des Flusses und im Krimser Forst, an den Wirtschaftswegen von Rollesheim bis Fleissheim nach Spuren geschnüffelt. Sie hatten hunderte von Werkstätten kontrolliert oder sogar überwacht, ob ein Auto nach einem Zusammenstoß mit einem gelben Fahrrad neu lackiert und aus gebessert worden war. Grems Mannschaft hatte alle Männer, die wegen sexueller Straftaten aufgefallen waren, durch die Mangel gedreht. Sie hatten die Bundeswehr um Hilfe gebeten und von Flugzeugen mit Wärmebildkameras die Wiesen und Felder nach einem frischen Grab absuchen lassen. Aber offenbar war nie gründlich recherchiert worden, ob ein Bekannter oder Nachbar ein Motiv hatte, Anna zu töten.

»Sehen Sie!«, grollte Seybold. »Und dann noch dieser schnöselige Georg. Kennen Sie ihn näher?«

Hauptkommissar Georg Zachmann leitete seit einigen Monaten die Pressestelle des Terborner Polizeipräsidiums. Kramer kannte ihn nur flüchtig, aber sein Freund Holger Weissbart, Gerichtsreporter des Tageblatts, bezeichnete Zachmann immer nur als den »Mann mit dem Weichspüler«. Zachmann hatte, wie Seyboldt jetzt wütete, die verschwundene Anna immer nur als Opfer dargestellt, süß, jung, unschuldig, schön, brav, eben engelsgleich. Die Idee, Anna könne auf die eine oder andere Art an ihrem Verschwinden beteiligt oder mitschuldig sein, ob absichtlich oder fahrlässig durch Leichtsinn, lag für Zachmann Lichtjahre entfernt. Und deswegen waren wohl nie entsprechende Hinweise aus der Bevölkerung oder Annas direkter Umgebung eingegangen und würden auch jetzt nicht mehr eingehen. Wer wollte schon gerne am Bild einer populären Ikone kratzen?!

»Ich will wissen, was passiert ist, bevor wir auch nur zehn Euro aus zahlen.«

»Verehrter Victor, erlauben Sie mir eine letzte Frage: Sie beschäftigen eine ganze Abteilung erfahrener Rechercheure, einige sind ausgesprochen clever und entsprechend teuer. Deren Gehalt läuft weiter, während der A VV mir ein Honorar plus Spesen zahlen muss. Wie passt das mit Ihrer sprichwörtlichen Sparsamkeit zusammen? Haben Sie wieder einmal Angst um den guten Ruf des A W?«

Seyboldt biss die Zähne zusammen. Er gab ungern zu, dass man ihn durchschaut hatte.

»Oder haben Sie diesmal nicht nur einen, sondern gleich mehrere Hintergedanken? In Fällen, bei denen sich herausstellt, dass hinter einer vermissten Person ein geplantes Verbrechen steckt, finden sich die Täter meistens in der unmittelbaren Nachbarschaft. Soll ich durch meine Recherchen ein paar Leute beunruhigen, aufscheuchen, zu einer Dummheit veranlassen?«

»Warum fragen Sie noch, wenn Sie die Antwort schon kennen?«

Kramer wollte etwas Bissiges erwidern, aber eine gewaltige Duftwolke kündigte Sabrinas Erscheinen an. »Ihr Vertrag, Rolf.«

»Sabrina, Sie duften nach allen Blumen des Paradieses. Sagen Sie mir doch bitte, wann ich Ihnen endlich beim Umwälzen auf den Paletten helfen darf.«

»Okay, ich erkundige mich noch heute Abend bei meinem Mann.«

Seyboldts Verträge waren ordentlich, und dass der AVV keinen Wert darauf legte, aller Welt mitzuteilen, dass er in einem Versicherungsfall einen fremden Privatdetektiv beschäftigte, lag auf der Hand.

»Mit wem würden Sie anfangen?«

»Am besten weiß dieser Freund der Mutter Bescheid. Sabrina gibt Ihnen eine Liste mit allen Namen, Anschriften und Telefonnummern. Viel Erfolg, Rolf.«

Kramer lud die Kriminalhauptkommissarin Caroline Heynen zum Mittagessen ein. Erstens waren sie befreundet und zweitens wollte Kramer sich auch in Zukunft auf ihr Wohlwollen verlassen dürfen. Es war noch warm genug, im Freien zu sitzen, und das Restaurant Pagode im Herzogenpark war gut besetzt.

Caro schnaufte vergnügt, als sie ihn begrüßte. »Wir haben uns lange nicht mehr gesehen.«

»Das kann sich ändern, Caro. Ich fürchte, ich werde dir und deinen Leuten in der nächsten Zeit häufiger über den Weg laufen.«

»Du hast einen Auftrag?«

»Ja.«

»Anna Laysen?«

»Richtig.«

»Von Victor Seyboldt?«

»Stimmt.«

»Das war zu erwarten. Victor hat sich bei mir beschwert.«

»Über Grem?«

»Natürlich.«

»Da laufen zwei beachtliche Lebensversicherungen und Victor will wissen, was passiert ist, bevor er die Zahlungen freigibt.«

»Noch haben wir Annas Leiche nicht.«

»Aber du denkst doch auch, dass sie tot ist?«

»Ja. Grem ist fantasielos, aber gründlich. Eine lebende Anna hätte er gefunden.«

»Ganz meine Meinung. Ich fange heute Nachmittag mit Waldemar Denzel in Rollesheim an.«

»Tu das. Grem hat ihn beim ersten Verhör so eingeschüchtert, dass Denzel nicht mehr mit uns kooperieren will.«

»Wenn ich was erfahre, hörst du es als Erste.«

»Alles klar, Rolf. Was bestellen wir?«

»Die Bratpilze sollen vorzüglich sein.«

Rollesheim lag im Osten, etwa dreißig Kilometer flussauf, am Eingang des Tales, das sich ab hier nach Westen verbreiterte. In den vergangenen Jahren hatte Rollesheim sich zu einem großen und gesichtslosen Ort entwickelt, der von der Nachbarschaft zur Landeshauptstadt Terborn lebte. Dabei kannten viele Terborner von Rollesheim nur die Brücke, die über das Stauwehr mit der Schleuse und dem Laufwasserkraftwerk führte. An beiden Ufern hatten sich kleine Unternehmen und Werkstätten angesiedelt, graue und staubbraune Farben dominierten, erträglich nur durch das Grün der verwilderten Böschungen und dank der Sonne, die aus einem seidig blauen Himmel schien.

Auch die Gebäude der Möbelschreinerei Waldemar Denzel schienen eine Renovierung dringend nötig zu haben und Kramer ärgerte sich über den Berg von Holzresten und Sägemehl, der in einer Hofecke aufgetürmt war. Nicht verwahrlost, aber lieblos, Kramer mochte diese Art von Unordnung nicht, wusste aber genau, dass viele Menschen seine Kritik nicht verstehen würden. Das Werkstatttor stand weit offen, es roch nach frischem Holz, und als Kramer ausstieg, kam ein Mann eilig zu ihm auf den Hof.

»Herr Kramer? Guten Tag, mein Name ist Denzel. Die Hauptkommissarin Heynen hat mich schon angerufen und Ihren Besuch angekündigt. Sie meinte, für einen Privatdetektiv seien Sie recht zuverlässig und vertrauenswürdig.«

»Der Frau drehe ich eines Tages noch den Hals um. Guten Tag, Herr Denzel.«

»Sie hat mir auch von dem Fahrrad ... «

»Ja. Können wir uns irgendwo ungestört unterhalten?«

»Sicher, wir gehen am besten in meine Wohnung.« Denzel war ein mittelgroßer, etwas schlaksiger Mann, der sich gern zu bewegen schien. Ängstlich wirkte er nicht, eher besorgt.

Die Wohnung lag direkt über der Werkstatt, zwei mäßig große und billig eingerichtete Räume mit Blick auf den aufgestauten Fluss. Offenbar hatte Kramers erstaunter Blick etwas verraten, denn Denzel erklärte bitter: »Teil eins meines Problems.«

»Ich verstehe nicht, was ... «

»Der Betrieb gehört zur Hälfte meiner Frau. Sie will sich nur unter der Bedingung scheiden lassen, dass ich sie auszahle. Aber das wirft der Laden nicht ab und verkaufen könnte ich im Moment nur mit großem Verlust.«

»Deshalb wohnen Sie über der Werkstatt?«

»Ja, klar. Marlene und die Kinder haben das Haus, eine andere Wohnung kann ich mir nicht leisten.« Dann grinste Denzel kurz: »Aber einen Kaffee kann ich Ihnen noch anbieten.«

»Den würde ich gerne annehmen, danke.«

Während Denzel in der Küche herumfuhrwerkte, wartete Kramer geduldig. Er konnte sich gut vorstellen, wie Grem aufgetreten war, und wenn er etwas erreichen wollte, musste er zunächst die Trümmer beiseite räumen, die Grem mit seiner groben Direktheit hinterlassen hatte.

»Nehmen Sie Zucker? Milch?«

»Nein, danke, schwarz.«

»Das ist gut.« Denzel seufzte und ließ sich auf einen Stuhl fallen. »Die Sahne ist nämlich sauer geworden, ich komm noch nicht mal mehr zum Einkäufen.«

»So viel zu tun?«

»Nee, so wenig Personal. Aber was ist nun mit dem Fahrrad?«

»Ich weiß auch nicht viel mehr als das, was in den Zeitungen gestanden hat. Am Freitagvormittag hat es ein Nassbagger aus einem Teich geholt, der als Schwimmbad genutzt wird. Bei Schalkenberg.«

»Aber das ist doch ... «

»Ja, etwa achtzig Kilometer Luftlinie entfernt. Dummerweise hat der Greifer das Rad schwer beschädigt, die Kripo kann also wohl nicht mehr feststellen, ob Anna in einen Unfall verwickelt war, alle möglichen Spuren sind zerstört. Das behalten Sie aber bitte vorerst für sich.«

»Und ... Anna?«

»Nein, der Teich ist von Tauchern gründlich abgesucht worden, keine Spuren einer Leiche.«

»Sie sagen das so Sie glauben also, dass Anna nicht mehr lebt?«

»Ich fürchte, sie ist tot.«

»Ja. Tot.« Denzel wiederholte es wie ein Automat, verstellen konnte er sich nicht.

»Die Experten sind sich einig, dass das Rad wenigstens acht Wochen im Wasser gelegen hat. Mindestens.«

»Dann kann der Täter es also schon am 29. Mai in diesen Teich geworfen haben?«

»Oder die Täterin, Herr Denzel. Eine Autofahrerin, die einen Moment nicht aufpasst, eine Radfahrerin überfährt und in Panik Leiche und Rad beseitigt.«

»Glauben Sie das wirklich?«

»Im Moment glaube ich gar nichts.« Dabei lächelte Kramer entschuldigend. »Ich fange bei null an, ganz bewusst, und schließe nichts aus. Weder einen Unfall noch ein Verbrechen.«

»Würden Sie mir verraten, für wen Sie arbeiten?«

Kramer zögerte, aber an einer ehrlichen Antwort führte wohl kein Weg vorbei. »Für eine Versicherung, die bei Annas Tod zahlen müsste.«

Zum Glück kam Denzel nicht auf die Idee, Kramer zu fragen, warum diese Versicherung einen Privatdetektiv beauftragt hatte. Diese Auskunft hätte Kramer Denzel verweigern müssen.

»Es tut mir leid, Herr Denzel, aber wir fangen wirklich noch einmal von vorne an, und ich bitte Sie um Ihre Hilfe.«

»Ja.« Denzel stöhnte und Kramer schwankte, ob das aus Selbstmitleid oder Ungeduld geschah. »Ja. Also von vorn. Mittlerweile kenn ich das ja schon ... Es beginnt mit meiner Ehe.«

Weil Denzel dabei fast herausfordernd das Kinn vorstreckte, lachte Kramer leise. »Ich habe Zeit und Geduld, Herr Denzel.«

»Beides werden Sie auch brauchen. Wir haben zwei Kinder, Martin, der ist jetzt siebzehn, und Heike, die wird fünfzehn. Unsere Ehe funktioniert schon lange nicht mehr und ohne die Kinder und die finanziellen Probleme mit der Werkstatt na, ist ja auch egal. Vor zwei Jahren habe ich eine andere Frau kennen gelernt, Irene Laysen. Sie hat in Werlebach an der Hauptstraße ein Modegeschäft.«

Werlebach lag auf halber Strecke zwischen der Terborner Stadtgrenze und Rollesheim, ein Dorf, in dem viel gebaut worden war, seitdem die Grundstückspreise in der Stadt schwindelerregende Höhen erreicht hatten. Aber auch in Werlebach und in dem Nachbarort Millsen konnten sich jetzt nur noch Millionäre ein Grundstück leisten.

»Wir haben — wir sind wir haben ein Verhältnis. Irene weiß, dass ich verheiratet bin, und sie kennt die Gründe, warum ich mich nicht scheiden lassen kann. Bis zum bis Anna verschwand, schien sie trotzdem ganz zufrieden zu sein.«

»Anna auch?«

»Doch, ja. Ich mag das Kind und Anna mag mich. Sicher, zu Anfang war sie gar nicht begeistert, dass ich auftauchte und immer häufiger in der Wohnung übernachtete, das stimmt, es hat schon einige Monate gedauert, bis sie mich na ja akzeptierte.«

»Diese Wohnung ...«

»Wie bei mir, direkt über Irenes Boutique in Werlebach.« Denzel schnaufte. »Aber doch viel größer und besser eingerichtet als meine Bruchbude hier. Na, das hat ... also, nach drei, vier Monaten war Anna so weit, dass sie mich nicht nur

als Liebhaber und Freund ihrer Mutter leiden mochte. Ihren leiblichen Vater hat sie nie kennen gelernt, der ist wohl noch vor ihrer Geburt gestorben, und ich wurde so etwas wie ein Vaterersatz. Oder Ersatzvater.« Hastig griff Denzel nach der Tasse, starrte auf den Kaffee und setzte sie wieder ab, ohne getrunken zu haben. »Irene war natürlich froh, dass Anna und ich uns so gut verstanden. Eine Sechzehnjährige ist eben schwierig ... Na ja, so hab ich wenigstens gedacht. Oder geglaubt.«

»Das verstehe ich nicht.«

Statt einer Antwort holte Denzel ein kleines Päckchen Fotografien aus einer Schublade und schob es Kramer wortlos hin. Farbbilder von einem jungen Mädchen oder schon einer jungen Frau? Ein wunderschönes, sanftes Gesicht, große Augen, ein weicher, voller Mund, lange dunkelblonde Haare. Ein in seiner absoluten Symmetrie faszinierendes Gesicht und Kramer brauchte eine ganze Weile, den Grund für diese Faszination zu erkennen: Sie war kein Kind mehr, aber noch keine Frau. Wer sie lange kannte, sah in ihr wohl noch oder nur das Mädchen; doch wer ihr zum ersten Mal begegnete, mochte sich leicht täuschen und sie für eine Kindfrau halten, die scheinbar viel versprach, weil sie schon viel zu wissen schien.

»Eine Schönheit«, urteilte Kramer aufrichtig und Denzel nickte: »O ja, eine Schönheit. Und verführerisch, nicht wahr? Eine richtige Lolita.«

Etwas an dem Ton störte ihn, Kramer schaute Denzel scharf an, der dem Blick nicht auswich und bitter lächelte: »Sie haben sich noch nicht alle Bilder angesehen.«

Hinter den Porträtaufnahmen steckten andere Fotos: Anna in Jeans und Sweatshirt. In einem bunten, weiten Sommerkleid. Im Badeanzug, in einem Bikini. Anna lachend und schmollend, auf einem Koppelzaun sitzend. Sie musste sehr groß sein, mit langen Beinen, einer schmalen Taille und einem großen, festen Busen. Mehr als eine Schönheit und die offenkundige Freude, mit der sie ihren Körper zeigte, ließ sie anziehend oder attraktiv oder auch verführerisch erscheinen.

Als Kramer hochschaute, nickte Denzel trübe: »Sie scheinen eine Ahnung von meinem Problem zu bekommen.«

»Vielleicht«, stimmte Kramer gedehnt zu.

»Das würde Sie vorteilhaft von der Kripo unterscheiden! Die war sofort überzeugt, dass ich ... Herr Kramer, ich habe Anna nie angefasst. Ich habe mit ihr geschmust, sie in den Arm genommen, ja, wie meine Tochter Heike, wenn die mich mal besuchte, aber Anna war für mich immer ein Kind, ein Mädchen, das Zuneigung bei einem Ersatzvater suchte. Nicht mehr und nicht weniger.«

»Das werden Ihnen nicht alle Menschen glauben.«

»Nein. Sie sagen es. Nicht alle. Nun wären mir die anderen scheißegal, aber die Person, auf die es mir ankommt, hat auch begonnen zu zweifeln.«

»Ihre Freundin Irene Laysen.«

»Ja, genau.« Denzel sagte das sehr leise. »Es gibt noch einen zweiten Punkt, den Sie mir jetzt einfach glauben müssen. Dass Anna einem Mann den Kopf verdrehen kann, ist richtig, aber nur einem, der völlig blind und taub ist.«

»Was wollen Sie damit sagen?«

»Ganz brutal: Anna hat einen Dachschaden.«

Kramer schwieg unbehaglich. Das klang nicht einfach nur nach Ehrlichkeit, sondern hörte sich fast gehässig an, und ihm war nicht entgangen, dass Denzel in der Gegenwartsform von Anna erzählte.

»Fragen Sie mich nicht nach der genauen medizinischen Definition. Anna ist ein liebenswürdiges Kind, herzlich und hilfsbereit, freundlich und sanftmütig. Aber sie lebt auch in einer Traumwelt, wenigstens zeitweise. Was um sie herum vorgeht, sieht sie zwar, sogar sehr scharf, aber sie nimmt es nur zu Teilen wahr, in Ausschnitten. Tut mir leid, besser kann ich’s nicht aus drücken.«

»Wie äußert sich das?«

»Wer länger als eine Stunde mit ihr zusammen ist, bemerkt,

dass sie häufig Absencen hat. So nennt man das wohl. Vorübergehend ist sie einfach nicht da. Weiß der Kuckuck, wo sie dann gerade mit ihren Gedanken herumgeistert. Zuerst hab ich gedacht, mein Gott, kann sich das Kind nicht mal länger als fünf Minuten auf eine Sache konzentrieren, muss es dann gleich abschalten, aber Anna schaltet nicht ab, sie schaltet um. In eine andere Welt oder wie man das nennen soll.« Denzel schüttete den kalt gewordenen Kaffee hinunter. Im Alltag und als Handwerker stand er wohl seinen Mann, aber bei derartigen Problemen fühlte er sich hilflos, vielleicht auch überfordert, da fehlten ihm die richtigen Worte. Wahrscheinlich auch das Verständnis für solche Eigenarten oder neurologischen Defekte. Das Wort „Dachschaden“ hatte nur seine wütende Rat und Hilflosigkeit zusammengefasst.

»Doch glauben Sie nicht, Anna sei dumm oder beschränkt.

O nein, sie ist intelligent und bemerkt Dinge, von denen Sie keine Ahnung haben. Aber alle anderen Dinge will sie eben nicht bemerken, die existieren dann für sie einfach nicht.«

Kramer nickte stumm.

»So, und zu den Dingen, die für Anna nicht existieren, gehört alles, was mit Sex zu tun hat. Und jeder Mann, der auch nur eine Spur von Gewissen und Anstand besitzt, wird deshalb die Finger von Anna lassen, wenn er länger als zehn oder zwanzig Minuten mit ihr gesprochen hat. Zum Schluss hatte sie so viel Vertrauen zu mir, dass sie seelenruhig ins Bad kam, wenn ich duschte. Oder auch zu mir ins Bett kroch. Sie hat auch Irene und mich mehr als einmal überrascht, aber dann hat sie uns nur freundlich angeschaut, als ob sie gar nicht mitbekam, was wir da trieben. Sie ist nicht prüde, weil sie nicht weiß, was Schamhaftigkeit ist, und wenn man ihr dann ganz ruhig sagt, Anna, lass uns bitte allein, dann geht sie sofort.«

»Warum haben Sie und Ihre Freundin Irene nicht abgeschlossen?«

»Weil Anna bei verschlossenen Türen ausrastet und fürchterlich zu schreien beginnt.«

»Merkwürdig. Und so, wie Sie Anna schildern, kann sie leicht das Opfer eines Sexualtäters werden.«

»Das habe ich auch befürchtet, zu Anfang, meine ich. Aber heute bin ich nicht mehr sicher. Natürlich, wenn der gewaltsam ... Aber ich bin überzeugt, sie lässt sich nicht verführen. Das wäre so, als würden Sie einer Katze befehlen, nun belle mal schön! Die Katze wird Sie groß ansehen und weglaufen. Und Gewalt Anna hat einen eigenen Willen, Herr Kramer, das merkt man nicht sofort, weil sie normalerweise gefügig und gehorsam ist. Aber wenn sie nicht will, dann will sie nicht, da kann man lange rumbrüllen oder mit Schlägen drohen, Anna versteht Sie nicht oder sie will Sie nicht verstehen, das kommt aufs Gleiche raus: Anna tut nicht das, was Sie von ihr wollen.«

»Sie hätte sich also gewehrt, wenn ... «

»Aus Leibeskräften! Und ich sage Ihnen, sie hat Kräfte!«

Ob Denzel nicht registrierte, dass er gerade die Vorbedingungen eines Sexualmordes beschrieb?

»Sie treibt Sport, Geräteturnen, Sie können sich im Verein erkundigen. Anna ist stärker, als es die Fotos vermuten lassen. Und gerade im Verein wird man Ihnen erzählen, was passiert ist, wenn Männer oder gleichaltrige Jungen versucht haben, Anna im Spaß oder im Ernst anzufassen.«

»Jetzt verstehe ich, warum Ihre Freundin misstrauisch geworden ist. Zu Ihnen hatte Anna Vertrauen gefasst.«

»Ja, eben, und von Menschen, denen sie vertraut, lässt Anna sich viel gefallen. Ohne nachzufragen.«

Keine gemütliche Lage. Eine allein stehende Mutter mit einer so schwierigen wie attraktiven Tochter, die dem Liebhaber der Mutter vertraute.

»Gut, Herr Denzel, reden wir mal über den Tag, an dem Anna verschwunden ist.«

Denzel atmete tief durch. »Das war der 29. Mai, ein Samstag. Anna fuhr morgens um zehn vor acht los, mit ihrem Fahrrad, sie hatte sich von mir ein Fahrrad gewünscht, mit dem sie in der Gegend herumgurken konnte.«

Automatisch war Denzel in die Vergangenheitsform gefallen, doch Kramer ließ sich nichts anmerken. »Das war dieser Putzjob, wenn ich ...«

»Ja, in Millsen, Haus Malle, Kanzelstieg 101 oder 103.«

Kramer erinnerte sich, davon gelesen zu haben. In Millsen, auf halbem Weg zwischen Werlebach und Rollesheim, gab es Häuser, die zum Teil schon ab Mai an Feriengäste vermietet wurden, und weil sich manche Gäste die Schlussreinigung der Häuser sparen wollten, setzte die Vermittlungsagentur Hilfskräfte ein. Für Anna war es der fünfte oder sechste Job dieser Art, mit dem sie ihr Taschengeld aufbesserte. Sie sparte, wie die Mutter den Reportern anvertraut hatte, auf ein Handy.

»Von acht bis zwölf Uhr hat sie in Haus Malle gearbeitet. Und anschließend wollte sie nach Fleissheim fahren.«

»Mit dem Fahrrad? Das ist aber ein ganzes Ende.«

»Ja, sicher, etwa zwanzig Kilometer, aber sie fährt fuhr oft so lange Strecken, Herr Kramer.«

»Und in Fleissheim wollte sie eine Freundin besuchen, nicht wahr?« Der Ort lag flussauf noch ein ganzes Stück hinter Rollesheim.

»Eine Schulfreundin abholen, ja. Gunda Simrock. Anna hatte mit Gunda verabredet, zwischen eins und zwei in Fleissheim einzutreffen. Die Mädchen wollten dann schwimmen gehen, in das Thermalbad in Dreschbach.«

Kramer nickte, das Bad kannte er gut; wenn es das Wetter erlaubte, verbrachte er dort viele Sonntage, um nach den Wochentagen mit zu wenig Bewegung mindestens zweimal tausend Meter zu schwimmen.

Grembowskis Sonderkommission hatte später Annas wahrscheinlichen Weg teilweise rekonstruiert. Gegen 12.10 Uhr war sie vom Haus Malle losgefahren, über den Kanzelstieg bis nach Werlebach und dort die Hauptstraße hinunter zum Fluss. Fünf bis zehn Minuten später traf sie bei der Lantener Seilfähre ein und musste auf dem Nordufer warten. Auf der Fähre kam sie mit dem katholischen Geistlichen von Rollesheim und dem evangelischen Pfarrer von Werlebach ins Gespräch. Gegen 12.30 Uhr setzte die Fähre vom Nord auf das Südufer über, Anna hatte zum Schluss noch fröhlich mit dem Fährmann geschwatzt, der sie seit Jahren kannte. Am Anlieger des Südufers verlor sich ihre Spur. Vermutlich war sie nach links in den Krimser Forst abgebogen, durch den Wald bis zum Rolletal gefahren und hatte dort die Talstraße beim Gasthof Drenckmann überquert, danach einen asphaltierten Wirtschaftsweg Richtung Fleissheim benutzt. Doch dafür hatten Grems Leute keine Zeugen auftreiben können; die beiden Geistlichen und der Fährmann waren die letzten gewesen, die sich an Anna erinnern konnten. Die drei Männer hatten übereinstimmend beteuert, dass sich Anna ganz normal benommen habe, ihnen war nichts auf gefallen. Anna hatte ihnen unaufgefordert erzählt, dass sie mit einer Freundin nach Dreschbach zum Schwimmen wollte. Das hatten alle, die Anna kannten, als typisch für sie bezeichnet: Sie setzte bei jedem, der sich auf ein Gespräch mit ihr einließ, ein unbegrenztes Interesse an ihrer Person und ihren Plänen voraus.

»Wenn ich die Karte richtig im Kopf habe, ist das nicht der kürzeste Weg«, wandte Kramer ein.

»Nein, aber Anna hatte gehörigen Respekt vor Autos, sie fuhr nicht gern auf Straßen mit viel Verkehr.«

Lantener Fähre, Krimser Forst, Wirtschaftswege vom Rolletal nach Fleissheim sie hätte tatsächlich gegen 13.30 Uhr bei ihrer Freundin Gunda Simrock eintreffen können. Kramer notierte eifrig.

Denzel nickte. »Gunda hat bis halb drei gewartet und ist dann allein in das Thermalbad geradelt.«

»Hat sie sich nicht gewundert, dass Anna sie versetzt hat?«

»Ja und nein. Wissen Sie, zu Annas Eigenarten zählte auch, dass sie alles vergessen konnte, wenn ihr etwas anderes, vermeintlich Wichtiges durch den Kopf schoss. Die Zuverlässigkeit hatte sie nicht erfunden, die Pünktlichkeit auch nicht, das wussten aber alle, die sie kannten.«

»Dann war die Freundin sozusagen sauer, aber nicht beunruhigt?«

»So ist es.«

»Und wann genau ist entdeckt worden, dass Anna verschwunden war?«

Einen Moment blinzelte Denzel erstaunt, diese Geschichte hatte er wieder und wieder der Sonderkommission erzählt, aber Kramer behauptete: »Davon habe ich nichts in den Zeitungen gelesen, Herr Denzel.«

»Pech für Sie. Denn dann würden Sie verstehen, warum die Kripo, speziell dieser Hauptkommissar Grembowski, mich verdächtigt hat. Oder immer noch verdächtigt, das weiß ich nicht so genau.«

»Gut. Ich werde mich erkundigen.«

»Das hat begonnen also, am Freitag, am 28. Mai. Nach Geschäftsschluss bin ich zu Irene gefahren, wir haben zusammen gegessen, Irene, Anna und ich, und dabei hat Anna erzählt, dass sie am nächsten Morgen früh rausmüsse, wegen der Reinigung in diesem Haus Malle. Und danach wolle sie zu Gunda Simrock fahren, um mit ihr ins Thermalbad zu radeln. So wie’s das Unglück nun will, habe ich am Samstag in Fleissheim gearbeitet, bei einem Kunden Bücherregale und Schränke eingebaut.«

»Am heiligen Samstag?« Kramer schmunzelte.

»Ja, und zwar aus genau dem Grund, den Sie jetzt vermuten: keine Rechnung, Geld bar auf die Kralle, das Finanzamt muss nicht alles erfahren. Im Betrieb hab ich einen pfiffigen Azubi, der ebenfalls nichts dagegen hat, ein paar Scheine nebenbei einzustreichen. Wir haben um acht Uhr angefangen, von zwölf bis zwei Mittagspause gemacht und von zwei bis fünf den Rest aufgestellt.«

»Von zwölf bis zwei ...«

»Eben! Und schlimmer noch: Conny das ist der Azubi ist über Mittag zu seinen Eltern gefahren, ich hab mich in den Lieferwagen gesetzt, meine Brote gegessen und dann ein Nickerchen gemacht.«

»Das heißt ...«

»Genau das heißt es: Für die Zeit von zwölf bis vierzehn Uhr am 29. Mai habe ich kein Alibi. Weil ich aus verständlichen Gründen den Lieferwagen auch nicht auf der Straße geparkt hatte, sondern auf einer Wiese hinter dem Haus, gibt es keinen Zeugen, der mich in dem Wagen gesehen hat. Dieser Hauptkommissar hat mir das immer wieder unter die Nase gerieben.«

»Wieso wollte er von Ihnen ein Alibi?«

»Weil ich doch laut eigener Aussage wusste, wo sich Anna aufhielt. Am Freitagabend hatte ich ihr nämlich angeboten, sie nach dem Thermalbad nach Hause mitzunehmen, also zu Irene nach Werlebach, wir hatten uns für sechs Uhr vor dem Haus des Kunden verabredet.«

Kramer wollte etwas einwerfen, aber Denzel hob rasch die Hand.

»Es kommt noch dicker. Irene schwebt immer in Todesängsten, wenn Anna mit dem Rad unterwegs ist, und als sie am Freitag hörte, dass Anna von Haus Malle bis nach Fleissheim fahren wollte, wurde sie richtig hysterisch. Anna dürfe auf keinen Fall über die Uferstraße fahren, das wäre viel zu gefährlich, da rolle um diese Tageszeit der ganze Ausflugsverkehr, Anna musste ihr versprechen, die Fähre zu nehmen und durch den Krimser Forst zu strampeln.«

»Und das wurde in Ihrer Gegenwart besprochen?«

»Natürlich, ich bin für die Polizei der einzige Mann, der im Voraus wusste, wo Anna am 29. Mai zwischen etwa zwölf und vierzehn Uhr anzutreffen war.«

Und außerdem besaß er kein Alibi; Kramer musste unwillkürlich grinsen, als er sich vorstellte, wie Grembowski freudig seine gelbschwarzen Zähne gefletscht hatte. Gute Kunden mit einem längeren Vorstrafenregister ließen sich davon weniger beeindrucken, die hatten alle schon einmal bei Verhören die Einschüchterungsmasche erlebt, aber für einen gesetzesfürchtigen und, von den Steuern mal abgesehen, auch ehrlichen Mann wie Denzel war wohl eine Welt

zusammengebrochen. Später hatte Grem bestimmt widerwillig zugegeben, dass er da einen dicken Bock geschossen hatte; aber auf so eine Einschüchterungstour hatte er nun einmal nicht verzichten können.

»Ich muss Ihnen noch etwas beichten, Herr Kramer, was ich diesem Grembowski nie erzählt habe. An dem Freitagabend sitzen Irene und ich ganz friedlich vor dem Fernseher, als Anna hereinkommt. Sie wolle uns ihren neuen Bikini vorführen, auf den sie lange gespart hatte. Und ob sie am Wochenende auf die Kirmes nach Sickenheim dürfe, Peter hätte sie eingeladen. Irene fragte: Welcher Peter? Dabei blieb sie ganz ruhig; wenn man sich bei Anna aufregt oder zu schimpfen anfängt, schaltet sie sofort um, das kennen wir, dann hört und begreift sie gar nichts mehr. Na, der Peter vom Buchladen gegenüber, war die Antwort. Der Schmalspurcasanova von Werlebach, so lästert Irene gelegentlich. Ich denke, an seinem schlechten Ruf ist etwas dran. Warum der ausgerechnet Anna eingeladen habe? Der hat doch eine Freundin oder?, fragte Irene weiter. Nein, sagt Anna ganz fröhlich, mit Corinna Babel ist’s aus, und Peter sagt, er habe jetzt Zeit für mich, jetzt könne ich seine Freundin werden ... Herr Kramer, wenn es nicht so verflucht ernst gewesen wäre, hätte ich mich vor Lachen krümeln mögen, es war kabarettreif. Na schön, Irene überzeugt Anna mit viel Mühe, dass erstens der Peter zu alt und schon deswegen nicht der richtige Freund für sie sei und dass zweitens dieser todschicke, teure, neue Bikini etwas zu knapp ausgefallen sei, der würde doch beim Schwimmen sofort rutschen. Vielleicht könnte sie das gute Stück noch Umtauschen? Anna, schwer enttäuscht, vergießt ein paar Tränchen, beruhigt sich aber schnell wieder, schiebt schließlich friedlich ab und Irene bekommt einen Heulkrampf. Wie soll das bloß weitergehen, eines Tages würde etwas Schreckliches mit dem Kind passieren, dann würde Anna dem Falschen in die Finger fallen. Und ich Obertrottel leiste mir einen Superfehler und sage ziemlich vergrätzt, es sei höchste Zeit, dass Anna in Behandlung komme.«

»Ach du meine Güte!«, japste Kramer.

»Behandlung! Irene ist hochgegangen wie eine Rakete. Ob ich damit andeuten wolle, ihre Tochter sei geisteskrank und müsse in die Klapsmühle? Oder was? Na ja, die Woche war anstrengend gewesen, ich war hundemüde, ein Wort ergab das andere und plötzlich zankten wir uns, dass die Fetzen flogen. Dann warf Irene mir vor, ich hätte ja auch Stielaugen bekommen, als Anna eben halb nackt ins Zimmer gekommen war. Daraufhin bin ich aufgestanden und nach Rollesheim gefahren.«

Absichtlich wartete Kramer eine Minute, bevor er gleichmütig fragte: »Und wie ging’s am Samstag weiter, in Fleissheim?«

»Wie es ... Als Anna um sieben Uhr immer noch nicht aufgetaucht war, bin ich zu den Simrocks gefahren, Gunda kam gerade aus dem Thermalbad zurück. Von ihr hörte ich dann, dass Anna gar nicht bei ihr erschienen war. Danach habe ich Irene angerufen, aber Anna hatte sich auch bei ihr nicht gemeldet. Sie können sich Irenes Aufregung vielleicht vorstellen. Natürlich bin ich anschließend nach Werlebach gefahren und kurz vor Mitternacht haben wir den Revierleiter aus dem Bett geklingelt, der kennt Anna und ihre Eigenarten. Konrad Engel heißt er. Er war sehr besorgt, ist aufs Revier gekommen und von dort hat er noch in der Nacht Alarm geschlagen.«

An die dumpfen Geräusche aus der Werkstatt unten musste man sich gewöhnen, Denzel schien sie gar nicht mehr zu hören und starrte jetzt zu Boden.

Kramer überlegte und sagte dann: »Herr Denzel, eine Frage noch und dann zwei Bitten.«

»Ja?« Denzel hob den Kopf nicht.

»Mir ist aufgefallen, dass Sie von Anna manchmal in der Gegenwartsform und dann wieder in der Vergangenheitsform sprechen. Glauben Sie ehrlich, dass Anna noch lebt?«

»Glauben, dass ...? Nein, ich fürchte, sie ist tot, aber dann werde ich Irenes Verdacht nie zerstreuen können. Also ...«

Denzel hatte sagen wollen, also hoffe ich, dass sie noch lebt, Kramer verstand ihn sehr gut. Offenbar verkraftete Denzel die Entfremdung nur schwer, und die nötige Kaltschnäuzigkeit, ohne Rücksicht auf Irenes Gefühle einen Schlussstrich unter ein gescheitertes Verhältnis zu ziehen, besaß er nicht. Das sprach für ihn, erschwerte ihm aber vermutlich ständig das Leben.

»Es tut mir leid«, fuhr Kramer deshalb leise fort, »aber ich möchte Sie trotzdem bitten, Ihre Freundin anzurufen und meinen Besuch anzukündigen.«

»Ja, gut, geht in Ordnung«, versprach Denzel müde. »Ist Anna tot? Verschweigen Sie mir etwas?«

»Ich weiß es nicht. Nein, ich verschweige nichts. Aber die Polizei rechnet nicht mehr damit, Anna lebendig zu finden.«

»Ja, ja, natürlich ...«

»Wir werden uns bestimmt noch einmal unterhalten müssen, Herr Denzel. Hier ist meine Karte, falls Ihnen noch etwas einfällt oder Sie mit mir sprechen wollen.«

»Und Ihre zweite Bitte?«

»Können Sie mir ein paar Bilder von Anna überlassen, die ich fremden Menschen zeigen kann?«

»Sicher, einen Moment bitte.«

Denzel kam mit einem kleinen Päckchen zurück, das er Kramer wortlos in die Hand drückte.

»Und dann habe ich noch eine sehr unangenehme Frage. Wissen Sie von den beiden Lebensversicherungen, die Irene Laysen abgeschlossen hat?«

»Ja, die eine soll für Anna reichen, bis sie alt genug ist, den Laden zu übernehmen. Die andere«, er atmete schwer, »die andere will Irene benutzen, die Boutique zu verkaufen und mit dem Erlös und der Versicherungssumme etwas Neues anzufangen. Ein Geschäft in einer anderen Stadt oder irgendwo eine Teilhaberschaft.«

Kramer musterte ihn schweigend. Denzel hatte nicht gesagt, was habe Irene denn bisher von ihrem Leben gehabt? Früh schwanger und dann für ein schwieriges Kind mit psy

chischen Störungen verantwortlich. Denzel sprach nicht aus, was aus seinen Sätzen ebenfalls deutlich wurde: In Irenes neuem Leben war für einen Waldemar Denzel, ob noch verheiratet oder geschieden, kein Platz.

Auf der schmalen Uferstraße herrschte viel Verkehr, als Radfahrer hätte Kramer sich auch eine andere Strecke ausgesucht. Viel Laub hatte sich jetzt schon braun verfärbt, der Sommer war zu trocken gewesen und der Fluss führte für die Jahreszeit zu wenig Wasser.

An der Lantener Fähre warteten mehrere Dutzend Menschen auf die Drahtseilfähre, die in aufreizend gemütlichem Tempo den Fluss überquerte. Das Rad auf dem hoch über das Wasser gespannten Drahtseil quietschte, als wünsche es, endlich einmal ordentlich geschmiert zu werden. Die Strömung war hier sehr schwach, praktisch floss zurzeit nur das Wasser aus dem Rollesheimer Laufwasserkraftwerk nach Westen. Erst unmittelbar vor der Terborner Stadtgrenze befand sich die Mündung des Stichkanals zum Flusshafen und Industriegebiet in den Stadtteilen Schlüpen und Norringen. Bis zum Abzweig am so genannten Wassertor, der früheren Stadt grenze, waren im letzten Jahrzehnt neue hohe Deiche gebaut worden, nachdem bei einem ungewöhnlichen Frühlingshochwasser fast die gesamte, gerade frisch renovierte Innenstadt abgesoffen war. Und natürlich erinnerten sich alle Terborner noch an das Hochwasser des parallel, weiter nördlich fließenden Mains, das die Stadt Wertheim getroffen hatte. Werlebach bekam häufiger nasse Füße. Die vom Hügelkamm bis zur Fähre herabführende Hauptstraße ließ jedes Hochwasser ungehindert durch den Einschnitt in den Flussdeichen eindringen.

Auf dem anderen Ufer war der Deich nicht unterbrochen, dahinter lag der Auenpark, in dem morgens die Jogger unterwegs waren und jene Pendler, die bequem mit dem Fahrrad in die Stadt zur Arbeit fuhren.

Oberkommissar Konrad Engel schaute anfangs sehr misstrauisch drein, er wurde erst entgegenkommender, als Kramer ihm vorschlug, sich bei der Hauptkommissarin Heynen nach dem Privatdetektiv Rolf Kramer zu erkundigen.

Engel musste zweite Hälfte Fünfzig sein, er trat auf wie der Dorfpolizist aus dem Bilderbuch oder wie das wandelnde Abbild des preußischen Wachtmeisters mit Pickelhaube, der kraft persönlicher und amtlicher Autorität viele Streitfälle schlichtete, bevor ein Rechtsanwalt auch nur einen müden Euro daran verdienen konnte. Ein selbstbewusster und ruhiger Mann.

Kramer unterschätzte seinen Einfluss nicht. Wer sich Konrad Engel zum Feind machte, würde es in Werlebach und im Nachbarort Millsen schwer haben. Deshalb erzählte Kramer ausführlich, dass er eben Waldemar Denzel besucht hatte. »Der arme Kerl ist am Boden zerstört, seit man Annas Fahrrad gefunden hat.«

»Das kann ich mir gut vorstellen. Trinken Sie einen Kaffee, Herr Kramer?«

»Ja, gerne.« Er würde irgendwann noch wegen einer Koffeinvergiftung ins Krankenhaus müssen.

»Der arme Kerl«, wiederholte Engel. »Hat er Ihnen gestanden, dass es zwischen ihm und Irene Laysen nicht mehr gut läuft?«

»Hat er. Sie halten Denzel nicht für schuldig?«

»Nein. Weiß der Geier, wohin Anna an dem Samstagmittag plötzlich gefahren ist oder gefahren sein könnte. Darum hätte sich Grembowki mal gründlicher kümmern sollen. Aber der Kollege verdächtigte lieber Denzel und hat sich um Annas Eigenarten nicht gekümmert.«

»Sie kennen Anna?«

»Sicher. Ich werde unter anderem dafür bezahlt, alle Werlebacher und Millsener zu kennen.«

»Denzel hat sich recht drastisch ausgedrückt, was Annas Eigenarten angeht: Dachschaden.«

»Tja, Herr Kramer, so kann man das brutal nennen.«

»Bitte beschreiben Sie mir, wie sich dieser Dachschaden bemerkbar gemacht hat.«

Engel zog unbehaglich die Schultern hoch. »Tja. Wie ... Sie und Anna kommen zu mir ins Revier, weil Sie mich etwas fragen wollen. Meine Antwort nimmt aber ein paar Minuten in Anspruch. Anna sitzt dann da, die Hände brav gefaltet und schaut mich direkt an, strahlt über das ganze Gesicht und ist ganz Ohr. Mit einem Mal, fünf oder sechs Minuten später, verändert sich ihr Gesichtsausdruck. Verliert an Spannung oder so. Immer noch lächelnd und freundlich, aber man hat plötzlich den Eindruck, dass sie nicht mehr zuhört. Sie will wohl noch zuhören, aber etwas in ihr lenkt sie unwiderstehlich ab. Oder auch: Anna hört zwar noch, was man ihr sagt, aber sie versteht nicht mehr, was es bedeutet. Dabei guckt Anna Sie unverändert aufmerksam an, aber in Wahrheit ist sie mit ganz anderen Dingen beschäftigt. Oder genauer vielleicht: Die anderen Dinge beschäftigen sich mit Anna. Irene, die Mutter, nennt das: Anna hat wieder umgeschaltet. Aber weil sie brav sitzen bleibt, ihr Gegenüber unverändert freundlich anstrahlt, denkt der Mensch natürlich, Anna versteht und merkt sich alles, was man ihr sagt, aber das ist eben nicht mehr der Fall. Wenn man dann aufhört zu reden, bedankt Anna sich höflich, macht einen Knicks und geht. Ich habe lange gebraucht, bis ich den Augenblick dieses Umschaltens erkennen konnte und wusste: Vorsicht, ab jetzt begreift sie nichts mehr.«

»Wissen alle Werlebacher von diesem Umschalten?«

»Die, die häufiger mit ihr zu tun haben, schon. Zum Beispiel geht sie regelmäßig einkaufen und besorgt auch Sachen für die Nachbarn, die Lankenows von der PamcelsusApotheke. Man muss Anna allerdings einen Einkaufszettel mitgeben, weil sie sonst nur die ersten fünf, sechs Sachen mitbringt, die man ihr auf getragen hat, der Rest der Bestellungen rauscht an ihr vorbei.«

»Kein leichtes Kind«, meinte Kramer versonnen und Engel nickte heftig. »Anna hat noch andere Eigenarten. Sie geht

zum Beispiel los, weil sie mit einer Klassenkameradin an der Fähre verabredet ist. Unterwegs schießt ihr etwas durch den Kopf sagen wir mal, sie braucht noch einen Schreibblock. Also biegt sie ab und geht in den Laden von Peter Dircks. Dort entdeckt sie meinetwegen neben den Papierwaren Kästen mit Tuschfarben und Pinsel, also kauft sie kein Schulheft, sondern einen Kasten mit Tuschfarben und zwei Pinsel. Und wenn die Freundin von der Fähre ihr später vorwirft: Warum bist du nicht gekommen?, sagt Anna aufrichtig: Ich musste doch noch einen Schreibblock kaufen.«

»Ist Anna je in psychiatrischer Behandlung gewesen?«

»Meines Wissens, nein. Irene Laysen geht sofort in die Luft, wenn man das Wort Psychiater oder Psychologe ausspricht.«

»Hat Anna einen Freund?«

Engel legte den Kopf schräg. »Freund? Sie meinen doch: Liebhaber?«

»Ja.«

»Glaube ich nicht.«

»Trotz ihres Aussehens?«

»Das täuscht. Anna ist in vielerlei Beziehung noch ein Kind. Ich gebe zu, einem Fremden, der sie zum ersten Mal sieht, fällt das schwer zu glauben.«

»Wer ist eigentlich Annas Vater?«

»Das weiß niemand genau. In der Geburtsurkunde heißt es: Vater unbekannt.«

»Aber Anna wird doch bestimmt mal gefragt haben.«

»Hat sie sicherlich. Aber ob sie die Wahrheit zu hören bekommen hat? Der Vater soll ein Jugendlicher aus Werlebach gewesen sein, der noch vor Annas Geburt mit dem Motorrad tödlich verunglückt ist. Das hat Irene ihrer Tochter erzählt und das hat Anna im ganzen Ort verbreitet.«

»Anna kann also nicht den Mund halten?«

»Ein Geheimnis für sich bewahren, meinen Sie? Nein, das kann sie nicht; was Sie Anna erzählen, haben Sie ganz Werlebach erzählt.«

»Das heißt doch wohl auch, dass sie sehr vertrauensselig ist?«

»Ja, das ist sie. Wenn auch in Grenzen. Sie sagt, das musst du aber für dich behalten, der oder die antwortet, klar, mach ich, und Anna ist von ihrer oder seiner Verschwiegenheit überzeugt. Dass man sie bewusst belügen oder täuschen kann, übersteigt ihre Vorstellung.«

»So naiv?«

»Ja, kaum zu glauben für eine Sechzehnjährige.«

»Kennen Sie den Namen des angeblichen Vaters?«

»Ja, aber mir wäre es lieber, Sie würden Irene Laysen selbst danach fragen.«

»In Ordnung. Eine Frage noch, Herr Engel. Wo finde ich Peter Dircks?«

»Die Hauptstraße hoch, auf der rechten Seite. Er wohnt über seinem Geschäft.«

»Vielen Dank, wir sehen uns bestimmt noch einmal.«

»Na klar. Herr Kramer, damit es zwischen uns keine Missverständnisse gibt. Ich bin sehr froh, wenn Sie etwas Staub aufwirbeln, damit Bewegung in den Fall kommt, und Sie sich um Anna kümmern; aber ich bleibe trotzdem für die Ruhe im Ort verantwortlich.«

»Schon verstanden, Herr Engel.«

Das Dircks’sche Geschäft befand sich in einem älteren zweistöckigen Haus mit ausgebautem Dachgeschoss. Der Laden im Parterre war vor nicht langer Zeit modernisiert und renoviert worden, aber für den Rest des Baus schien das Geld nicht gelangt zu haben. An der linken Seite des Hauses verlief ein schmaler Gang neben einer dichten Ligusterhecke an der Haustür vorbei auf einen Hof, der mit einem hohen, festen, undurchsichtigen Holzzaun gesichert war. Ein Törchen führte direkt in den schmalen Waldstreifen, der sich parallel zur Hauptstraße bis auf den Kamm der Flusshöhen entlangzog, durchschnitten von den Wohnstraßen, die wie Gräten nach links und rechts von der Hauptstraße abzweig

ten. Die letzte Wohnstraße, direkt unterhalb des felsigen Kammes, hieß Kanzelstieg und endete erst im Nachbarort Millsen. Auf halber Strecke ragte eine Felsnase wie eine Kirchenkanzel in das Tal und bot von der Aussichtsplattform einen fantastischen Blick nach Westen bis in die Flussebene hinein und nach Osten gut vierzig Kilometer in das Mittelgebirge, den Kelsterwald.

Kramer blieb vor dem Geschäftseingang stehen und sah sich um. Auf der anderen Straßenseite lag genau gegenüber Irenes Boutique. In der linken Seite des zweistöckigen Baus mit einem etwas überstehenden Flachdach befand sich die ParacelsusApotheke. Uber der Boutique und der Apotheke gab es Wohnungen, zugänglich jeweils von den Hausseiten. Dircks konnte vermutlich von seiner Wohnung aus bequem in die Zimmer von Irene Laysens Wohnung schauen. Hoffentlich war er ein neugieriger, auskunftsfreudiger Mann. Das Doppelhaus mit Boutique und Apotheke besaß zwei Einfahrten in den Hinterhof. Vielleicht gab es dort sogar Garagen. Denn die Hauptstraße war erstaunlich dicht beparkt.

Kramer stieß die Glastür auf und lauschte dem melodischen Gebimmel. Der Laden schien leer bis auf eine junge Frau, die vor einem Gestell mit Zeitschriften stand und in einem Magazin blätterte. Sie drehte sich um und musterte Kramer neugierig. Mittelgroß, schlank, mit kurzen, glatten, brünetten Haaren. Jeans, ein enges T-Shirt und staubige Laufschuhe. Keine Schönheit, aber nett.

Aus einem Hinterzimmer kam ein Mann auf Kramer zu. Er war nahe der vierzig, hager, mit schütterem hellbraunen Haar und einem scharf geschnittenen Gesicht. »Guten Tag, was kann ich für Sie tun?«

»Herr Dircks? Guten Tag, mein Name ist Rolf Kramer, ich bin Privatdetektiv und möchte mit Ihnen gern über Anna Laysen reden.«

Dircks schüttelte ungläubig den Kopf und schnitt eine unfreundliche Grimasse. »Da sind Sie bei mir an der falschen Adresse.«

»Wirklich? Aber Sie können mir vielleicht doch sagen, ob Sie am 29. Mai das war der Tag, an dem Anna verschwunden ist mit ihr nachmittags auf der Kirmes in Sickenheim gewesen sind.«

»Wie bitte?«

»Sie hatten Anna doch eingeladen.«

Jetzt runzelte Dircks die Stirn und musterte Kramer aus schmalen Augen.

»Sagen Sie bitte nicht, dass ich mich irre. Ich habe Zeugen für meine Behauptung.«

Dircks5 Blick glitt ab, richtete sich auf etwas im Rücken seines Besuchers. Als Kramer sich kurz umdrehte, bemerkte er die junge Frau, die unauffällig näher herangekommen war und Dircks scharf beobachtete. Sie hatte jedes Wort verstanden, das Kramer gesagt hatte. Das schien auch Dircks klar zu werden, denn plötzlich versuchte er ein verbindliches Lächeln, das aber gewaltig verunglückte.

»Können wir uns hinten unterhalten?«, fragte Dircks halblaut und rief anschließend der jungen Frau zu: »Bedien dich, Corinna, und leg mir einen Zettel neben die Kasse.« Dann marschierte er los und Kramer folgte ihm in einen Hinterraum, der halb als Lager, halb als Aufenthaltsraum diente.

Eine schmale Treppe führte nach oben. Dircks stieg ohne Zögern hoch. Die Treppe mündete in einem schmalen Flur, von dem mehrere Türen abgingen. Dircks klinkte eine Tür auf und ließ Kramer in einen Wohnraum eintreten, dessen breites Fenster zur Hauptstraße ging.

»Bitte setzen Sie sich. Corinna ist schrecklich neugierig und noch schwatzhafter.«

»Okay«, murrte Kramer. »Aber bitte lenken Sie nicht ab. Waren Sie mit Anna auf der Kirmes?«

»Nein. Ich hatte mich ursprünglich mit Corinna verabredet, ja, mit dem Mädchen, das Sie unten im Laden gesehen haben. Corinna wollte unbedingt auf die Kirmes. Normalerweise bleibt sie im Laden, wenn ich mal weg bin. Es war gar nicht so leicht, eine andere Vertretung zu organisieren, und kaum hatte ich das hingekriegt, bekam Corinna einen Rappel. Sie hätte keine Lust mehr auf die Kirmes. Da habe ich aus Jux Anna gefragt, ob nicht sie mich begleiten wolle, meine Freundin sei mir gerade weggelaufen und ich hätte jetzt Zeit für Anna. Zuerst war sie Feuer und Flamme, aber dann hat sie abends angerufen und abgesagt. Irene das ist Annas Mutter habe es ihr verboten, ich sei nicht der richtige Freund für sie und außerdem habe sie sich ja schon für den Samstagnachmittag verabredet, mit ihrer Schulfreundin Gunda Simrock.«

»Dann waren Sie also gar nicht auf der Kirmes?«

»Doch, doch, am Freitag gegen Mitternacht erschien Corinna, es ging ihr nicht sehr gut, sie war von ihrem letzten Freier verprügelt und rausgeschmissen worden und brauchte für die Nacht ein Bett.«

»Ein Freier?«

»Sie ist eine Gelegenheitsnutte, die hier im Ort einige Stammfreier bedient. Und wenn sie gar nicht mehr weiterweiß, kommt sie zu mir, schnorrt ein Bett für die Nacht, ein Bad und morgens ein Frühstück.«

»Hat sie keinen festen Wohnsitz?«

»Doch, theoretisch schon, aber ihre Eltern saufen und auf dem Weg nach Hause war sie ihrem Vater begegnet, der zur Apotheke schlich, um sich ein Mittel gegen seine Alkoholvergiftung zu holen.«

Kramer musste lachen. »Was hier so alles los ist, ein Mittel gegen Alkoholvergiftung?«

»Ach was, die Paracelsus-Apotheke hatte an dem Wochenende Nacht und Bereitschaftsdienst und Bernd Lankenow gibt dem alten Babel in solchen Fällen eine Traubenzuckertablette in etwas Sodawasser. Der Rest ist pure Einbildung, aber es wirkt. Babel verzieht sich dann ohne Lärm. Corinna war also ihrem Vater begegnet, der Richtung Apotheke wankte, ihr zuerst das Geld abgenommen und sie dann mit einem Tritt verabschiedet hat.«

»Corinna hat demnach die Nacht von Freitag auf Samstag in Ihrer Wohnung verbracht?«

»Nein, das ging nicht, ich hatte schon eine Frau zu Besuch.«

»Und ich dachte, auf dem Dorf gibt es keine Sünde.«

Das fand Dircks nur mäßig witzig. »Ich musste Corinna fortschicken und habe ihr zum Trost versprochen, sie am nächsten Tag gegen halb vier abzuholen und mit ihr die Kirmes zu besuchen. Was ich auch getan habe.«

»Dann haben Sie Anna am Samstag, den 29. Mai, gar nicht mehr gesehen?«

»Doch, doch. Ich habe vor acht Uhr in meiner Küche gefrühstückt, das Fenster geht auch Richtung Hauptstraße, und so gegen Viertel vor acht habe ich Anna bemerkt, wie sie mit ihrem Rad die Hauptstraße hinaufgefahren ist.«

»Richtung Kanzelstieg?«

»Wahrscheinlich. Der Kanzelstieg führt ja bis nach Millsen, unter anderem an dem Haus Malle vorbei, in dem Anna putzen sollte.«

»Sie kennen Anna gut?«

»Natürlich.«

»Und die Mutter?«

»Na klar, wir kennen uns alle hier, Herr Kramer.«

»Dann kennen Sie auch Waldemar Denzel?«

»Aber sicher.«

»Wo finde ich Corinna Babel jetzt?«

»Wenn sie nicht mehr unten im Laden schmökert, wahrscheinlich in der Wohnung ihrer Eltern, Uferstraße 72. Aber seien Sie vorsichtig, wenn der alte Babel besoffen ist, und das ist er meist um diese Tageszeit, ist er unberechenbar. Dann verteidigt er die Ehre und Unschuld seiner Tochter. Der er später, um weitersaufen zu können, den Hurenlohn abnimmt, den sie verdient hat.«

»Ich habe den Eindruck, es würde sich lohnen, einmal alle Werlebacher und ihre Vergangenheit gründlich unter die Lupe zu nehmen.«

Es hatte scherzhaft, klingen sollen, aber Dircks musterte

Kramer halb finster, halb besorgt. »Hier hat keiner was mit Annas Verschwinden zu tun!«, sagte Dircks entschieden.

»Haben Sie denn eine Ahnung, wo sich Anna aufhalten könnte? Oder wohin sie am 29. Mai gefahren ist?«

Dircks schüttelte energisch den Kopf und Kramer hielt ihm eine Visitenkarte hin. »Wenn Sie etwas hören oder wenn Ihnen noch etwas einfällt, was mir helfen könnte, rufen Sie mich doch bitte an.«

»Mach ich!«, versprach Dircks.

Der Laden unten war leer und Kramer schaute sich ein wenig um. Papier, Zeitungen und Zeitschriften, zwei Regale mit Taschenbüchern, Kugelschreibern, Bleistiften, Postkarten, Stadt und Wanderplänen. Erstaunlich, dass sich ein Laden mit diesem schmalen Sortiment halten konnte. Annahme von belichteten Filmen: Zu Dircks ging man wohl nur, wenn man in der Stadt etwas vergessen hatte.

Auf dem Weg zur Uferstraße hinunter lief Kramer an dem Polizeirevier vorbei. Engel kam gerade heraus und winkte Kramer lässig zu. »Sie haben wohl auch einen langen Tag?«

»Von festen Arbeitszeiten kann ich nur träumen.«

»Ich hab’s gleich geschafft. Noch eine Runde, dann bin ich durch.«

»Aber jeder Werlebacher weiß, wo Sie wohnen.«

»Das stimmt. Ich werde oft genug nachts raus geklingelt.«

»Ich möchte noch mit Corinna Babel reden.«

»Dann passen Sie auf, dass Sie dem alten Babel nicht über den Weg laufen. Der Säufer glaubt, er müsse alle Freier und Freunde seiner Tochter verscheuchen.«

»Dabei besäuft er sich von ihren Einnahmen.«

»Aha. Ich merke schon, Dircks hat geplaudert.«

»Hat er.«

»Den Dircks kann der alte Babel besonders schlecht leiden. Wenn er Corinna wieder einmal grün und blau geschlagen hat, flüchtet sie sich oft zu Dircks und schläft dort.«

»Mit Dircks oder alleine?«

»Alleine. Dircks hat ein winziges Gästezimmer und kann

ein richtiger barmherziger Samariter sein. Der alte Babel hat einmal geschworen, seine Tochter gewaltsam aus Dircks5 Wohnung zu holen, sich aber gewaltig verrechnet. Dircks hat ihn krankenhausreif geprügelt. Seitdem macht Babel einen großen Bogen um Peter Dircks und den Laden.«

»Hier ist eine Menge los.«

»O ja. Aber anders als bei Ihnen in der Stadt hält man hier alles möglichst unter der Decke.«

»Selbst die Wundertabletten gegen Alkoholvergiftung.«

Engel lachte auf. »Die Idee ist doch gut oder? Wenn Babel seine Traubenzuckerration plus etwas Sprudel geschluckt hat, torkelt er ganz friedlich nach Hause und überlebt die vergifteten Biere.«

»Wo säuft er denn gewöhnlich?«

»Im Letzten Poller. Die Kneipe liegt an der Uferstraße, gleich hinter der Einmündung. Tschüss, Herr Kramer.«

»Gute Nacht, Herr Engel.«

Der Verkehr auf der Uferstraße hatte nachgelassen und auch die Fähre fuhr nicht mehr. Der Letzte Poller war nicht zu überhören. Drinnen grölte und brüllte ein ganzes Bataillon von Angetrunkenen und der Ventilator über der Tür beförderte einen Schwall erstickenden Rauchs und warmer, verbrauchter Luft nach draußen. Es stank nach Bier und Schweiß. Keine Kneipe, in die Kramer freiwillig eingekehrt wäre. Die vier und fünfstöckigen Backsteinhäuser drum herum waren alt und ziemlich heruntergekommen, sie sahen schon so aus, als lebten hier nur Säufer, Arbeitsscheue und Menschen, die etwas zu verbergen hatten.

Die Haustür von Nummer 72 stand halb offen. Wenn die Angaben auf dem Klingelbrett stimmten, wohnten Babels im dritten Stock. Auf das mehrfache Klingeln erfolgte keine Reaktion. Im Flur roch es ganz ungewöhnlich, in der Luft schwebte ein beißender Gestank, der Kramer den Atem nahm und das Wasser in die Augen trieb. Er blieb stehen seine Augen mussten sich ohnehin an das Zwielicht gewöhnen,

die Treppenhausbeleuchtung war nicht angesprungen und überlegte, wann und wo er diesen typischen und unverwechselbaren Geruch zuletzt in der Nase gehabt hatte. Vorher war Kramer eine lange Strecke Auto gefahren und dann hatte es in dem grauen, kalten und windigen Ort, der an einem großen See lag und in dem ein WaltDisneySchloss stand, geregnet Schwerin. Braunkohlenbriketts für die Ofenheizungen. Erstaunlich, dass es hier noch so etwas gab. Im Tageblatt hatte Kramer gelesen, dass der letzte Kohlenhändler in Terborn Ende des Jahres sein Geschäft mangels Kundschaft aufgeben würde.

Kramer kletterte die Stufen hinauf und wurde von der plötzlich aufleuchtenden Glühbirne über ihm fast geblendet. Offenbar gab es einen Trick beim Drücken auf den Knopf. Einen Absatz höher war eine Wohnungstür geöffnet worden.

In dem erleuchteten Viereck stand ein stämmiger Mann und brüllte los: »Was willst du Wichser hier? Verpiss dich!«

Bevor Kramer etwas erwidern konnte, bewegte der Mann einen Arm, Kramer spürte einen fürchterlichen Schlag auf seine Stirn und dann stürzte er rücklings die Treppe hinunter, hatte dabei das Gefühl, als würde sein Kopf zerspringen und einer seiner Arme in Stücke brechen, er schrie vor Schmerzen und dann wurde es schwarz vor seinen Augen.

Eine kalte Nässe in seinem Gesicht weckte ihn. Das Licht brannte, neben ihm kniete Corinna und wischte ihm mit einem Waschlappen das Gesicht ab, den Lappen wrang sie anschließend über einer Schüssel mit Wasser aus. Zu Kramers Verblüffung war das Wasser schmutzig grau. »Blut?«, fragte er beunruhigt und seine Zunge gehorchte ihm nur mühsam.

»Nein. Dreck«, antwortete sie sachlich. »Mein Vater hat dir ein Brikett an die Stirn geworfen. Das ist zerplatzt. Zum Glück hast du geschrien, die Nachbarn sind aus ihren Wohnungen gekommen. Er hatte schon einen Schürhaken in der Hand und wollte zu dir runter.«

»Ist er verrückt?«

»Wenn er säuft, verliert er jede Kontrolle über sich.« Es klang so gleichmütig wie eine Zeile aus einer Bedienungsanleitung. »Diesmal warst du es, sonst müssen Mutter und ich herhalten. Hast du dir was gebrochen?«

Kramer bewegte vorsichtig Arme und Beine. Alles schien heil zu sein. Sein Kopf brummte und Corinna nickte. »Du wirst eine prachtvolle Beule bekommen.« Sie half ihm, den Oberkörper aufzurichten. Das Treppenhaus fuhr einen Moment heftig Karussell, kam dann aber zum Stillstand. Und Kramer verspürte weder Übelkeit noch Brechreiz. Seine Büronachbarin Anielda pflegte zu sagen, er sei gegen Gehirnerschütterungen gefeit, weil er kein Gehirn besäße, sondern einen Kopf aus massivem Holz. Und die Beulen, die Kramer ab und zu von seinen Aufträgen mit ins Büro brachte, nannte sie die Fluchtburgen der Holzwürmer.

»Geht es oder soll ich einen Arzt rufen? Ich kann auch unseren Polizisten Engel alarmieren.«

»Ist denn bei deinem Vater was zu holen? Schmerzensgeld etwa oder Ersatz für meine eingerissene Hose?«

»Nix, kein Cent. Ich müsste Sonderschichten einlegen und Mutter, die geht als Putze, muss dann auch nachts ranklotzen.«

»Schon klar. Aber warum lasst ihr euch das gefallen?«

»Das verstehst du nicht. Komm, wir gehen in die Wohnung, er ist fort, um nachzutanken. Ich spendiere dir ein paar Kopfschmerztabletten und ein Handtuch, damit du dir dein Gesicht waschen kannst.«

Corinnas Mutter sah Kramer ängstlich entgegen, als er mithilfe der Tochter die letzten Stufen bewältigte. Sie musste einmal eine hübsche Frau gewesen sein.

»Er ist nett und verlangt kein Schmerzensgeld.«

»Aber ein paar Auskünfte«, warf Kramer schnell ein und Corinna seufzte.

Nachdem Kramer zwei Tabletten geschluckt und zehn Minuten ruhig in einem Sessel gesessen hatte, fühlte er sich fast wieder fit. Die blauen Flecken und Blutergüsse würde er

überleben. Das Wohnzimmer sah aus wie eine Sammelstelle für den Sperrmüll.

Corinna bemerkte Kramers Blick und erklärte scharf: »Ganz recht. Babel versäuft alles, Mutter hilft ihm manchmal dabei und ich schaffe an. Irgendwelche Einwände?«

»Nein. Du bist alt genug, um zu wissen, was du tust.«

»Eben.«

»Du kennst Anna Laysen?«

»Klar. Ich helfe sogar manchmal in der Boutique aus, wenn Irene mal zum Arzt oder aufs Finanzamt muss.«

»Wann hast du Anna zum letzten Mal gesehen?«

»An dem Samstag, an dem sie verschwunden ist.«

»Was?«, staunte Kramer, doch Corinna winkte schnell ab. »Keine falschen Vorstellungen. An dem Samstagvormittag habe ich Reklamebroschüren in Millsen und Werlebach verteilt. Und als ich beim Haus Malle war, kam Anna heraus, um etwas in die Mülltonne zu werfen.«

»Weißt du noch, um wie viel Uhr das war?«

»Ich würde denken, so gegen zehn Uhr.«

Kramer machte ein enttäuschtes Gesicht und Corinna lachte schadenfroh: »Aber ich habe noch jemanden gesehen. Jemand, der sich dort mit seinem Rad versteckt hatte und auf Anna wartete und sie beobachtete.«

»Ach nee.«

»Doch. Martin Denzel.«

»Du fantasierst.«

»Von wegen. Der Martin Denzel, der Sohn von Irenes Freund. Der war mit dem Rad da und hat Anna beobachtet.«

»Warum denn das?«

»Warum wohl? Er ist scharf auf sie«, antwortete Corinna verächtlich. »Aber Anna will nichts von ihm wissen.«

»Wie kannst du das wissen?«

»Hat er mir selbst gesagt. Er ist noch ein grüner Junge, weißt du, so naiv wie sie, mit Küsschen und Händchenhalten im Mondschein.«

»Du magst Anna nicht?«

»Nein, nicht wirklich. Sie tut immer so, als sei sie was Besseres. In der Boutique darf ich für einen Hungerlohn aushelfen, aber mit Anna mal ins Kino gehen, ist nicht drin, dann wird Irene fuchsteufelswild.« Mit gezierter Stimme fuhr Corinna fort: »Du bist kein Umgang für meine Tochter.«

»Dann weiß Irene also, wie du Geld verdienst.«

»Ja, ich weiß zwar nicht, wie sie es heraus gefunden hat, aber eines Tages hat sie mir’s auf den Kopf zugesagt. Und ich war so blöd, nicht sofort zu leugnen.«

»Du hast eine Reihe Stammkunden hier im Ort?«

»Uber meine Kunden rede ich nicht«, wehrte Corinna ab.

»Ich will gar keine Namen hören. Mich interessiert nur, ob es hier in Werlebach einen Mann gibt, der Anna Gewalt angetan haben könnte, weil er auf Schulmädchen steht. Sie war doch noch unschuldig?«

»Vermutlich. Darüber haben wir nie gesprochen.«

»Manche Männer mögen so was.«

»Ich weiß. Aber einer von meinen Kunden?«, zweifelte Corinna.

»Na, du bist ja auch noch ziemlich jung. Und wenn Männer mit dir schlafen wollen, ist es doch vorstellbar, dass einer von denen auch ein Auge auf Anna geworfen hatte.«

»Du meinst, ein Perverser?«

Kramer wollte sich mit einer jungen Hure nicht auf eine Debatte darüber einlassen, was pervers war oder nicht. Corinna runzelte die Stirn und dachte nach. Dann leuchteten ihre Augen auf. »Da kenne ich nur einen im Ort nein, keiner meiner Kunden. Er ist wohl einmal bei mir gewesen, aber was er von mir wollte, war völlig abgedreht und hat mir nicht gefallen, obwohl er verdammt viel Geld geboten hat. Danach ist er nicht wiedergekommen. Er gibt sich ansonsten viel Mühe, in Werlebach nicht aufzufallen. Zum Bumsen fährt er immer weg, damit es seinen Kunden nicht auffällt.«

»Wen meinst du?«, fragte Kramer gleichmütig. Er traute Corinna nicht richtig, wenn sie konnte, würde sie ihn bestimmt verladen.

»Den Bernhard meine ich. Bernd Lankenow.«

»Den Apotheker?«

Corinna nickte und schlug die Beine übereinander. Ihr kurzer Rock rutschte etwas zu weit nach oben und Kramer stand auf. Wenn er sich irrte, nun gut, wenn es ein Signal sein sollte, wurde es höchste Zeit, die Kurve zu kratzen. Er hatte von ihr mehr erfahren, als zu erwarten war.

»Corinna, wen hast du an dem Samstag, als du Prospekte verteilt hast, zuerst gesehen, den Martin Denzel oder die Anna?«

Sie überlegte eine Weile. »Den Martin«, antwortete sie dann entschieden.

»Hast du Anna nachher verraten, dass sich der Martin in der Gegend versteckt hatte?«

Corinna nickte ohne Zögern.

»Und was hat Anna dazu gesagt?«

»Was ganz Komisches. Sie hätte jetzt gar keine Zeit für den dummen Jungen, im Moment hätte sie ganz andere Sorgen.«

»Ganz andere Sorgen im Moment?«

»Ja, wörtlich so.« Corinna schaute Kramer fest an. »Ich hab’s auch nicht verstanden, aber nicht gefragt, was sie damit meint.«

»Vielen Dank.« Kramer drehte sich zur Tür um.

»Willst du schon gehen?«, erkundigte sie sich enttäuscht und zupfte an ihrem Ausschnitt.

Einen anderen Informanten aus der Terborner Szene hätte er auch bezahlt, deshalb zückte Kramer seine Brieftasche und drückte ihr einen Fünfziger in die Hand. »Danke, Corinna.«

Sie lachte, als er zur Tür humpelte, aber es klang eher mitleidig als spöttisch. Er hatte schon die Hand auf der Klinke, als sie in einem völlig veränderten Tonfall erklärte: »Weißt du, warum ich sie nicht leiden mag? Sie ist etwas arg dumm; du hast doch das Prachtexemplar von meinem Vater erlebt. Statt nun froh zu sein, dass sie so einen Scheißkerl nicht an

der Backe hat, jammert sie pausenlos, sie würde ihren Vater so vermissen. Ob ich ihr nicht helfen wollte, ihn zu suchen.«

Auf der Heimfahrt überlegte Kramer, was Corinna Babel ihm hatte mitteilen wollen, dabei beschäftigte ihn der veränderte Tonfall fast noch mehr als der Inhalt der Sätze.

Als er duschte, wunderte er sich, wie viel Staub und Dreck man auf der Haut und in den schon etwas ausgedünnten Haaren haben konnte, das ablaufende Wasser wurde einfach nicht klar. Und auf seiner Stirn wuchs eine prächtige Beule.

In der Nacht schlief Kramer schlecht. Die Prellungen schmerzten, sodass er mehrmals aufwachte und gegen drei Uhr aufstand. Mit einem Glas starken Whisky in der Hand stellte er sich neben das Fenster seines Wohnzimmers und schaute auf die immer noch belebte Haffstraße hinunter. Babsie hatte gut zu tun. Sie hockte wie üblich auf einem alten Meilenstein, den das Straßenbauamt vergessen hatte, laberte die Passanten an und verschwand ab und zu mit einem in dem Stundenhotel gegenüber. Für Babsie freute es ihn, der wahrscheinlich Speed schluckende Winzling von maximal fünfundvierzig Kilo tat sich schwer, Kunden aufzureißen.

Der Whisky half, irgendwann glaubte Kramer, nun tief und traumlos schlafen zu können. Den Rest aus seinem Glas goss er in den Kübel mit dem prachtvoll blühenden MesquitaKaktus, der für jede Feuchtigkeit von Wasser über Bier, Wein, Whisky und Kaffee dankbar war und die Fürsorge mit vielen kleinen rosa Blüten lohnte.

Krimi Paket Mörderisches Lesefutter im August 2021: 16 Romane

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