Читать книгу Krimi Paket Mörderisches Lesefutter im August 2021: 16 Romane - A. F. Morland - Страница 11
4.
ОглавлениеAls Manya Bercelius an seine Bürotür klopfte, saß Kramer schon gut zwei Stunden an seinem Computer und tippte mal wieder Berichte. Sie entschuldigte sich. »Ihre Warnung war nur zu angebracht.«
»Wieso? Haben Sie sich ein Knöllchen eingefangen?«
»Beinahe. Ich bin weitergefahren. Hier einen Parkplatz zu finden ist so Erfolg versprechend wie Goldwäschen in der Badeanstalt. Aber Sie haben Recht: Die blauen Uniformen sind wirklich hübsch.«
»Stimmt, aber ich habe mich erkundigt: Die Trägerinnen müssen alles Geld abliefern, das sie im Laufe eines Tages einnehmen. Langweilig, nicht wahr? Was halten Sie von einem Kaffee?«
»Viel, herzlichen Dank. Herr Kramer, unangenehme Dinge soll man nicht unnötig aufschieben. Ich habe mich gestern bei Achim ziemlich blöd benommen. Aber langsam geht es mir auf den Geist, wie sehr Achim sich mit diesem Mädchen beschäftigt.«
»Eifersüchtig? Oder befürchten Sie, dass es neue Gerüchte über Ihren Freund und hübsche Schülerinnen geben wird?«
Vor Schreck ließ sie fast den Kaffeebecher fallen. »Was wollen Sie damit andeuten?«
»Ich habe von den umlaufenden Gerüchten gehört, Frau Dr. Bercelius.«
»Achim ist manchmal ein Idiot«, seufzte sie. »Ich bin mir ziemlich sicher, dass er keine erotischen oder sexuellen Absichten hegt. Aber kaum kommt eine Schülerin, die ihren Busen herausstreckt und um Hilfe bettelt, verliert er jede
Vorsicht. Statt die Tür zum Klassenzimmer wenigstens einen Spalt offen stehen zu lassen, schließt er sie und vor drei Jahren ist er an die Falsche geraten. Sie war mit ihrer Zeugniszensur nicht zufrieden und hat behauptet, Achim habe sich mit der Note nur gerächt, weil sie gedroht habe, seine handgreiflichen Annäherungsversuche zu melden. Zum Glück für Achim war sie als notorische Lügnerin bekannt und ist bald darauf wegen einer anderen Sache von der Schule geflogen.«
»Und so etwas trauen Sie Anna auch zu?«
»Ja, das tue ich.«
Kramer legte den Kopf schief. »Hängt das vielleicht damit zusammen, dass Anna Sie mit dem Apotheker überrascht hat?«
Manya lief knallrot an, und als sie das merkte, war es zu spät zu leugnen.
»In gewisser Weise schon«, gab sie zu. »Anna ist ein widerlich neugieriges Geschöpf. Und mit der Wahrheit hat sie so ihre Probleme.«
»Sie nicht?«
»Was soll das heißen?!«, brauste sie auf.
»Sie wissen ganz genau, dass sich Achim Warstedt einmal um Irene Laysen früher sagte man altmodisch: bemüht hat. Ohne Erfolg, aber das glauben Sie Ihrem Freund Achim sicherlich nicht.«
»Sie spinnen ja!«
»Nein, Und Sie wissen, dass ich die Wahrheit sage.«
»Ich glaube, ich gehe besser.«
»Das steht Ihnen natürlich frei, allerdings wäre es sehr hilfreich, wenn Sie mir vorher einige Fragen beantworten könnten. Wir wollen doch alle Anna finden, nicht wahr?«
Ihr Gesicht versprach Mord und Totschlag, doch das ließ Kramer kalt. Sie war freiwillig gekommen, um ihm einen oder mehrere gewaltige Bären aufzubinden, und durfte sich jetzt ruhig grün und blau ärgern, dass ihr das nicht gelungen war. Die Bürotür war nicht abgeschlossen, sie konnte jeder
zeit gehen. Aber wie Kramer Manya einschätzte, würde sie bleiben. Sie wollte unbedingt herausfinden, was er wusste, und das konnte ein gefährliches Spiel sein. Denn Fragen verrieten oft noch mehr als Antworten, was gerade sie als Lehrerin eigentlich wissen sollte.
»Können Sie sich noch erinnern, wann Sie Anna zum letzten Mal gesehen oder gesprochen haben?«
»Auf Tag und Stunde genau?«, höhnte Manya. »In der Woche, bevor sie verschwand, hatte ich Unterricht in Annas Klasse. Später nicht mehr.«
»Wie lange hat Ihre Beziehung zu Bernd Lankenow gedauert?«
»Null Komma null Tage, Herr Privatdetektiv. Sie hat gar nicht begonnen. Lankenow kann nämlich mit normalen Frauen nichts anfangen, der braucht ausgekochte Huren oder Dominas oder was immer sich auf diesem Feld tummelt. Ich kenne mich darin nicht so gut aus.«
»Was sagt denn Lankenows Frau dazu?«
»Christine Lankenow geht am Wochenende ebenfalls ihre eigenen Wege. Und was sie von den sexuellen Bedürfnissen ihres Mannes hält, weiß ich nicht. Da müssen Sie sie selbst fragen.«
»Werde ich tun. Kennen Sie Peter Dircks?«
»Sie meinen den PapierPeter mit dem Buch und Papierladen gegenüber Irenes Boutique?«
»Genau den.«
»Kennen ist zu viel gesagt. Ganz selten kaufe ich dort einmal ein, daher kenne ich ihn.«
»Und Corinna Babel? Sie hilft ab und zu bei Peter Dircks oder bei Irene Laysen aus.«
»Ja.« Sie schnitt eine unfreundliche Grimasse.
»Sie mögen Corinna nicht?«
»Nein, ich mag sie nicht, sie hat einen bestimmten Ruf.«
»Und was man ihr nachsagt, stimmt sogar, Frau Dr. Bercelius. Haben Sie Ihren Freund Achim Warstedt schon einmal mit Corinna Babel überrascht?«
»Nun ist aber gut, Herr Kramer!« Manya sprang auf und warf dabei ihren zum Glück leeren Kaffeebecher um.
Da also lag der Hund begraben. Kramer grinste hässlich und zog seine Computertastatur heran. •
Natürlich fertigte er auch von der Unterhaltung mit Manya Bercelius ein Gedächtnisprotokoll an. Der Drucker summte brav und spuckte eine Reihe von Blättern aus. Caro Heynen ging sofort ans Telefon und schien fast erfreut, ihn zu hören.
»Du solltest Hilfspolizist werden.«
»Dann sollten wir mal über die Höhe meines Honorars reden.«
»Also wird wohl nicht daraus.«
»Hat dein Faxgerät genug Papier geladen?«
»Sicher.«
»Dann schicke ich dir etwas.« Freund Posipil, Ahnenforscher und Computerfreak, hatte Kramer gezeigt, wie man direkt aus dem Computer heraus faxen konnte, aber weil Kramer für seine geliebten Papierakten ohnehin einen Ausdruck brauchte, verzichtete er auf diese Kunstfertigkeit. Solange deutsche Richter und Finanzämter auf Papierbelegen bestanden, war der elektronischen Kunst in Kramers Metier eine enge Grenze gezogen.
Caro rief wenig später zurück. »Sag mal, seit wann schießt man auf dich?«
»Das ist allerdings neu. In dieser Woche zum ersten Mal.«
»Du bist nicht getroffen?«
»Nein.«
»Wer hat geschossen?«
»Keine Ahnung. Es war schon dunkel auf dem Hinterhof.«
»Und warum er geschossen hat, weißt du auch nicht?«
»Nein. So weit ich mich erinnere, bin ich niemandem auf die Zehen getreten
»Hast du die Kugel gefunden?«
»Jein, sie steckt noch im Auto. In der Dämmung der linken hinteren Tür.«
»Dann komm doch mal bei der KTU vorbei und liefere sie ab. Nur für alle Fälle, ich sage Egon Bescheid. Er wird keine Fragen stellen, das verspreche ich dir.«
Das Büro gegenüber der Privatdetektei Rolf Kramer schien besetzt. Anielda Zukunftsfragen auf wissenschaftlicher Basis hatte im Moment keine Kunden, sonst würde ein rotes Schildchen Bitte nicht stören an der Klinke baumeln. Kramer klopfte kurz und stieß die Tür auf. Eine dicke Wolke von Rauch und anderer erstickender Geruch wallte ihm entgegen, in der Onyxschale verglommen die letzten Räucherstäbchen. Das Zimmer lag im Halbdunkel, nur auf dem Tisch brannte eine Kerze, deren Licht sich in einer großen Kristallkugel sammelte.
Anielda ächzte erleichtert, als sie Kramer sah. »Bitte Rolf, du darfst mir den Reißverschluss auf ziehen.«
»Mehr nicht?«
»Quatschkopf.«
Sie trug ein fußlanges, trapezförmiges Gebilde aus einem schwarzen, steifen, glänzenden Stoff, es erinnerte im Schnitt an ein verunglücktes Zelt. Kramer lachte. Auf dem Tisch lag die schwarze Lockenperücke, also hatte sie zuletzt einen Kunden oder eine Kundin gehabt, der respektive die Wert auf den üblichen Hokuspokus legte. In solchen Fällen stieg Anielda in dieses unförmige Etwas, setzte die schwarze Lockenperücke auf und starrte verzückt in ihre Kristallkugel; Kramer hatte angeboten, ihr eine ausgestopfte Krähe zu besorgen, die sie auf ihre Schulter montieren konnte, um den Eindruck der übersinnlichen Wahrsagung zu verbessern, aber damit war er nicht auf Gegenliebe gestoßen.
»Uff, endlich!« Das Zelt fiel zu Boden und Anielda griff nach Jeans und Shirt. In normaler Kleidung sah sie überhaupt nicht nach einer Hexe aus, im Gegenteil, sie war eine sehr anziehende Person mit einem richtigen Namen Ursula Kohlmann , an den sich Kramer in der Regel angestrengt erinnern musste. Die wissenschaftliche Basis ihrer Wahrsagerei bezog Anielda aus einem abgebrochenen Psychologiestudium. Die meisten Menschen, die bei ihr etwas über die Zukunft erfahren wollten, hatten in Wirklichkeit Probleme mit der Gegenwart, und weil Anielda gelernt hatte, genau zuzuhören und auch nur angedeutete Sätze zu verstehen, lief es meist darauf hinaus, dass fremde Menschen Anielda ihr Herz ausschütteten und von ihren Sorgen erzählten, weil sie sonst niemanden hatten, mit dem sie reden konnten oder dem sie vertrauen wollten. Und von solchen allein Stehenden gab es in einer Großstadt mehr, als sich der so genannte Normalbürger vorstellte. Seit Anielda den Rat ihres Büronachbarn und Freundes Rolf Kramer befolgte, sich vor solchen Sitzungen schriftlich bestätigen zu lassen, dass sie keine Garantie für ihre Prophezeiungen übernehme und das Honorar in das Belieben ihrer Kunden stelle, hatte der früher häufige Arger mit enttäuschten Kunden auf gehört. Wer kam, löhnte in der Regel reichlich, aber es kamen nie genug Mühselige und Beladene, um die notorische Ebbe in Anieldas Kasse zu beenden. Deswegen setzte Kramer sie gelegentlich bei seinen Aufträgen als Hilfskraft ein, zum Observieren und Verfolgen von Personen, die ihn schon kannten, oder auch was aber selten geschah zum Schauspielern, wenn es angebracht erschien, dass er mit „Ehefrau“ oder „Freundin“ auftrat. Außerdem besaß Anielda Schlüssel für Kramers Büro und Wohnung, in der sie auch manchmal übernachtete, durchaus nicht zu Kramers Vergnügen, weil sie ihn zwang, ihr sein Bett abzutreten und mit der unbequemen Couch im Wohnzimmer vorlieb zu nehmen. Sie hatten einmal versucht, miteinander zu schlafen, doch im allerletzten Moment hatte sie ihn in panischer Abwehr zurückgestoßen. Ihre Weigerung hatte sie nie erklärt, reagierte aber kratzbürstig, wenn Kramer die Wörter lesbisch oder frigide oder einsam benutzte. Sie wollte es eben nicht erklären. Nachdem er gelernt hatte, auf eine Begründung für den
verunglückten Nachmittag auf ihrer breiten Bürocouch zu verzichten, begann ihre Freundschaft. Erotisch herrschte zwischen ihnen seitdem absolute Funkstille, doch wenn Anielda in seiner Wohnung einmal im Bad lange Haare oder Lippenstiftspuren fand, reagierte sie mit einer gekränkten Eifersucht, die er nicht verstand.
»Na, was gibt’s?«, moserte Anielda ihn an.
»Ich wollte nur mal eine hübsche Frau in Unterwäsche sehen.«
»Altes Ekel.«
»Ist dein Auto ausnahmsweise in Ordnung und fahrtüchtig?«
»Es fehlt nur am Sprit.«
»Mit anderen Worten kein Auftrag ohne Vors chus s!«
»Du sagst es.«
»Aber sonst kein Hindernis?«
»Nein, schieß los.«
»Es geht um einen Apotheker namens Bernhard oder Bernd Lankenow. Er betreibt mit seiner Frau die Paracelsus-Apotheke in Werlebach. Angeblich ist er ein ausgewachsener Hurenbock, wobei meine Informantinnen vorgeben, nicht zu wissen, was er sexuell bevorzugt.«
»Ach, und das soll ich mal so eben herausfinden?«
»Schatz, ich würde dich doch nie in eine solche Situation bringen. Es reicht, wenn du ihm folgst und mir dann berichten kannst, wo er sich herumtreibt.«
»Das hört sich schon besser an. Wie lange muss ich an seiner Stoßstange kleben?«
»Bis du weißt, wo er hingeht, wenn ihn die Hormone zwicken ...«
»Na prima. Der Tag scheint gerettet.«
»Wie steht’s mit deinem Handy? Akku geladen, letzte Rechnung bezahlt?«
»Zum Abmarsch bereit!« Anielda stand stramm und salutierte. »Aber spätestens am Sonntagmorgen breche ich ab und wir fahren nach Dreschbach ins Thermalbad!«
Anielda würde sich lieber die Zunge abbeißen als zuzugeben, dass sie einsam war, ohne Freunde und Freundinnen, und die leeren Wochenenden in ihrer scheußlichen Altbauwohnung fürchtete. Also hatte Kramer angefangen, sie sonntags ins Thermalbad mitzunehmen, wenn es das Wetter erlaubte. Dort röstete sie stundenlang in der Sonne, weigerte sich, die Wörter Hautkrebs und Ozonloch in ihren Sprachschatz aufzunehmen, und belästigte ihn alle halbe Stunde mit der großen Cremeflasche oder -tube, ihr den Rücken einzureiben. Ihren dummen Spruch »Ein schöner Rücken kann auch entzücken« konnte Kramer mittlerweile nicht mehr hören, obwohl ihr Rücken in der Tat ansehnlich war, wie ihre ganze Figur. Ins Wasser ging sie freilich nicht so gerne und Kramer durfte seine Bahnen alleine ziehen. Zum Dank zwang sie ihn, sie zum Abendessen in ein Restaurant einzuladen, das sie sich sorgfältig aussuchte. Manchmal taugte sogar das Essen und war seinen Preis wert, manchmal verkündete sie ihm anschließend: »Rolf, ich habe noch Hunger.« Anielda hatte viel Ähnlichkeit mit dem Wetter. Man konnte darüber klagen, musste es aber hinnehmen und sich eben richtig anziehen.
Kramer hatte sich gerade verabschiedet, als Caro noch einmal anrief. »Ich lade dich zum Essen ein.«
»Nein! Was ist los? Befördert oder Gehaltserhöhung?«
»Weder noch. Erwarte nicht zu viel von unserer Kantine. Das ganze Haus stinkt schon nach dem freitäglichen Bratfisch.«
»Caro, ich liebe dich tief und innig und bringe fast jedes Opfer für dich, aber selbst meine unbegrenzte Zuneigung reicht nicht aus, deswegen mit dir freitags in der Präsidiumskantine Bratfisch zu essen.«
»Verstehe ich gut. Dann besuche mich einfach so. Ich muss dir etwas zeigen und das darf ich laut Vorschrift nicht aus dem Präsidium entfernen.«
»Bin schon unterwegs.«
Kriminalhauptmeister Jan Riedel hatte den Mut aufgebracht, sich in die Kantine zu begeben, und konnte deshalb nicht stören, als Caro Kramer eine uralte, verstaubte und zum Teil schon angegilbte Akte vorlegte. Sie wurde vom Dezernat Jugendkriminalität verwaltet und beschäftigte sich mit einer Bande von Jugendlichen, die vor sechzehn und siebzehn Jahren zahlreiche Straftaten verübt und gehöriges Aufsehen erregt hatten. Sie selbst hatte sich die Eber oder die KeilerBande genannt, nach dem Vornamen Eberhard ihres Chefs. Kramer blätterte weiter und hielt dann die Luft an. Eberhard Nachtwächter. Vor siebzehn Jahren tödlich verunglückt, als er auf seinem Motorrad mit mehr als Tempo achtzig gegen einen korrekt abgestellten und beleuchteten Lastwagen geprallt war. Der Keiler war ein polizeibekannter Raser gewesen, der zwei Tage nach seinem Tod vor einer Jugendstrafkammer erscheinen sollte: Einbruch, Diebstahl, Raub, Sachbeschädigung und schwere Körperverletzung. Ein nettes Früchtchen, dem so recht kein Mensch nachweinen wollte, nicht einmal die Eltern und die beiden Schwestern Christine und Franziska.
»Weiterlesen«, befahl Caro.
Eberhard Nachtwächter war nicht aus Ungeschicklichkeit oder mangelnder Fahrkunst gegen den Lastwagen gedonnert. Vielmehr hatte ihn Sekunden vor dem Aufprall eine Gewehrkugel links in den Hals getroffen, und darüber, ob sie ihn sofort getötet oder nur so weit gelähmt hatte, dass er den tödlichen Aufprall nicht mehr verhindern konnte, hatten sich die Mediziner in einem ausgedehnten Gutachterstreit auseinander gesetzt. Das Gewehr war nie gefunden worden, die Kugel hatte im Hals des Opfers gesteckt, der Schütze war nie identifiziert worden und das Motiv für den Anschlag lag immer noch völlig im Dunkeln.
»Das war doch ein Zufallstreffer?«
»Sicher. Einen Motorradfahrer, der mit Tempo achtzig oder mehr durch dein Schuss und Sichtfeld braust, trifft selbst ein Kunstschütze nicht gezielt in den Hals. Vielleicht
hat er den Körper des Fahrers oder das Motorrad treffen wollen, ein Mordversuch oder ein Totschlag.«
Alle Dezernate hätten am liebsten die Akte ... zum Nachteil von Nachtwächter, Eberhard geschlossen und in den Keller gebracht, woran sie nur die gesetzliche Bestimmung hinderte, dass Mord nicht verjährt. Und Mord war nicht auszuschließen.
»Hat damals in den Zeitungen gestanden, dass auf Nachtwächter geschossen worden ist?«
Caro nickte gespannt, natürlich erhoffte sie sich mittels ihres kostenlosen Hilfspolizisten Rolf Kramer, diese unerfreuliche Akte endlich abschließen oder an die Staatsanwaltschaft weiterreichen zu können.
»Nachtwächter hatte zur Zeit seines Todes eine Freundin. Ist die damals vernommen worden?«
»Eine Freundin? Davon habe ich nichts in der Akte gefunden. Woher weißt du das und wer war das?«
»Sie war minderjährig und ging auf die Berufsschule. Nach eigener Aussage erwartete sie ein Kind von Eberhard Nachtwächter, als der vor den Lastwagen rumste. Das Kind wurde auf den Namen Anna getauft und wird seit dem 29. Mai vermisst. Das weißt du doch genau, wahrscheinlich von dem allwissenden Dorfpolizisten Konrad Engel. Denn sonst hättest du mir diese Akte nicht gezeigt. Vielen Dank jedenfalls.« Caro nickte und schwieg, was selten vorkam und fast immer ein schlechtes Gewissen verriet. »Und auf die Essenseinladung komme ich ein andermal zurück, einverstanden?«
Dieser schnelle Abschied war Caro nicht recht, aber nach einem Blick auf Kramers grimmige Miene resignierte sie. »Okay, Rolf. Tut mir leid, ich hätte mit offenen Karten spielen sollen, aber Engel hat mich erst heute Vormittag angerufen.«
»Und mit welcher Begründung?«
»Er hoffe, dass ich ihm zuhören würde. Grem hat ihn nur grob angeschnauzt, er sei nicht an uralten Märchen interessiert, sondern müsse ein lebendes Mädchen finden.«
»Und der schöne Georg Zachmann hat ihn wahrscheinlich darin bestätigt: Bitte keine Flecken auf dem Bild des reinen Engels Anna oder der verzweifelten Mutter Irene.«
»So ist es.«
»Euer neuer Leiter der Pressestelle ist ein Weichspüler.«
»Wer behauptet das?«
»Mein Feund Holger Weissbart.«
Caro runzelte die Stirn, sie mochte Holger Weissbart nicht, weil der Caros Dezernat 111, die frühere Mordkommission, mehr als einmal journalistisch eingetunkt hatte.
Kramer drehte sich nochmal zu ihr um: »Aber eine Frage hätte ich doch noch an dich: Was ist aus der Keiler-Bande geworden?«
»Die hat sich nach Nachtwächters Tod aufgelöst. Zwei oder drei Mitglieder sind verurteilt worden, dann war Schluss.«
»Würdest du mir noch einen Gefallen tun?«
»Und welchen, mein Schatz?«
»Unauffällig herausfinden, ob der schöne Georg Zachmann mit Irene Laysen ein Techtelmechtel gehabt hat.«
»Bist du verrückt?«
»Nein. Ich will dir nicht verraten, wie ich darauf komme, aber Irene Laysen sucht verzweifelt jemanden, der sich um das Schicksal ihrer Tochter Anna ernsthaft kümmert. Sie zahlt dafür so ziemlich jeden Preis.«
»Da sollte sie den lieben Grem becircen.«
»Kannst du dir das im Ernst vorstellen?«
»Nein«, gab Caro zu und zwinkerte. »Den Versuch hätte Irene Laysen nicht unbeschadet überlebt. Aber bei dem schönen Georg ...«
»Denke ich auch. Tschüss, meine Liebe. Und trauere dem Bratfisch nicht nach.«
Caro tippte sich an die Stirn, aber ihre Miene war sehr nachdenklich geworden.
Kramer fuhr auf gut Glück zur Redaktion des Tageblatts. Freund Holger Weissbart saß noch am Computer und
schickte ihn unwirsch in das Archiv, ohne neugierige Fragen zu stellen. Im Archiv des Tageblatts kannte man Kramer, liebte ihn aber nicht unbedingt, weil sein Erscheinen immer zusätzliche Arbeit bedeutete. Darüber hinaus stellte seine Freundschaft mit dem saufenden und extrem frauenfeindlichen Knurrhahn Weissbart in dieser Abteilung, in der nur Frauen arbeiteten, alles andere als eine Empfehlung dar.
Die beiden siebzehn Jahre alten Halbjahresbände musste Kramer selbst aus dem Regal wuchten. Nachtwächters Unfall hatte in der Tat Schlagzeilen gemacht, erst recht nachdem die Polizei bekannt gegeben hatte, dass er höchstwahrscheinlich Opfer eines Mordanschlags geworden war. Es gab auch Bilder von Eberhard und trotz der miesen Druckqualität hatte sich etwas vom Wikingercharme des Draufgängers und blonden Riesen erhalten. Gut verständlich, dass sich ein vernachlässigtes und nach Zärtlichkeit sehnendes Mädchen wie Irene Laysen unsterblich in ihn verliebt hatte. Gut verständlich aber auch, dass sie ihrer Tochter Anna die ganze Geschichte des Vaters Eberhard nicht erzählt hatte, zumal in den Artikeln deutlich wurde, was Eberhard Nachtwächter noch alles auf dem Kerbholz hatte. Die Erregung über den mysteriösen Mordanschlag auf dem Parkplatz hinter dem Rackenhof hatte nicht lange vorgehalten. Denn parallel dazu beschäftigte die Kripo ein ungewöhnlicher Einbruch, der ebenfalls im Rackenhof verübt worden war. Ein Unbekannter hatte sehr fachmännisch spurlos, vielleicht mithilfe von Nachschlüsseln die Türen und Schutzgitter des Juweliergeschäfts Eisele geöffnet und den Laden plus Werkstatt komplett ausgeräumt. Der Schaden belief sich nach Angaben der Versicherung AVV auf mehrere hunderttausend Mark, vor siebzehn Jahren ein beträchtliches Vermögen. Kramer blätterte schnell weiter und überflog die Überschriften. Bis zum Ende des ersten Halbjahresbandes waren die Juwelen und Schmuckdiebe noch nicht gefasst, ihre Beute nicht wieder aufgetaucht und im Eifer des Überfliegens hätte Kramer im nächsten Band fast eine Schlagzeile im Lokalteil übersehen.
„KeilerBande“ vor Gericht Der Anführer der Bande war tot, aber jetzt ereilte die irdische Gerechtigkeit zwei Mitglieder seiner Bande. Peter D. und Klaus V. mussten sich wegen Raub, Diebstahl, Einbruch und Körperverletzung vor Gericht verantworten. Die meisten Straftaten hatten sie als Jugendliche und Heranwachsende verübt und würden deswegen, wie sich der Verfasser des Artikels offen ärgerte, nicht von der vollen Härte des Strafgesetzbuches getroffen werden. Stil und Argumentation kamen Kramer bekannt vor und richtig: Am Ende standen die bekannten kursiven Buchstaben H. W.
Kramer kopierte den Artikel und suchte Holger auf, der gerade abspeicherte. »Ich brauche dein Gedächtnis. Wer ist Peter D. aus der Keiler-Bande?«
»Moment!« Weissbart runzelte die Stirn. »Peter D. Das ist Peter Dircks, er wohnte damals in derselben Straße wie die Nachtwächters.«
»Prima! Und Klaus V.?«
»Klaus Voudrain.«
»Was ist aus den beiden Schwestern des Keilers geworden?«
»Mein Gott, Rolf, ich bin doch nicht das Einwohnermeldeamt. Eine soll Pharmazie studiert haben, daran erinnere ich mich noch schwach. Von der anderen weiß ich nichts. Was interessiert dich überhaupt an dem alten Fall?«
Sie näherten sich einer gefährlichen Klippe, denn wenn Kramer die Wahrheit verriet, würde Weissbart jedes Wort in einem ausführlichen Artikel verwenden. Weissbart kannte nämlich keine Freunde, er kannte nur Neuigkeiten und Informationen. Deshalb musste Kramer sehr vorsichtig lügen. »Die Versicherung möchte endlich wissen, wo der Schmuck abgeblieben ist.«
Weissbart grunzte abschätzig und Kramer stutzte. Er würde Victor gründlich beschimpfen müssen. Selbstverständlich wusste der Graue, dass die Firma Eisele beim^W versichert gewesen war.
»Es geht doch nichts über gute Freunde.«
Kramer verstand schon, warum Weissbart bei diesem Satz den Kopf schräg legte. »Du kriegst die Story«, versprach er hastig, »aber im Moment habe ich noch nichts.«
Als Kramer das Ruhlandhaus wieder betrat, begegnete ihm unten Margarete von Achenbach, die einen schweren, mit Geschirrtüchern abgedeckten Henkelkorb schleppte, den er ihr als Kavalier sofort abnahm.
Margarete von Achenbach, die die achtzig überschritten hatte, aber noch erstaunlich lebhaft und rüstig war, betrieb in dem Büro neben Kramers Privatdetektei ein Studio für Mode und Gesellschaft. Dort konnte man lernen, mit welchem Besteck man bei einer festlich gedeckten Tafel zu essen begann, welches Glas zu welchem Wein benutzt wurde, wie man eine Hummerzange ansetzte, wodurch sich ein Cocktailkleid von einem Abendkleid unterschied. Das adelige Fräulein hielt in der Regel Abstand zu den anderen Mietern des Flures. Posipil, der Ahnenforscher, hatte herausgefunden, dass sie aus dem früheren Oberschlesien stammte. Die riesigen Familiengüter waren auf Dauer verloren und das kleine Gut ihrer Mutter in Thüringen war nach dem Motto >Junkerland in Bauernhand< enteignet und heruntergewirtschaftet worden. Der Bräutigam war auf der Fahrt zum Standesamt tödlich verunglückt und alle ihre Brüder waren im Krieg gefallen oder später in Berlin bei Bombenangriffen ums Leben gekommen, der Vater wurde nach dem 20. Juli hingerichtet. »Sie hatte schon ihre Päckchen zu tragen«, wie Posipil formulierte, aber sie klagte nicht, und wenn man ihre Hilfe brauchte, stand sie selbstverständlich zur Verfügung. Schließlich hatte sie die Zuverlässigkeit mit Schöpflöffeln geschluckt. Anielda ging ihr aus dem Weg, Posipil benahm sich wie der gut erzogene junge Mann, den sie sehr schätzte, und Kramer nutzte sehr selten ihr schauspielerisches Talent, wenn es galt, eine von Gram gebeugte Greisin oder eine von gewissenlosen Schurken ruinierte und ins Elend gestoßene Witwe vorzuführen.
»Haben Sie Blei eingekauft?«, erkundigte Kramer sich auf halber Treppe.
Sie kicherte gutmütig. »Nur ein vierundzwanzigteiliges Essbesteck mit allen Vorlegegabeln und Schöpfern. Heute Abend gibt es die große Abschlussprüfung. Wie decke ich den Tisch für die Hochzeit meiner Tochter?«
»Ich würde einfach einen Service damit beauftragen.«
»Sie haben keine Tochter, ich merke es schon. Den Service bekommen Sie ohne Probleme, für Geld lässt sich heute fast alles kaufen, aber wer kontrolliert und korrigiert notfalls den Service, Herr Nachbar?«
»Bevor ich heirate, belege ich bestimmt einen Kursus bei Ihnen, verehrte Nachbarin.«
»Sie sollten mit dem Heiraten nicht mehr so lange warten, Herr Kramer. Je älter man wird, desto schwerer gewöhnt man sich an einen anderen Menschen.«
Weil sie dabei wie zufällig den Kopf zu Anieldas Zukunftsstudio drehte, erwiderte Kramer vorsichtshalber nichts und half schweigend, im Nebenbüro den großen Tisch auszuziehen und die riesige Tischdecke glatt aufzulegen.
Den Nachmittag nutzte Kramer, um im Mehrwert-Supermarkt in Syden seine Vorräte zu ergänzen. Die alte Fabrikationshalle war zu einem Geschäft umgebaut worden, in dem es alles gab, was der Mensch zu seiner Ernährung und äußerlichen Körperpflege brauchte. Er schob einen hoch beladenen Einkaufswagen zur Kasse und stellte sich geduldig in der Schlange an.
Die junge Frau hinter der Kasse arbeitete fix und geübt. Trotzdem ging es nur im Schneckentempo vorwärts. Als Kramer dann seine Sachen auf das Band packte, traute er seinen Augen nicht. Das war doch Eva Posipil, die musikalische Tochter des Ahnenforschers.
Auch sie erkannte ihn: »Hei, Rolf.«
»Eva! Was machst du denn hier?«
»Mein Stipendium ist ausgelaufen und auch Geigerinnen müssen ab und zu etwas essen.«
»Kolofonium soll recht nahrhaft sein. Du könntest deinem Vater auf die Pelle rücken.«
»Zwecklos. Er hat mir schon eine Menge Kies für die PleyelCD geschenkt und die läuft leider nicht.«
»Armes Kind.«
»Nix arm. Ich habe schon ein anderes Label gefunden, die wollen es nochmal mit mir versuchen. Pleyel und Ignaz Moscheies.«
»Toi, toi, toi. Kennst du eigentlich die Konzerte und Symphonien von Karl Ditters von Dittersdorf?«
»Nein. Aber danke für den Tipp.«
Kramer hatte sich, was Eva nicht wusste, über den Vater heimlich an der CD beteiligt, Posipil konnte eisern schweigen, wenn man ihn darum bat.
Posipil hatte sich schon um den Auftrag gekümmert, aber das Ergebnis war mager: »Eberhard Nachtwächter liegt auf dem Westfriedhof in Mingenbrück. Seine Schwester Christine hat einen Bernd Lankenow geheiratet, die beiden haben eine Apotheke in Werlebach gekauft. Die zweite Schwester Franziska ist total abgetaucht. Die Eltern sind nach dem Mord oder Totschlag an ihrem Sohn nach Hamburg verzogen, zu einem Bruder der Mutter respektive einem Schwager. Der heißt Rudolf Wagner und wohnt im Stadtteil Niendorf. Eberhard Nachtwächter war der Anführer einer Jugendbande, die sich die Keiler oder Eber-Bande nannte. Zwei Tage nach seinem Tod hätte er vor Gericht antreten müssen. Bist du an den anderen Mitgliedern der Keiler-Bande interessiert?«
»Jein, nur an einem Klaus Voudrain.«
»Kein Problem.«
»Ich habe heute im Sydener Supermarkt an der Kasse deine Tochter Eva getroffen.«
»Ach nee, hat sie doch mal Hunger bekommen? Von mir wollte sie kein Geld annehmen.«
»Du solltest dich ruhig mehr um sie kümmern. Mir gefällt, wie zäh sie sich durchbeißt.«
»Ich werd’s ihr ausrichten. Tschüss, Rolf.« Das Telefon knackte ausgesprochen rasch.
Nach dem Einräumen seiner Einkäufe setzte Kramer sich an seinen Laptop und verfasste wieder Berichte, die er auf Disketten abspeicherte, um sie morgen in sein Bürosystem zu übertragen. Posipil nannte diese Methode altertümlich, aber sie hatte den Vorteil, dass sie funktionierte und Kramer sie beherrschte was man vom E-Mailen mit Attachments nicht unbedingt sagen konnte. Da traten völlig unerklärliche Pannen und Textverluste auf und selbst Posipil resignierte gelegentlich, mit solchen Fehlern habe kein Programmierer je gerechnet. Überhaupt stand Kramer mit manchen Neuigkeiten der Elektronik auf Kriegsfuß. Er konnte zum Beispiel hervorragend Filme entwickeln und vergrößern. Aber mit seiner digitalen Kamera und dem Druck und Bearbeitungsprogramm auf seinem Computer kam er einfach nicht klar. Außerdem hasste er die Möglichkeit, Fotos so simpel zu verfälschen. Digitale Bilder überließ er entweder Freund Posipil, der sich über ihn und seine elektronische Begriffsstutzigkeit amüsierte, oder Anielda, die leider vor jedem Tastendruck immer genau wissen wollte, um wen es sich auf den Bildern handelte.
Als er mit der Tipperei fertig war, kochte Kramer vergnügt Paprika-Zwiebel-Gemüse mit Bratwürsten und viel Knoblauch. Der Karren stand in der Garage, also durfte er sich mehrere Weißweinschorlen leisten, die von Glas zu Glas stärker gerieten.
Gegen Mitternacht packte ihn die Unruhe. Anielda hatte sich immer noch nicht gemeldet.
Zum Glück nahm sie sofort ihr Handy auf.
»Ich mach mir langsam Sorgen, wo steckst du denn?«
»Vor dem Serail in der Glissmannstraße. Dein Freund Bernd Lankenow treibt es jetzt schon drei Stunden da drin.«
»Als Apotheker kommt er halt problemlos an Viagra. Drei Stunden in dem Schuppen würden einen normalen Mensehen ruinieren, potenzmäßig und finanziell. Ich würd sagen, mach Schluss. Wenn du dich beeilst, mache ich noch Essen für dich warm.«
»Fast zu viel der Güte. Bis gleich also.«
Anielda brauchte eine Stunde und kochte vor Wut, als sie in Kramers Wohnung stapfte. Es beeindruckte ihn nicht. So lernte sie am eigenen Leibe kennen, dass ihm das Honorar auch nicht nachgeworfen wurde. Ihr Magen knurrte hörbar und die beachtlichen Reste seines Essens verschwanden im Nu.
»Die Lankenows sind beide heute gegen achtzehn Uhr abgedampft. Sie in ihrem Wagen, er in seinem.«
»Um sie kümmern wir uns ein andermal.«
»Und nicht so bald. Mein Po ist platt gesessen, hat bestimmt die von dir so geschätzten Rundungen verloren, alle Nerven sind wie abgequetscht. Das muss erst einmal regenerieren. Wie hältst du das eigentlich aus?«
»Mit Mühe. Wohin ist Lankenow gefahren?«
»In eine alte Fabrik in Kumberg. An der Lesserstraße. Ein verfallener Ziegeleibau, würde ich denken, mitten im Wald an einem überwachsenen Eisenbahngleis.«
»Was hat er denn da gemacht?«
»Rolf, ich weiß es nicht. Ich habe mich nicht getraut, durch die Fenster zu linsen. Er hat von innen so was wie Jalousien heruntergelassen und bei Lampenlicht gearbeitet.«
»Gearbeitet?«
»Offenbar. Denn nach einer halben Stunde liefen irgendwo Ventilatoren an du, was die aus dem Bau nach draußen geblasen haben, hat gestunken wie aus der Hölle. Und aus dem Schornstein ist so ein kleines giftgelbes Wölkchen abgezogen. Lankenow hat vielleicht zwei Stunden in dem Bau gewerkelt, ist dann mit einer prall gefüllten Aktentasche herausgekommen und hat sehr sorgfältig die Fabrikhalle verschlossen. Ich habe die Vorhängeschlösser flüchtig im Vorbeifahren gesehen, mächtige Dinger, die kriegt man nicht mal so eben geknackt.«
»Wohin ist er danach gefahren?«
»In die Bismarckstraße 51. Geparkt hat er gegenüber, vor dieser kleinen Cosmas und Damian-Kapelle. Er hat unten an der Haustür nicht geklingelt, sondern Schlüssel benutzt. Keine Ahnung, was er dort getrieben hat. Vierzig Minuten später ist er wieder auf die Straße getreten, ohne Aktentasche. Und dann zu meinem großen Vergnügen nach Neuenburg abgedampft. In das Spielcasino auf der alten Burg. Weil ich mal auf den Topf musste und etwas trinken wollte, bin ich ihm nach einiger Zeit gefolgt. Ich hoffe, du übernimmst den Eintritt.«
»Den ja, aber nicht das, was du im Casino verspielt hast.«
»Geizkragen. Rolf, ich habe Lankenow lange Zeit beobachten können, zuerst beim Roulette und dann an einem Kartentisch. Der Mann ist süchtig, eindeutig spielsüchtig. Jede Wette. So viel verstehe ich von Suchtkranken nun schon. In einem Punkt unterscheidet er sich allerdings von anderen Süchtigen. Er hatte in einer Jackentasche eine gewisse Summe abgezählt parat, und als die ausgegeben war, ist er gegangen. Keine Schuldscheine, keine Betteleien, keine Schecks. Und dann vom Casino in das Serail.«
»Der Mann ist aktiv.«
»Und ich bin hundemüde. Also wie üblich: Ich kriege dein Bett und du schläfst auf der Couch.«
»Können wir nicht mal tauschen?«
»Nein, ich brauche meinen Schönheitsschlaf. Bei dir ist in der Hinsicht ohnehin Hopfen und Malz verloren.«
»Zu liebenswürdig.«
»Gern geschehen. Wie halten wir es mit dem Honorar? Bar auf die Kralle?«
»Nein, meine Süße. Gegen Rechnung. Ich muss zum Schluss mit Victor Seyboldt abrechnen.«
»Da freut sich doch nur das Finanzamt.«
Aber Kramer blieb hart. Wenn sie ihn schon auf die unbequeme Couch schickte, sollte sie das Honorar wenigstens in ihrer Steuererklärung angeben.
Anielda hatte, im Gegensatz zu ihm, so gut geschlafen, dass sie freiwillig Frühstück machte und sich ohne großes Lamento wegschicken ließ. Kramer schrieb auf, was sie gestern beobachtet hatte, und fuhr mit der Diskette zu seinem Büro, wo er die Dateien auf seinen Computer überspielte und dem früheren Bericht anfügte. Seyboldt war nicht in dem Versicherungspalast, was Kramer verwunderte; denn der graue, kinderlose Witwer floh am Wochenende oft aus seinem schönen, aber für einen allein Stehenden viel zu großen Haus zu seiner Arbeitsstelle.
Anwesend war dagegen schon der umtriebige Ahnenforscher. Er hatte Klaus Voudrain ausfindig gemacht. Wohnhaft in der Zerner Straße 14. Außerdem hatte Posipil seine Tochter Eva im Supermarkt besucht.
»Sag mal, Rolf, du verstehst doch was von klassischer Musik?«
»Ein wenig.«
»Dieser Ignaz Pleyel, taugt der wirklich was?«
»Erstens taugt er was, Harald, und zweitens wird er bei vernünftiger Vermarktung auch Käufer finden. Es gibt viele Leute, die aus der Klassik nicht nur Haydn, Mozart und Beethoven sammeln möchten, sondern auch andere Komponisten, die zur Zeit der drei Großen oder vorher und nachher nicht so erfolgreich komponiert haben.«
»Hast du dir die CD einmal angehört?«
»Natürlich. Deine Tochter ist eine fantastische Geigerin, das Orchester ist gut, das Konzert ist hochinteressant.«
»Trotzdem mir wäre lieber, sie würde sich um einen festen Job in einem Orchester bemühen.«
»Alle Väter wollen Sicherheit für ihre Töchter, besonders wenn sie selbst einen sicheren Beamtenposten hingeworfen haben und durch die Südsee gesegelt sind.«
Posipil zog seinen Kopf ein und machte die Tür sehr leise hinter sich zu.
Der Rackenhof lag im Nordwesten der Innenstadt, nicht weit vom Fluss. Rings um das älteste Einkaufszentrum Terborns gab es genügend kostenlose Parkplätze, was wahrscheinlich den wahren Charme dieses gut zwanzig Jahre alten Baus ausmachte. Früher war hier in einer großen Halle die Racke gesäubert, gesalzen und getrocknet oder geräuchert und abgepackt worden, ein anspruchsloser Flussfisch, der die Wasserverschmutzung im Zuge der Industrialisierung nicht überlebt hatte. Der selten gewordene Fisch galt heute als Delikatesse, die in ganz Oberleiningen und über die Landesgrenzen hinaus geschätzt wurde. Im 19. Jahrhundert bedingten sich die Dienstboten in ihren Arbeitsverträgen noch aus, dass sie nicht mehr als zweimal pro Woche Racken zum Essen bekamen. Das könnte sich jetzt kein Arbeitgeber mehr leisten.
Heute war der Rackenhof ein dreistöckiges Hallengebäude; im ersten und zweiten Stockwerk verliefen Galerien entlang eines Innenhofes. Am Haupteingang studierte Kramer aufmerksam das große Verzeichnis aller Geschäfte, fand aber keinen Juwelier Eisele. Deswegen marschierte er auf gut Glück los und betrat das erstbeste Schmuckgeschäft. Hinter der Theke stand eine ältere, grauhaarige Frau.
»Guten Tag, entschuldigen Sie bitte«, sagte Kramer höflich, »ich suche ein Juweliergeschäft Eisele und kann es nicht finden.«
Die Frau kämpfte mit dem Lachen: »Du meine Güte, wann sind Sie zum letzten Mal hier gewesen?«
»Vor ziemlich genau siebzehn Jahren«, sagte Kramer zögernd, aber die Antwort war wohl richtig; denn die Verkäuferin nickte zustimmend. »Das kommt hin. Damals hieß das Geschäft noch Eisele. Die Tochter und Erbin hat einen jungen Goldschmiedemeister geheiratet, der das Geschäft heute unter seinem Namen führt. Es heißt seit über zehn Jahren
Beelitz, Werner Beelitz. Auf der Galerie im ersten Stock an der Flussseite.«
»Vielen Dank für Ihre Hilfe«, verbeugte sich Kramer und drehte dann den Kopf weg, um seine Verblüffung zu verbergen.
Der Juwelier Beelitz belegte im ersten Stock eine beachtliche Fläche. Drei große Schaufenster und eine gesonderte Stahltür, die in die Werkstatt führte. Kramer war kein Schlösserfachmann, aber die Ladentür aus bruchsicherem, feuerfestem Glas war mit wenigstens drei unabhängigen Schlössern gesichert, dazu gab es augenscheinlich eine ferngesteuerte elektrische Innenverriegelungsanlage, hinter den Fenstern im Moment hochgerollte Stahljalousien. Vor der Eingangstür befand sich zudem ein versenkbares Scherengitter. Kramer griente. Wie so oft wurde der Brunnen erst gesichert, wenn das Kind hineingefallen war.
Neben dem Juweliergeschäft existierte ein Laden mit dem viel versprechenden Namen Ölix Alles für Ihre Reise. Koffer, Taschen, Rucksäcke, Decken, Mützen, Schirme, Necessaires, runde und viereckige Behälter aus allen Materialien für alle möglichen Zwecke, Karten, Atlanten, Globen, GPS-Systeme. Taschenlampen, Taschenmesser, Werkzeug, allein in den beiden Fenstern eine unglaubliche Auswahl. Und drinnen natürlich einiges mehr. In dem rechten Fenster turnte gerade eine junge, bewundernswert gelenkige Frau zwischen den Ausstellungsstücken umher und drapierte zwei Schaufensterpuppen neu. Der Mann mit Bart und Tropenhelm und seine ganz in Khaki gekleidete Begleiterin hatten sich gerade entschlossen, nicht mehr auf Kamelen durch die Sahara zu reiten, sondern mit Schlittenhunden den Südpol zu erreichen. Entsprechend wurde ihr Wüstenoutfit gegen Eis und Schneesachen ausgetauscht. Mitte September vielleicht etwas früh, dachte Kramer und amüsiertesich über die Dekorateurin, die seinen Blick zu spüren schien, hochschaute und ihm gekonnt ein Auge zukniff. Er winkte zurück und marschierte weiter.
Wie Kramer vermutet hatte, gab es einen Hinterausgang auf die Parkplätze und neben der Tür saß ein älterer Pförtner in einer Kabine, gähnte herzhaft und hatte gegen ein Schwätzchen nichts einzuwenden.
»Ich habe seit Ewigkeiten meine Kollegen aus der Berufsschule nicht mehr gesehen«, plauderte Kramer beiläufig, »jetzt komme ich wieder einmal nach Terborn und höre zu meinem Entsetzen, dass einer meiner Kumpels hier am Einkaufszentrum mit seinem Motorrad gegen einen Laster geprallt ist. Der Laster hat überlebt.«
»Dein Kumpel nicht?«
»Nein.«
»Stimmt, da hat’s mal so was gegeben. Ist aber lange her.«
»Jau, fast zwanzig Jahre.«
»Wie hieß denn dein Kumpel?«
»Wir haben ihn immer Keiler genannt.«
»Ach, die Geschichte.« Der Alte verzog das Gesicht. »Stimmt, das war direkt hier am Haus. Der Laster stand an der Rampe B. Das Motorrad ist drüben« er fuchtelte mit der Hand Richtung Fluss »um die Ecke gebogen und gegen den Laster geknallt, fuhr viel zu schnell, der Bursche.«
»Dafür war er berüchtigt.«
»Wenn abends die Parkplätze leer sind, gibt es immer noch Verrückte auf Motorrädern oder Mopeds, die hier Rennen fahren.« Der Alte gähnte wieder, das Thema interessierte ihn nicht wirklich.
»Vielen Dank«, sagte Kramer rasch und ging nach draußen.
Wenn der Lastwagen korrekt an der Rampe B abgestellt gewesen war, musste Nachtwächter auf die hintere Stoßstange geprallt sein, und das hieß: Wenn die Gewehrkugel von links in seinen Hals eingedrungen war, hatte sich der Schütze im Rackenhof aufgehalten. Er musste Caro bei Gelegenheit fragen, unter welchem Eintrittswinkel das Geschoss den auf seinem Motorrad sitzenden Nachtwächter getroffen hatte.
Nachdenklich lief Kramer in das Gebäude zurück, winkte dem Pförtner noch einmal zu und kaufte bei Alles für Ihre
Reise eine Akku-Taschenlampe und ein Ladegerät. Die Dekorateurin hatte ihre Arbeit abgeschlossen und stand an der Kasse neben ihm.
»Ist das Schaufenster so dunkel, dass Sie für mein Kunstwerk eine Taschenlampe brauchen?«, pflaumte sie ihn an. Sie hatte eine nette Stimme.
»Nein, aber der Schnee blendet.«
»Himmel hilf!«, blubberte sie aufgeregt. »Die Schneebrillen habe ich vergessen, danke.« Schnell drehte sie sich um und eilte zurück zu dem Schaufenster. Kramer lachte und steckte sorgfältig die Quittung ein. Sein Blick streifte dabei eine ganze Galerie von Frauenbildern, die hinter der Kasse an der Wand hing.
Er wartete an der Schaufenstertür, bis die junge Frau wieder herauskam. »Für meinen Tipp verlange ich Prozente«, meinte Kramer aufgeräumt und sie rümpfte die Nase. »Sie sehen eigentlich nicht so aus, als wollten Sie armen Studentinnen keinen Bissen trocken Brot gönnen.«
»Stimmt, ich bin dagegen, dass hübsche und fleißige Studentinnen trocken Brot kauen müssen.«
»Haben Sie zufällig Einfluss auf die BaföG Vergabe?«
»Nein, leider nicht, aber auf die Vergabe eines zweiten Frühstücks in einem Lokal, das Sie bestimmen. Ich heiße übrigens Rolf Kramer.«
»Nicole Reiter. Kennen Sie den Kaffeepott?«
»An der Nicolai-Kirche ?«
»Ja. Wenn Sie mich einladen wollen, würde ich gerne dorthin gehen.«
»Einverstanden.«
Die Ebbe in der Kasse erlaubte ihr gleichwohl, ein Handy zu besitzen, und Kramer notierte sich ihre Nummer.
»Und du?«
Eine Handynummer war die andere wert, und als sie fragte, womit er das nötige Kleingeld verdiene, um fremde Studentinnen zum Essen einzuladen, sagte er die Wahrheit. Sie lachte vergnügt. Einen Privatdetektiv hatte sie sich ganz anders vorgestellt, vor allem vermisste sie die intensive Whiskyfahne. Diese Reaktion kränkte Kramer nicht mehr.
Kramer leistete sich ein Omelette mit Schinkenspeck, Nicole entschied sich für eine Brioche und einen Salat aus exotischen Früchten. Das sah sehr verlockend aus, nur der Gemüsesaft, den die Studentin sich als Getränk bestellt hatte, roch Kramer zu penetrant nach Gesundheit. Nicole Reiter arbeitete seit zwei Semestern für Olix Alles für Ihre Reise, mal als Dekorateurin, mal als Aushilfsverkäuferin, mal im Lager und auch schon mal in der Buchhaltung. Die Bezahlung war eher bescheiden, denn der Laden lief nicht besonders prächtig, aber die Arbeit war erträglich und man konnte sie fast immer nach den Studienbedürfnissen einteilen. Das hatte sich herumgesprochen; wenn eine Studentin ausschied, weil sie Examen machte oder die Uni wechselte, standen immer schon zwei, drei Nachfolgerinnen bereit. Alles für Ihre Reise hatte schon Generationen von Studentinnen ein Zusatzeinkommen beschert. »Wenn du das nächste Mal Lampen kaufst, um deine Fälle zu erhellen, achte mal auf die Wand hinter der Kasse. Dort hängen Bilder aller, die in dem Laden je gearbeitet haben, das ist schon Tradition, zum Schluss eine Fotografie vor dieser Bildergalerie. Verrätst du mir, was ein Privatdetektiv in dem Geschäft sucht?«
»Nix sucht er, liebe Nicole. Ich bin an dem Juwelierladen nebenan interessiert. Bei euch bin ich deinetwegen stehen geblieben, weil du so hübsch in der Dekoration herumgeturnt bist.« Ein vernichtender Blick streifte Kramer, offenbar war es nicht mehr >in<, einer jungen Dame zu sagen, dass man sie hübsch fand.
»An Beelitz bist du interessiert?«
»Ja, da hat es vor siebzehn Jahren einen Einbruch gegeben. Die Versicherung will jetzt endlich reinen Tisch machen.«
Nicole Reiter lachte schadenfroh: »Der liebe Werner ist ein ganz schlimmer Finger.«
»Werner?«
»Beelitz heißt mit Vornamen Werner. Ein Schürzenjäger, wie er im Buche steht, voller Angst vor seiner Frau. Der gehört nämlich das Geschäft und die sieht nicht so aus, als würde sie sich einfach betrügen lassen.«
»Hat sich Beelitz auch an dich herangemacht?«
»Hat er, aber ohne Erfolg.«
»Das ist schön zu hören.«
»Und wie steht es mit dir? Hast du eine Freundin?«
»Wenn du damit jemanden meinst, mit dem ich häufiger ins Bett gehe, lautet die Anwort Nein.«
»Und was machen wir jetzt?«
»Ich muss leider ins Büro.«
»Das ist schade. Rufst du mich an?«
»Versprochen.«