Читать книгу Krimi Paket Mörderisches Lesefutter im August 2021: 16 Romane - A. F. Morland - Страница 13
6.
ОглавлениеCaro erwies Kramer die Ehre, noch persönlich bei ihm im Büro vorbeizuschauen: »Wie bist du überhaupt auf die Ziegelei und die Bismarckstraße gekommen?«
Auch das war schon im Computer vermerkt und Kramer druckte die Passage stolz aus. »Sind wir uns einig, dass sich Kollege Grembowski nicht mit Ruhm bekleckert hat?«
»Wir sind«, stimmte Caro Heynen etwas kläglich zu.
»Was hat Lankenow deiner Meinung nach mit der alten Ziegelei zu tun?«
»Entweder hat er dort synthetische Drogen gekocht, um seine Spielleidenschaft und seine Besuche im Serail zu finanzieren. Oder er hat Sondermüll konditioniert und anschließend in der Tongrube illegal entsorgt.«
»Was wir ihm nach dem Feuer kaum mehr werden beweisen können.«
»Deswegen hat es ja wohl auch gebrannt. Ich habe eine Aufnahme von den beiden Männern, die kürz vor dem Brand in der Ziegelei waren. An denen könntet ihr euch mal versuchen. Einer der beiden hat auf mich geschossen, als sie mich entdeckten. Eine Kugel dürfte noch in meiner Kofferraumhaube stecken.«
»Ob Anna ihrem Onkel Bernd auf die Schliche gekommen ist?«
»Kann ich mir nicht vorstellen. Erkundige dich doch mal bei ihren Lehrern oder ihrer Mutter, ob sie die Begriffe Giftmüll und synthetische Drogen überhaupt kapiert. Aber
vorher müsst ihr die ganze Schweinerei aus der Tongrube holen. Viel Spaß!«
»Du verstehst, warum du bei der Kripo im Allgemeinen nicht sonderlich beliebt bist.«
»Auch bei der Staatsanwaltschaft nicht?«
»An wen denkst du da speziell?«
»Ich finde diese Staatsanwältin Heike Saling ganz flott.«
»Das liegt doch nur daran, dass sie immer so superkurze Röcke trägt.«
»Das ist dir auch schon aufgefallen?«
»Mir weniger als meinem Hauptmeister Jan Riedel«, platzte Caro Heynen heraus.
»Eifersüchtig?«
Caro funkelte Kramer böse an. »Was soll denn diese blöde Frage?«
»Caro, ich verdiene mein Geld unter anderem damit, dass ich Menschen beobachte. Und dass es zwischen dir und Jan knirscht und knistert, weiß ich schon lange.«
Sie sah ihn fest an und schüttelte dann müde den Kopf. »Lass uns das Thema wechseln, ja?«
Kramer nickte. »Was ist damals eigentlich aus dem Einbruch in das Juweliergeschäft Eisele geworden? Habt ihr die ‘ Täter gefasst und die Beute gefunden?«
»Nein.«
»Dann ist der Mordfall Nachtwächter auch noch nicht geklärt?«
»Was hat der eine Fall mit dem anderen zu tun?«
»Beides ist, wenn sich das Tageblatt nicht geirrt hat, am selben Ort mit vierundzwanzig Stunden Abstand passiert.«
»Richtig. Aber wo gibt es einen Beweis dafür, dass der Einbruch und der Mord an dem Oberkeiler Zusammenhängen?«
»Was sagen denn die Mitglieder der früheren Keiler-Bande?«
»Die haben damals vehement geleugnet.«
»Gibt es den Kollegen noch, der die Ermittlungen wegen des Einbruchs geführt hat?«
»Ja, den gibt es noch. Aber der ist gar nicht gut auf dich zu sprechen, Rolf.«
»Pech. Und im Mordfall Eberhard Nachtwächter?«
»Das war Freund Jens Rogge.«
»Sehr schön. Wir haben uns so lange nicht mehr gesehen, dass mir jeder Vorwand recht ist.«
Dircks Laden hatte schon geschlossen, als Kramer endlich in Werlebach ankam. Er klingelte an der Haustür und der Offner schnarrte sofort. Dircks stand oben und schnitt eine Grimasse, als er Kramer erkannte. »Sie schon wieder.«
»Ja, ich hatte doch versprochen, dass wir uns noch einmal sehen würden.«
»So viel Wert lege ich, ehrlich gesagt, nicht darauf«, murrte Dircks, »und ganz bestimmt nicht am Wochenende.«
»Je offener und ehrlicher Sie reden, desto schneller sind Sie mich wieder los.«
»Was wollen Sie denn wissen?«
»Heute interessiert mich die Keiler-Bande.«
»Die bitte was?«
»Ich sagte doch, je mehr Theater Sie spielen, desto länger dauert es. Eberhard Nachtwächter, Peter Dircks und Klaus Voudrain. Die anderen Namen kenne ich noch nicht. Sie und Voudrain haben vor Gericht gestanden. Wie lautete denn das Urteil?«
Dircks kratzte sein Kinn. »Zwei Jahre für mich und vier für Klaus.«
»Weswegen?«
»Diebstahl, Raub, Körperverletzung und halt so das, was eine Jugendbande anrichtet, um schnell ah Geld zu kommen.«
»Was ist mit den anderen Bandenmitgliedern? Haben die nicht vor dem Kadi gestanden?«
»Nein, drei sind nach dem Tod Eberhards gründlich abgetaucht und einem ist nichts passiert vielleicht als Gegenleistung dafür, dass er bei der Kripo gesungen hat.«
»Könnte ich mit dem einmal reden?«
»Schlecht, er hat Maurer gelernt und ist von einem Gerüst gestürzt.«
»Aha! Blöder Name übrigens, Keiler-Bande.«
»Streichen Sie von Eberhard die letzte Silbe!«
»Warum ist Eberhard Nachtwächter erschossen worden?«
»Das weiß ich doch nicht.«
»Warum ausgerechnet am Rackenhoß«
»Auch das weiß ich nicht.«
»Hatte der Tod Nachtwächters etwas mit dem Einbruch bei Eisele, heute Beelitz, zu tun?«
»Wenn ich es wüsste, würde ich's Ihnen sagen. Schon, um endlich meine Ruhe zu haben. Sie sind nämlich nicht der Einzige, der nervt.«
»Wer belästigt Sie denn noch?«
»So ein idiotischer Versicherungsfritze vom AVV.«
Kramer beschloss, einen brutalen Mord an dem grauen Seyboldt zu verüben, der ihm wieder einmal das Wichtigste verheimlicht hatte. »Den kenne ich. Den knöpfe ich mir am Montag vor. Ein anderes Thema, Herr Dircks: Eberhard hatte zwei Schwestern?«
»Ja. Ältere Schwestern. Kein leichtes Leben für ihn.«
»Kennen Sie die?«
»Ja.«
»Haben Sie Irene Laysen schon gekannt, als sie noch mit Eberhard zusammen war?«
»Ja. Wie übrigens alle Mitglieder der Bande. Sie war ein bezauberndes Mädchen und bis über beide Ohren in den Eberhard verliebt, er hat sie uns voller Stolz vorgeführt.«
»Dann wusste Irene Laysen, dass ihre große Liebe Eberhard der Chef einer kriminellen Jugendbande war?«
»Natürlich wusste sie das. Es hat ihr nicht gefallen, das hat sie mehr als einmal offen ausgesprochen, aber für ihren Eberhard wäre sie barfuß zum Nordpol gewandert.«
»Wie standen Sie denn zu Irene?«
»Wie meinen Sie das?«
»Ich leide unter einer schmutzigen Fantasie, Herr Dircks.
Sie haben mir doch erzählt, dass Sie Corinna Babel in der Nacht vor Annas Verschwinden an die frische Luft gesetzt haben, weil Sie schon eine Frau zu Besuch in der Wohnung hatten. Nun geht mir die ganze Zeit die Frage durch den Kopf, ob diese Frau nicht Irene Laysen war. Schließlich sind Sie Nachbarn und kennen sich seit Jahren. Und Irene hatte sich an dem Abend gewaltig mit ihrem Freund Waldemar Denzel verzankt.«
Dircks atmete schwer. Am liebsten hätte er Kramer gewaltsam vor die Tür befördert, das war ihm anzusehen,
»Na, was meinen Sie, Herr Dircks?«
»Ja, und? Irene kommt manchmal zu mir. Bevor sie Denzel kennen lernte, sogar häufiger. Dann lange nicht, weil sie ihren Waldemar hatte. Vielleicht kommt sie jetzt wieder häufiger. Ist was dabei? Sie ist ein adoptiertes uneheliches Kind mit einer unehelichen Tochter. Ich bin vorbestraft. Im gutbürgerlichen Werlebach sind wir die Outcasts. Das schmiedet zusammen, kann ich Ihnen flüstern. Ja, an dem Abend habe ich einen kleinen Spaziergang gemacht und dabei Irene getroffen. Die war fix und fertig, wegen Anna und Waldemar. Wir sind eine halbe Stunde zusammen auf die Höhe spaziert und dann bei mir gelandet. Nicht zum ersten Mal übrigens, wie gesagt. Ist damit Ihre Neugier gestillt?«
»Nein. Wie halten Sie’s denn mit der Schwester Ihres früheren Bandenchefs?«
»Mit Christine Lankenow?«
Kramer nickte nur.
»Der gehe ich heute wie früher am liebsten weit aus dem Weg. Ihr ist das nur recht. Sie möchte nicht jeden Tag an ihren Bruder Eberhard und dessen kriminelle Aktivitäten erinnert werden. Die Werlebacher fangen inzwischen an, Eberhard und seine Schwestern zu vergessen. Darauf legt Christine großen Wert.«
»Warum haben Sie die Dame gemieden?«
»Das haben wir Jungs alle getan. Sie führte nämlich das Kommando in der Familie Nachtwächter. Auch Eberhard
verdrückte sich, wenn Christine auf tauchte. Vater Nachtwächter war ein Waschlappen, dem die Schulden über den Kopf wuchsen, und die Mutter kam vor lauter Jammern nie zum Arbeiten. Christine hat ihre Schwester und ihren Bruder Eberhard, wenn sie ihn greifen konnte, ans Arbeiten gebracht. Von der KeilerBande hielt sie gar nichts. Als die Eltern nach dem Tod Eberhards wegzogen, blieben die Schwestern zusammen. Nicht auf Dauer, aber zu Anfang.«
»Anna wollte am Samstagmittag ihre Schulfreundin Gunda Simrock in Fleissheim abholen. Kann ihr plötzlich etwas durch den Kopf geschossen sein, was ihr wichtiger war? Sodass sie nicht nach Fleissheim gefahren ist, sondern nach XY?«
»Möglich«, stimmte Dircks gelassen zu.
»Wer oder was oder wo ist dieses XY?«
»Herr Kramer, darüber haben Irene und ich uns stundenlang die Köpfe zerbrochen. Ich versichere Ihnen, wenn wir nur den Hauch einer Ahnung hätten, würde ich es Ihnen sagen. Und sei es auch nur, um Sie loszuwerden. Ich denke, eine Adresse können wir ausschließen. Das ist die dieses Onkels in Neustadt an der Eltz.«
»Den Gefallen zu verschwinden tue ich Ihnen gleich. Sie haben mir gesagt, Sie hätten Anna am 29. Mai, am Samstagmorgen, fortradeln sehen. Saß bei der Gelegenheit Irene Laysen neben Ihnen? Wenn sie die ganze Nacht bei Ihnen war, hat sie ihre Tochter am Samstagmorgen gar nicht mehr gesprochen?«
»Nein, das hat sie nicht. Es bedrückt sie heute sehr.«
»Okay. Aber wie war das? Anna wird doch spätestens am Morgen gemerkt haben, dass ihre Mutter nicht in der Wohnung war. Weiß Anna, dass ihre Mutter manchmal eine Nacht bei Ihnen verbringt?«
»Nein, das weiß sie nicht. Wir haben es ihr nie gesagt. Denn Anna kann nichts für sich behalten. Sie würde es völlig naiv in ganz Werlebach herumtratschen.«
»Was glaubt Anna denn, wo sich Irene auf hält, wenn sie um Mitternacht noch nicht in die Wohnung zurückgekommen ist?«
»Zum Schluss hat sie wohl angenommen, dass Irene mit Waldemar Denzel nach Rollesheim gefahren ist. Im Übrigen herrschte zwischen Irene und mir tatsächlich erotische Funkstille, seit sie Waldemar Denzel kennen gelernt hatte. Bis eben zu jenem Abend.«
»Hat Anna keine Angst alleine in der Wohnung?«
»Nein. Wenn es ihr wirklich einmal unheimlich wurde, bei Blitz und Donner und Sturm, ist sie nach nebenan zu den Lankenows gegangen.«
»Aber nicht an den Wochenenden?«
Dircks sah Kramer erstaunt an. »Wie meinen Sie das?«
»Da sind die beiden Lankenows doch in Sachen Sex unterwegs.«
»Das haben Sie auch schon herausgefunden?«
»Das war nicht schwer.«
»Deswegen vermeidet es Irene in der Regel, am Freitag oder Samstag zu mir zu kommen.«
»Am 28. Mai hat sie eine Ausnahme gemacht?«
»Ja«, stöhnte Dircks, »und daran bin wohl ich schuld.«
Kramer sah ihn erstaunt an.
»Ja, weil ich doch im Jux Anna gefragt hatte, ob sie nicht mit mir auf die Kirmes fahren wolle, sie könne jetzt meine Freundin werden, weil Corinna mich versetzt hatte. Anna hat das wohl in aller Harmlosigkeit drüben erzählt und Irene hat darüber gar nicht lachen können. Dann hat Waldi Denzel noch eine falsche Bemerkung gemacht und Irene vorgeworfen, dass sie Anna nie zu einem Psychiater geschickt habe. Irene ist explodiert, Denzel hatte die Schnauze voll und ist allein nach Rollesheim gefahren. Großes Drama und Irene musste etwas laufen, um sich wieder zu beruhigen, so haben wir uns getroffen.«
»Mit der Mutter schlafen und der Tochter, wenn auch nur im Spaß, eine Freundschaft anbieten, das finde ich nicht sehr geschmackvoll, Herr Dircks.«
Dircks hob beide Hände, als wollte er kapitulieren. »Bitte, Herr Kramer. Die Vorwürfe, die ich mir selbst seitdem mache, reichen mir vollkommen.«
»Ein Satz noch zu Christine Lankenow. Sie weiß, dass Sie früher zu der Bande ihres Bruders gehört haben?«
»Sicher hat sie das gewusst«, sagte Dircks erschöpft. »Aber Eberhard hat daheim natürlich nicht von den Aktivitäten der Bande erzählt. Wie weit die Mitglieder in einzelne Straftaten verwickelt waren, davon hatten die Schwestern Nachtwächter keine Ahnung.«
»Na schön, für heute sind wir fast fertig. Was können Sie mir über Bernhard Lankenow erzählen ... Nein, nein, das nutzt Ihnen gar nichts, hier in Werlebach kennt doch einer den Inhalt der Hosentaschen des anderen.«
»Bernhard gehe ich ebenfalls gern aus dem Weg. Ich halte ihn für leicht verrückt und total gewissenlos.«
»Auch so gewissenlos, dass er sich an Anna vergreifen würde?«
»Nein, Anna ist die große Ausnahme. Ich glaube, er liebt Anna. Sie geht ihm wohl gelegentlich schwer auf den Senkel, aber das geschieht bei eigenen Kindern ja auch ab und zu. Nein, Bernd können Sie von Ihrer Verdachtsliste streichen.«
»Ist Eberhard Nachtwächter wirklich der Vater von Anna?«
»Ich habe keine Ahnung. Irene hat es behauptet und wir Jungen haben damals nicht daran gezweifelt.«
»Sie waren damals auch in Irene Laysen verknallt?«
»War ich, aber das war verdammt einseitig. Sie hatte nur Augen für ihren Eberhard.«
»Dass Sie Christine Nachtwächter aus dem Weg gegangen sind, haben Sie ja schon erzählt. Wie stand es mit der anderen Schwester, dem hübschen Feger Franziska?«
Dircks musterte Kramer erstaunt. »Suchen Sie Material für einen Groschenroman zusammen?«
»Nein, ich bin nur schrecklich neugierig. Deswegen ist mir auch die unbekannte Anna so sympathisch.«
»Na ja, Franziska und Christine verstanden sich sehr
schlecht. Der Keiler mochte Schwester Franzi gut leiden und hat so eine Art Beschützerrolle gespielt. Als er merkte, dass ich mich für Franzi interessierte, wurde er ziemlich wütend. Und hat mich fürchterlich verprügelt. Franziska kam und fand mich noch auf dem Fußboden, verquollene Augen, viele grüne und blaue Flecken, blutige Nase, geplatzte Lippen. Sie hat mich verarztet, verbunden und mitgenommen. Ohne Spott: Es wurde eine unvergessliche Stunde. Aber sie war eben ein hübsches und treuloses Wesen, Ich hatte Mitleid mit Zuneigung verwechselt, ich habe sie gelangweilt und dann kam auch schon ein anderer, ein Kollege von der Kunstakademie. Na ja, Tempi passati. Auch diesen Kollegen hat sie noch vor den Semesterferien abserviert.«
Dircks seufzte so tief, dass Kramer ein Lachen nicht unterdrücken konnte.
»Okay, dann danke und trotz meiner Störung noch ein schönes Wochenende.«
Die Apotheke wollte gerade schließen und eine
rotblonde, große, sportliche Frau schüttelte den Kopf. »Nein, das passt mir ausgesprochen schlecht, Herr Kramer. Ich habe eine Verabredung, die ich nicht absagen möchte. Ich bin sowieso schon zu spät dran. Können Sie nicht am Montag noch einmal hereinschauen?«
Kramer musterte sie neugierig. Christine Lankenow war eine attraktive Frau, wenn man diesen leicht junonischen, ausgeprägt kurvenreichen und muskulösen Typ schätzte. Groß für eine Frau, aber auch in dem unkleidsamen weißen Kittel ausgesprochen anziehend, allerdings auch so, wie Dircks sie beschrieben hatte. Trotz ihrer harmlos großen blauen Augen führte sie wohl gern das Kommando. Sie hatte ein ausgeprägtes Kinn.
»Na gut«, willigte Kramer ein, »dann komme ich am Montag wieder, Frau Lankenow.«
»Fein, bis dann!« Sie drehte sich um und rief laut in das Geschäft hinein. »Ich verschwinde jetzt.«
Aus dem Hintergrund antwortete eine männliche Stimme: »Viel Vergnügen.«
Christine Lankenow lief nach hinten, ihr Auto stand auf dem Hof, Kramer hörte eine Tür klappen und trat dann schnell auf die Seite, als ein kleiner, gelber Flitzer auf ihn zuschoss. Er hatte gerade noch Zeit, sich das Kennzeichen zu merken. Und als er dann sah, dass sie sich in die Schlange vor der Fähre einordnete, lief er kurz entschlossen zu seinem Wagen, wendete mit quietschenden Reifen und schaffte es, sich drei Autos hinter ihr in die Warteschlange einzureihen. Die Fähre glitt in majestätischer Langsamkeit über den Fluss.
Er hatte Glück und durfte als Letzter, noch auf die Fähre rollen. Es war immer noch zu warm und das hieß, morgen führte kein Weg an Anielda und dem Thermalbad in Dreschbach vorbei. Der Fähren-Fahrpreis von ganzen zwei Euro tröstete ihn ein wenig über seine tristen Gedanken hinweg. Der Fährmann und sein Gehilfe kannten die meisten Fahrgäste, sie begrüßten sich wie gute alte Bekannte. Das Rad auf dem Seil hoch über dem Fluss quietschte markerschütternd. Schiffsverkehr auf diesem Teil des Flusses gab es kaum und die Segler und Paddler wichen der schwerfälligen Fähre aus. Mehr Schiffe waren erst im Hafen von Terborn anzutreffen und die blieben auf dem Seiten und dem Stichkanal bis zum so genannten Wasserkreuz des Seitenkanals mit dem viel befahrenen Eltz-Elbe-Kanal. Der mündete oberhalb von Magdeburg in die Elbe, sodass es eine direkte Wasserstraße von Terborn nach Berlin und Hamburg gab.
Lautes Hupen riss Kramer aus seiner Träumerei, die Fähre hatte angelegt und alle Autofahrer hatten es umgehend wieder eilig. Der gelbe Flitzer fuhr geradeaus, an der Einmündung jener Seitenstraße durch den Krimser Forst vorbei, die Anna mit ihrem Rad wohl benutzt hatte. Christine Lankenow legte ein beachtliches Tempo vor und nahm die Kurven, als müsse sie für ein Rennen trainieren. In Mingenbrück, westlich von Terborn und schon auf halber Strecke nach Neuenburg, schlängelte sie sich durch den Ort zur Autobahnauffahrt Terborn West durch und zeigte dann, was noch alles unter der Motorhaube des kleinen Gelben steckte. Kramer fluchte leise. Er raste nicht gern. Zum Glück dauerte es nicht lange, vor der Ausfahrt Beilhorner Berge ordnete Christine Lankenow sich sehr früh rechts ein und blinkte rechtzeitig. An ihrem, Ziel bestand danach kein Zweifel mehr: Sie wollte zum Stausee Bellhorner Berge.
Auf der Zufahrtsstraße zu dem Motel ließ sich Kramer vom Anblick der vielen Segelboote auf dem Wasser ablenken und verpasste deshalb, wo die Apothekerin abbog. Der gesamte Hang rechts war mit Ferienhäusern bebaut. Auf dem Stausee, der auch zur Trinkwasserversorgung Terborns diente, waren Motorboote verboten; in der Marina am Fuß des Hanges lagen mehrere Dutzend Segelboote und auf dem Wasser trainierten im Moment auch Ruderer in allen Bootsklassen. Kramer fuhr bis zum Parkplatz vor dem Freibad, opferte vier Euro Parkmindestgebühr, holte aus dem Kofferraum den Leinenbeutel mit dem kleinen Überwachungsbesteck einschließlich Kamera und lief das Stück zur Siedlung zurück. Jetzt half nur, alle Straßen abzuklappern und zu hoffen, dass der gelbe Flitzer nicht in einer Garage verschwunden war. Im oberen Teil war der Hang verflixt steil, Kramer geriet ins Schwitzen und fluchte gewaltig, eine, wie er wusste, gerechte und trotzdem elende Strafe für seine kurze Unaufmerksamkeit. Der schwache Wind, der immer über der Talsperre wehte, kühlte so gut wie gar nicht. In der obersten, parallel zum Kamm verlaufenden Straße fand er den Wagen. Er stand vor einem weißen, einstöckigen Ferienhaus. Aus dem großen Fenster konnte man auf das Wasser sehen, aber im Moment war eine feste Übergardine vorgezogen.
Kramer nahm die Kamera und knipste mehrmals Haus und Auto. Unwahrscheinlich, dass Christine Lankenow nur hierhin gefahren war, um zu schwimmen oder für ein paar Stunden ein Segelboot zu mieten. In dem Moment trat sie auch schon aus dem Haus. Kramer konnte sie gerade noch unbemerkt fotografieren. Sie trug eine Art bunten Morgenmantel, hatte Badeschlappen an den Füßen und tappte auf eine Treppe zu, die Kramer bisher übersehen hatte. Die Treppe, unterbrochen von kurzen, steilen Wegstrecken, führte nach unten bis an ein Törchen im Zaun des Freibades. Christine Lankenow bemerkte Kramer nicht, sondern lief schnell zum See hinunter. Er nutzte die Chance, ungesehen um das Haus herumzulaufen und nach einem Seiteneingang zu suchen. An der Haustürklingel stand auf dem Schildchen nur F. E. Einen Seiten oder Hintereingang gab es nicht, aber mehrere nur angelehnte Fenster. Auf der Rückseite war eine Veranda angelegt, auf der Stühle, ein Tisch und ein Sonnenschirm standen. Kramer wagte es nicht, durch eines der Fenster einzusteigen. Wenn Christine Lankenow hier mit einem Mann verabredet war, konnte der jeden Moment erscheinen und ihn drinnen überraschen. Neben der Verandatür befand sich ein Fenster, in das eine große Lüftungsklappe eingelassen war, die offen stand. Wenn er sich unter dieser Klappe auf den Boden setzte, musste er eigentlich verstehen können, was in dem Wohnraum gesprochen wurde. Kramer sah sich um. Keine Lampe, auch einen Bewegungsmelder konnte er nicht entdecken. Auf jeden Fall würde er es versuchen. Auf dem Weg zurück zur Straße merkte er sich die Büsche und Sträucher, mit denen er im Dunkeln besser nicht kollidierte.
Sein Entschluss, nicht einzubrechen, wurde umgehend honoriert: Er hatte gerade die Straße überquert, als ein Auto mit Terborner Kennzeichen vor dem Haus hielt. Ein großer, kräftiger, gut aussehender Mann, den Kramer nicht kannte, stieg aus und nahm eine große Reisetasche aus dem Kofferraum, ging auf das Haus zu und schloss auf. Kramer knipste das Auto mit dem hinteren Kennzeichen, den Mann am Kofferraum und vor der Haustür. Minuten später erschien der Mann wieder, auch er hatte sich umgezogen, trug einen dünnen Bademantel, Badelatschen und schwenkte ein Badetuch wie eine Siegesfahne, bevor er sich wieder ans Steuer setzte und den Wagen gut fünfzig Meter weiter in einen Hangeinschnitt neben andere Autos rangierte. Er pfiff laut und falsch vor sich hin, als er danach die Treppe zum See hinuntersprang. Kramer hatte ihn auch jetzt fotografiert, räumte die Kamera wieder in den Leinenbeutel und lief brav über die Straße zurück zu seinem eigenen Wagen, der sich unangenehm aufgeheizt hatte.
Bis zum Anbruch der Dunkelheit vertrieb sich Kramer die Zeit im Seecafe mit seiner Lieblingsbeschäftigung: Warten, aß einen KäseSchinkenToast mit gemischtem Salat und trank größere Mengen Kaffee. Sobald die Sonne unterging, wurde es merklich kühler und die letzte Stunde Warten fiel ihm schwer. Als einer der letzten Gäste brach er auf und lief zurück in die obere Straße bis zu dem weißen Ferienhaus. Jetzt brannte hinter der immer noch vorgezogenen Gardine Licht, Kramer tappte vorsichtig um das Haus herum und erreichte ohne Zwischenfälle die Rückfront, wartete einen Moment vor der Ecke und hörte das Stühlerücken auf der Veranda.
»Verflixt kühl«, sagte eine tiefe Männerstimme und eine Frau antwortete: »Mir ist auch kalt. Vor allem habe ich Durst.«
Kramer verhielt sich ruhig, bis er hörte, dass die Verandatür geschlossen wurde, in dem Raum brannte Licht, sodass er bei seinen letzten Schritten gut sehen konnte. Er hockte sich unter die immer noch geöffnete Fensterklappe und versuchte erst gar nicht, in das Zimmer hineinzuschauen. Im Haus liefen zwei Personen hin und her und brachten, wie Kramer vermutete, Flaschen und Gläser in den Wohnraum.
»Wie lange hast du Zeit?«, fragte der Mann.
»Ich muss erst am Montagmorgen wieder zum Dienst antreten.«
»Wie läuft die Apotheke eigentlich?«
»Ach, ich könnte klagen, aber ich muss ja nicht. Uns geht’s immer noch besser als vielen Kollegen in Terborn.
Aber wenn sich dieser Internet-Versandhandel richtig herumspricht, wird es hart.«
»Und jetzt verkaufen und mit dem Geld was Neues anfangen?«, wollte er wissen.
»Mit diesem unzuverlässigen Spieler und Nuttenfreak?«
»Und wenn ihr euch trennt?«
Sie seufzte: »Werner, das ist so ähnlich wie bei dir. Ich müsste Bernd auszahlen und anschließend zum Arbeitsamt rennen. Da sind genug stellenlose Apothekerinnen gemeldet. Und wie sieht es bei dir aus?«
»Unverändert. Ich bin nach wie vor Angestellter meiner Frau. Steuerlich ist das sehr schön, aber um Hans Eichels gierigen Klauen zu entgehen, zahle ich halt auch einen Preis.«
Das verstand Kramer gut. Werner? Dann konnte es sich bei dem Mann eigentlich nur um Werner Beelitz, den Juwelier, handeln.
»Was erzählst du eigentlich deiner Frau, wo du die Wochenenden verbringst?«
»Ich erzähle die halbe Wahrheit«, brummte Beelitz. »Ich fahre in das Wochenendhaus eines Freundes am Bellhorner See oder auch zu einem Freund am Velstersee und segle. Die Freunde kennt sie nicht. Ab und zu werfe ich eine Angel aus, aber die Fische beißen nicht. Oder ich bin zu ungeschickt.«
Gläser klingelten leise und dann fuhr er mit veränderter Stimme fort. »Ich habe im Tageblatt gelesen, dass man Annas Fahrrad gefunden hat. Gibt es was Neues von deiner kleinen Nachbarin?«
»Nein, bisher nicht. Allerdings stellt ein aufdringlicher Privatdetektiv in Werlebach dumme Fragen.«
»Ein Privatdetektiv? Nicht die Kripo?«
»Ich glaube, die hat keine neuen Anhaltspunkte. Dieser Detektiv wollte mich übrigens heute aufhalten, ich habe ihn auf Montag vertröstet.« Christine Lankenow quiekte überrascht: »Hast du es so eilig?«
»Ich habe Wochen auf dich verzichten müssen.«
Stille.
Kramer konnte sich gut vorstellen, was da drinnen geschah. Aber er riss sich zusammen und schielte nicht um die Ecke. Und wurde auch prompt für seine Standhaftigkeit belohnt.
»Kennst du Anna eigentlich auch?«, fragte sie.
»Schon als Wickelkind.«
»Wie das?«
»Der alte Laysen kam ab und zu bei mir im Rackenhof vorbei, ich sollte für ihn Schmuck und Uhren schätzen, die er irgendwo aufgekauft hatte. Bei seinen Entrümpelungsdiensten und Umzügen stieß er immer wieder auf wertvolle Sachen. Manchmal schob er dabei den Kinderwagen mit Anna. Die Boutique war ja damals noch ein regelrechter Trödelladen. Der Alte war übrigens weit geschäftstüchtiger, als dieser schreckliche Laden vermuten ließ. Manchmal kam er mit wirklich schönen Stücken zum Schätzen, drei oder vier Schmuckstücke habe ich ihm sogar abgekauft.«
»Weißt du, wer Annas Vater ist?«
»Nein. Wissen nicht. Aber Hubert hat mir mal im Vertrauen erzählt da konnte man Irenes Schwangerschaft schon deutlich sehen , sie habe sich mit einem Verbrecher aus der Nachbarschaft eingelassen.«
»Verbrecher? Was soll das heißen?«, Christines Stimme klang ausgesprochen scharf und unfreundlich, aber er schien nichts zu bemerken.
»Es hieß, dass er der Anführer einer Jugendbande war, die eine Menge auf dem Kerbholz hatte. Sein Vorname lautete Eberhard, der harte Eber, und deswegen nannten sie sich die KeilerBande.«
»Und was ist aus diesem Eberhard geworden?«
»Das ist eine merkwürdige Sache. Er ist einen Tag nach dem Einbruch bei mir erschossen worden.«
»Einbruch bei dir? Davon hast du nie etwas erzählt.«
»Nein? Weil ich es erstens auch am liebsten vergessen würde. Und zweitens ist das jetzt fast siebzehn Jahre her.
Unbekannte sind in das Geschäft und die Werkstatt eingestiegen und haben alles eingesackt, was sich fortschleppen ließ. Und einen Tag später ist dieser Eberhard am Rackenhof erschossen worden. Er fuhr ziemlich schnell auf seinem Motorrad hinten über den Hof, als ihn eine Kugel in den Hals traf, und deswegen ist er mit hoher Geschwindigkeit gegen einen abgestellten Laster geprallt. Exitus.«
»Was hat das mit dem Einbruch bei dir zu tun?«
»Das musst du die Kripo fragen. Aus Gründen, die ich nicht kenne, hielt sie die KeilerBande für die Einbrecher.«
»Deine Schmucksachen hat man nicht mehr gefunden?«
»Nein, aber ich war zum Glück hoch versichert, der Schaden ließ sich ertragen. Kennst du Anna gut?«
»Sicher, Irene und Anna wohnen ja direkt nebenan, Anna ist oft zu uns gekommen, bis wir ihr die Apotheke verbieten mussten. Sie ist schrecklich neugierig und hat ganz fröhlich Medikamente stibitzt, weißt du, sie hat es offen zugegeben, wenn man sie fragte. Diese schönen, bunten Pillen hatten es ihr angetan. Bernd und mir wurde es einfach zu gefährlich.«
»Kannst du dir vorstellen, wo sich Anna jetzt aufhält?«
»Nein. Ich habe nie begriffen, was dem Kind manchmal so durch den Kopf schießt. Irene hat es nicht leicht mit ihr.«
»Irene ist immer noch eine schöne Frau, findest du nicht auch?«
»He, he, mein Freund, neben dir sitzt nicht Irene, sondern eine sexy Schönheit namens Christine. Ich glaube, mein Busen kann jeden Vergleich mit Irenes Oberweite aushalten.«
»Nicht nur dein Busen, Chris.«
Sie kicherte und sagte dann: »Das Bett ist bequemer als dieses Sofa.«
»Worauf warten wir dann noch?«
Sie entfernten sich, eine Tür klappte und Kramer rappelte sich auf. Das lange Warten im Seecafe hatte sich gelohnt.
Die Sonne strahlte aus einem makellos blauen Himmel, kein Lüftchen wehte und das Thermometer kletterte auf den Dreißig-Grad-Strich zu. Badewetter. Anielda rief prompt an, als Kramer noch beim Frühstück saß und das verabscheute Frühstücksfernsehen angeschaltet hatte, um mehr über den Brand in der alten Ziegelei zu erfahren. Doch darüber wurde nichts gebracht Staub von gestern.
»Beeil dich, ich bin schon fertig.«
»Guten Morgen, so viel Zeit muss sein, liebe Anielda.«
»Ach was, keine unnötigen Verzögerungen.«
Ihre Laune schien prächtig zu sein und Kramer seufzte laut. Womit hatte er das verdient?
Immerhin stand sie tatsächlich schon vor ihrer Haustür und schwenkte ihre Stofftasche.
Auf der Wiese fanden sie noch einen geeigneten Platz, Kramer konnte im Schatten eines Baumes liegen und lesen und Anielda röstete daneben in der Sonne.
»Ich gehe ins Wasser. Kommst du mit?«
»Ich denke, ich soll mich nach der Schwarzhaarigen Umsehen.«
»Du bist nur faul und wasserscheu.«
»Kann schon sein.«
Als er in aller Ruhe seine tausend Meter absolviert hatte und zu seiner Decke zurückkehrte, lag neben Anielda ein junges Mädchen mit auffällig langen, glatten, schwarzen Haaren. Anielda flüsterte ihr etwas zu und die Schwarzhaarige sprang auf, als Kramer näher kam. Er war überrascht, entweder war sie Italienerin oder Griechin oder zumindest ein Elternteil stammte aus einem Mittelmeerland, aber sie sprach so fließend und akzentfrei Deutsch, dass sie hier auf gewachsen sein musste.
»Angelica Toselli, guten Tag.« Dann bemerkte sie seinen
Gesichtsausdruck und fügte rasch hinzu: »Wenn Sie jetzt etwas von Serenaden murmeln, gehe ich sofort wieder.«
»Vor Gericht sagt man in solchen Fällen: Weder verwandt noch verschwägert.«
»So ist es.«
Gunda Simrock war noch ein Mädchen, Anna — nach den Fotos zu schließen auf dem Weg zu einer Frau und Angelica Toselli war eindeutig erwachsen. Anielda grinste nach einem Blick auf Kramers Gesicht, sie ahnte, welche Vergleiche er anstellte.
»Erzählen Sie mir bitte etwas von Anna«, bat er die junge Frau, »Ganz gleich, was. Stellen Sie sich vor, dass ich einen Menschen kennen lernen muss, dem ich nie begegnet bin.«
»Das ist nicht leicht«, seufzte sie. »Aber selbst wenn Sie Anna begegneten, würde es nicht leichter. Sie kennen doch die Redensart, dass manche Menschen viel reden, um nichts zu sagen.«
Kramer nickte nur.
»So in der Art tickt Anna. Sie erzählt einem viele Dinge, aber wenn man später darüber nachdenkt, was sie denn nun gesagt hat, wird man ganz unsicher. Sie redet zum Beispiel oft von ihrer Mutter, aber ich weiß bis heute nicht, ob Anna ihre Mutter liebt oder hasst.«
»Na, na, hassen ist wohl etwas stark«, meinte Kramer.
»O nein, Anna kann oder will der Mutter nicht verzeihen, dass sie Anna keinen Vater hat.«
»Aber der Vater ist doch vor Annas Geburt tödlich verunglückt, dafür kann sie doch Irene nicht verantwortlich machen.«
»Natürlich nicht. Das ist die rationale Antwort. Anna ist aber durch und durch irrational. Sie hält nicht viel von der Realität und üblicher Logik. Wahrscheinlich ist das auch der Kern ihrer Probleme in der Schule. Sie träumt sich lieber eine heile, schöne Welt zusammen und hofft auf den Märchenprinzen, der eines Tages kommt. Und manchmal kann sie einen Wunschtraum nicht mehr bremsen, der wird dann mächtiger als das, was sie von ihrer Umgebung wahrnimmt. Von diesem Umschalten hat man Ihnen doch sicher schon erzählt?«
»Hat man.« Kramer war verblüfft über Angelicas Beobachtungs und Interpretationsfähigkeit.
»Das sind die Momente, in denen der Traum stärker wird, Anna quasi überwältigt und die Realität und die Gegenwart verdrängt.« Sie sagte es so selbstsicher und ohne Zweifel, dass sogar Anielda sie erstaunt musterte. »Manche Lehrer haben Mitleid mit ihr, weil sie Opfer dieser Träume wird, andere meinen, sie solle gefälligst die Träume unterdrücken.«
»Achim Warstedt und Manya Bercelius?«
»Zum Beispiel. Er hat Mitleid und sie hasst Anna regelrecht, weil sie fürchtet, Anna habe es darauf abgesehen, ihr den geliebten Achim wegzunehmen und sie aus einem komfortablen Bett zu verdrängen, in das sich Manya zielstrebig hineingelegt hat.«
»Und?«, mischte sich Anielda ein. »Will Anna das?«
»Nein«, urteilte Angelica entschieden. »Denn das wäre ja mit Sex verbunden und der Preis ist Anna noch zu hoch.«
»Wie kommen Sie zu diesen Urteilen?«, wollte Kramer wissen. »Sie drücken sich wie ein gelernter Psychologe aus.«
»Wenn schon, wie eine Psychologin«, verbesserte die Schwarzhaarige etwas spöttisch. »Meine ältere Schwester hat eine Psychiatriepraxis und ist Anna manchmal hier im Bad begegnet.«
»Man kann also sagen, dass Anna auf der Suche nach ihrem Vater ist?«
»Der aber ihren Vorstellungen von einem Märchenprinzen entsprechen muss. Deswegen wehrt sie sich ja anzuerkennen, dass ihr Vater auf dem Westfriedhof liegt.«
»Hat sie von dem Besuch am Grab erzählt?«
»Und wie. Eberhard Nachtwächter. Wir in der Klasse kennen jede Einzelheit. Das ist respektive darf nicht ihr Vater sein. Punktum!«
»Hat sie denn mal eine andere Vermutung geäußert?«
»Nein. Aber dass Anna behauptet, dieser Nachtwächter sei nicht ihr Vater, heißt nicht unbedingt, dass sie davon überzeugt ist, es gebe einen anderen konkreten Erzeuger. Nachtwächter entspricht nur nicht ihrem Traumbild vom Vater.«
»Lügt Anna?«
»Eine schwierige Frage. Wenn Sie “lügen“ definieren als „bewusst und gezielt zum eigenen Vorteil die Unwahrheit sagen“ , dann lügt sie nicht. Anna glaubt, was sie Ihnen gerade erzählt.«
»Ist sie zuverlässig?«
»Nein, ganz abgesehen von dem Umschalten sie läuft los und hat nach drei Schritten vergessen, was sie eigentlich wollte.«
Anielda hatte aufmerksam zugehört und hob jetzt eine Hand. »Eine Frage zu Annas Kleidung. Bevorzugt sie auffällige und sagen wir mal figurbetonende Sachen?«
»Nein. Eher kleine, graue, schüchterne Maus. Aber das kann auch der Einfluss ihrer Mutter sein.«
»Liebt sie körperliche Kontakte oder geht sie dem eher aus dem Weg?«
»Keine Kontakte. In der Schule hätte man sie gerne in der Frauen-Basketballmannschaft gehabt, weil sie recht groß ist und sehr hoch springen kann. Aber sie hat Angst vor dem Gerempel. Sie mag auch nicht, wenn eine Freundin sie umarmen will. Und wenn im Sportclub ein Junge sie anfasst, wird sie zur Furie.«
»Wenn sie wegläuft ...?«
»Schnell und ausdauernd.«
»Ist sie beliebt in ihrer Klasse?«
»Nur in Grenzen. Sie ist halt kompliziert und die anderen wissen nicht so recht, wie sie Anna behandeln sollen. Außerdem kann sie sehr stimmungstötend sein, wenn man sich in großer Runde unterhält.«
»Ich erinnere mich an einen Schweizer Beitrag in 3Sat über Epilepsie, da wurde ein junges Mädchen mit ganz ähn
liehen Problemen gezeigt. Vor allem konnte man in einer Sequenz deutlich dieses Umschalten erkennen und mitverfolgen.«
Kramer hatte eher laut nachgedacht als jemanden direkt angesprochen, doch Anielda fühlte sich getroffen und fauchte los: »Erstens bin ich keine Neurologin und zweitens habe ich an der Uni den Kurs „Freihändige Ferndiagnose“ immer geschwänzt.«
Das Gespräch begann sie zu langweilen.
Angelica sprang auf. »Jetzt will ich die schöne Sonne nutzen. Bin gleich zurück.«
Eine Minute später erschien sie wieder und hatte eine Cremeflasche in der Hand, sah sich suchend um und hielt sie dann Anielda hin. »Ob Sie bitte ...?«
Anielda schnitt eine Grimasse und noch eine, als sie Kramers erheitertes Gesicht sah. Anscheinend war sie genau wie sonst Kramer alles andere als entzückt über ein solches Anliegen. Doch vor Angelica verkniff sie sich jede Bemerkung, sondern schmierte wortlos und gründlich. Natürlich griff sie anschließend nach ihrer eigenen Tube und drehte Kramer ihren Rücken zu. »Bitte, Rolf!« Das »Bitte« war neu in ihrem Repertoire und wohl eher wegen der Schwarzhaarigen ausgesprochen; er seufzte und tat seine Pflicht.
Am Nachmittag traf Kramer Angelica wieder, auch sie zog langsam und gleichmäßig zwanzig Bahnen und fragte zwischendurch spöttisch: »Kann Anielda eigentlich nicht schwimmen?«
»Doch. Aber sie scheut nutzlose Anstrengungen.«
»Na dann, viel Vergnügen.«
»Vielen Dank nochmal für Ihre Hilfe.«
»Gern geschehen. Bin mal gespannt, ob Sie aus Anna schlau werden.«
»Für mich wäre es wichtiger, sie zu finden.«
»Ich glaube, das eine ist ohne das andere nicht möglich.«
An der Bemerkung kaute er noch lange herum. Angelica war intelligent und für ihr Alter sehr weit. Sie wusste mit Sicherheit mehr über Anna, als sie ihm und Anielda anvertraut hatte.
An diesem Abend durfte Kramer das Restaurant aussuchen. Anielda rümpfte zwar die Nase, als sie die altdeutsche Einrichtung sah, wurde aber wieder umgänglich, als sie die umfangreiche Speisekarte studierte. Er überredete sie mit viel Mühe zu einem Tischwein des Hauses; der Wirt des Grünen Baums war gelernter Winzer und kelterte einen für diese Region hervorragenden Silvaner.
Anielda bekam schnell glänzende Augen und Kramer hielt sie nach der Futterorgie fest, um ihr alle Details und Eigenarten Annas zu erzählen, die man ihm bisher berichtet hatte. Anielda hörte zwar aufmerksam zu, schüttelte aber zum Schluss den Kopf: »Wenn du jetzt eine Art Diagnose erwartest, muss ich dich enttäuschen. Sie hat einen Sparren locker, ja, aber welchen genau und warum, das ist auch mir ein Rätsel. Wenn ich raten soll, dann hat sie an dem Vormittag, an dem sie in diesem Haus Malle putzte, etwas Neues erfahren, was sie gegen Mittag veranlasst hat, ihre Freundin Gunda sitzen zu lassen und jemand anderen zu besuchen.«
»Der oder die sie umgebracht hat.«
»Vorsicht, Rolf, wir wissen nicht, ob Anna dort überhaupt angekommen ist.«
»Vielleicht sollte ich einmal mit dem Paar sprechen, das in Haus Malle gewohnt hat.«
Anielda nickte. Als sie aufbrachen, quengelte sie ausnahmsweise nicht, sie habe noch Hunger.