Читать книгу Krimi Paket Mörderisches Lesefutter im August 2021: 16 Romane - A. F. Morland - Страница 16
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ОглавлениеDie Rückfahrt wurde langweilig, Kramer hatte schlecht geschlafen, wie immer die erste Nacht in einem fremden Bett, war sehr früh auf gestanden, sodass sie sehr zeitig losfuhren. Sie kamen sehr viel flotter voran als auf der Herfahrt und Anielda döste vor sich hin. Kramer studierte auf dem letzten Parkplatz vor Terborn den Stadtplan und entschloss sich, in Terborn Ost abzufahren; bis zur Zerner Straße war es von da aus vielleicht noch einen Kilometer.
Das Haus Nummer 14 war ein dreistöckiger Ziegelbau mit einem großen Hinterhof, auf dem mehrere Kastentransporter standen. Die Eilzustellung Klaus Voudrain hatte im Moment anscheinend wenig zu tun. Als Kramer im Büro vorn nach dem Eigentümer fragte, wurde er hoffnungsfroh nach hinten in das Chefbüro geleitet. Aus dem Schreibtischsessel erhob sich ein stämmiger Mann mit einer weit vorangeschrittenen Stirnglatze, einem feisten Stiernacken und einem breiten, brutalen Kinn unter einem fleischigen Gesicht. Kramer mochte ihn auf Anhieb nicht leiden und Voudrain ging es mit ihm offenbar nicht anders. Nein, er habe weder Zeit noch Lust, sich über alte Schulzeiten zu unterhalten und über die Keiler-Bande erst recht nicht. Ja, Irene Laysen habe er gekannt, weil sie die Freundin von Eberhard Nachtwächter gewesen sei. Wo sie heute stecke, wisse er nicht und es interessiere ihn auch nicht die Bohne. Peter Dircks? Ja, der habe wohl auch zu der Bande gehört, aber den habe er seit Jahren nicht mehr getroffen.
»Zuletzt auf der Anklagebank im Landgericht«, rutschte es Kramer heraus.
»Na, und?«, seitdem eben null Kontakte. Wenn das alles wäre da sei die Tür, er habe zu tun. Der Schreibtisch war gähnend leer und einigermaßen staubig, aber Voudrain wollte trotzdem nicht helfen. Und weil der Mann so aussah, als habe er mehr als einmal eine Schlägerei gewonnen, stand Kramer widerspruchslos auf. Bevor er die Tür erreicht hatte, schnarrte ein Telefon.
Voudrain hob ab und sagte: »Ja, gut, ich übernehme.« Dann fuhr er in fließendem Französisch fort: »Hier ist Voudou. Ja, was ist los?« Nach einer Pause zornig: »Verdammt, ich habe euch doch gesagt, er ist weder für Steine noch für Wertsachen zuständig. Er macht Transporte und sonst gar nichts, verstanden?« Kramer war zügig nach draußen gegangen und hatte nur noch mitbekommen, dass Voudrain vor dem Begriff objects de valeur eine winzige Pause eingelegt hatte.
Im Vorzimmer saß eine sexysüße Blondine, die Kramer verächtlich musterte. Vielleicht bestand ja zwischen ihr und ihrem Chef eine telepathische Verbindung.
Bevor er ins Auto stieg, umkreiste Kramer einmal das Gebäude und fand auf der Hofseite an einer in den Keller führenden Treppe eine Tür mit einem Schloss, das selbst er mit seinen bescheidenen Einbruchskünsten knacken konnte vorausgesetzt, es gab nachts keinen Wachhund und keine scharfe Alarmanlage. Vor den Garagen parkten weitere Kastentransporter, alle mit den beiden schwarz ausgemalten Großbuchstaben KV in altdeutscher Fraktur auf den Türen und Seiten.
Achim Warstedt nahm den Telefonhörer sofort ab. Ja, er sei zu Hause und Manya müsse jeden Moment vom Einkäufen zurückkommen. Er versprach sehr verwundert, ihr nichts von Kramers Anruf zu verraten.
Anielda hatte erstaunt zugehört und schüttelte den Kopf: »Was ist los mit dir? Großer Showdown?«
Kramer setzte sie ohne Erklärung vor dem Ruhlandhaus ab.
Manya Bercelius fletschte die Zähne, als sei sie zu den Kannibalen übergetreten, als Kramer sie anfuhr: »Warum haben Sie mich belogen? Sie haben am Samstagvormittag ja, am 29. Mai noch mit Anna telefoniert und haben Anna angelogen, Ihr Freund sei nicht zu Hause. Blasen Sie sich nicht auf, ich habe Zeugen für meine Behauptung. Die Kripo wird sich freuen, endlich jemanden bei einem Widerspruch zu ertappen. Besonders eine, die Anna nicht leiden konnte.«
Manya verfärbte sich zuerst blutrot, dann wurde sie weiß, sie wagte nicht, Warstedt anzusehen.
»Nun?«
Ja. Anna hatte angerufen und gebeten, Achim sprechen zu können. Nein, kein Wort darüber, warum, aber so, wie sie Anna kannte, ging es sicher wieder um diese blöde Vatergeschichte.
»Genau so«, bölkte Kramer sie an, »sie hatte tags zuvor erfahren, wer tatsächlich ihr Vater war, und wenn Sie nicht in Ihrer überheblichen Selbstherrlichkeit und Eifersucht gelogen hätten, wüssten wir jetzt, zu wem Anna radeln wollte. Gut haben Sie das gemacht, Frau Dr. Bercelius. Ist Ihnen bekannt, dass Unterhaltsforderungen nicht verjähren? Wenn der Erzeuger das nun wusste und sich herzlich wenig freute, als plötzlich seine Tochter bei ihm auftauchte und ihm klar wurde, dass er zig tausende nachzulöhnen hatte?«
Kramer schmiss die Türen hinter sich zu und fuhr nach Werlebach. Kurz vor der Boutique lief ihm Oberkommissar Konrad Engel über den Weg, Kramer hielt an und erkundigte sich nach Klaus Voudrain.
»Ja, der gehörte auch zu der Bande«, bestätigte Engel, »ein unangenehmer, gewalttätiger Bursche.«
»Warum hat er eine so viel längere Haftstrafe als Dircks bekommen?«
Er hatte, so stellte sich vor Gericht heraus, auch einige Brüche auf eigene Faust verübt und war als Hehler für andere Diebe und Einbrecher tätig gewesen.
»In dem Alter? Er muss doch gerade erst zwanzig gewesen sein?«
»Stimmt. Aber schon Vater Voudrain hat in Frankreich viele Jahre wegen Hehlerei und Betrug, gemeinschaftlich begangen mit einem Halbbruder, in Clermont Ferrand gesessen und Voudou ist sozusagen in die Fußstapfen von Vater und Onkel getreten. Angeblich gibt es immer noch >geschäftliche< Kontakte zu seinem Onkel Henri.«
»Wissen Sie zufällig, was Voudou gelernt hat?«
Engel schnaufte schwer. »Grafiker. Genau die Fähigkeit, die man in so einer Familie noch brauchte.«
Irene hatte alle Hände voll zu tun, als er die Boutique betrat. Deshalb sagte er: »Es eilt nicht, ich komme später wieder.«
Bei Peter Dircks herrschte weniger Betrieb. Der Schreibwarenhändler stand neben der Kasse und hielt den Telefonhörer in der Hand. Er wollte sich eben nach dem eintretenden Kramer umdrehen, als Corinna laut sagte: »Ich komme sofort.« Deshalb schaute Dircks weiter auf sein Telefon und Kramer verfolgte, ohne absichtlich zu lauschen, was Dircks sagte. Er hätte Abstand gehalten, wenn Dircks nicht Französisch gesprochen hätte. »Mach dir keine Sorgen, Voudou. Er sucht ein Mädchen aus unserer Nachbarschaft, das Ende Mai verschwunden ist ... Ja, er war deswegen schon mehrfach bei mir ... Nein, nein, der Bruch interessiert ihn nicht, keine Sorge. Wann geht der nächste Transport? Ich hätte etwas, was ich loswerden möchte ... Klar, zu den üblichen Bedingungen ... Gut, melde dich!«
Dircks legte auf und drehte sich um, Kramer winkte ihm zu. Corinna Babel stand hinter der Theke und packte zwei Kinderbücher in Geschenkpapier ein.
»Schon wieder Fragen, Herr Kramer?«, knurrte Dircks.
»Ja. Haben Sie so einen kleinen Spiralblock, der in meine Brieftasche passt?«
»Der sollte sich finden lassen«, meinte Dircks und Kramer hatte den Eindruck, dass es sehr erleichtert klang.
Er bezahlte den Block und verließ das Geschäft, ziemlich unschlüssig, was er nun tun sollte. Schließlich fuhr er mit der Fähre auf die andere Flussseite, stellte seinen Wagen am Anleger ab und lief in den Krimser Forst. Eine schwüle Wärme war aufgezogen und am Himmel trieben tief graue Wolkenfetzen. Er konnte sich nicht entscheiden, welcher Spur er nun weiter folgen sollte. Victor Seyboldt würde zwar jeden Eid leisten, dass er Kramer allein deshalb engagiert hatte, um Annas Schicksal zu klären, aber so, wie Kramer den Grauen einschätzte, war der in erster Linie hinter dem geraubten Schmuck aus dem Eisele-Geschäft her. Warum erst jetzt? Victor wusste mehr, als er Kramer erzählt hatte. Das entsprach seiner üblichen Taktik.
Kramer rief Anielda an. »Schaust du bitte im Telefonbuch etwas für mich nach? Ich suche in Ketzingen eine Franziska Nachtwächter.«
»Gibt es nicht«, erwiderte Anielda nach eine Weile schadenfroh und kicherte: »Übrigens soll ich dir schöne Grüße von einer jungen Frau ausrichten. Sie heißt Nicole Reiter und erwartet drifigend deinen Anruf, am liebsten noch vor dem Mittagessen.«
»Na prima. War zufällig Eva Posipil im Haus?«
»Woher soll ich das wissen?«
»Dir entgeht doch nichts, was sich auf unserem Flur ereignet.«
»Deine Komplimente werden immer zweischneidiger«,
zischte sie und er legte vorsichtshalber auf, bevor sie seinen Handyakku mit unqualifizierten Schimpfkanonaden leerte.
Ketzingen war ein noch intaktes Bauerndörfchen, das den großen Bauboom der Terborner Stadtflüchtlinge abgewehrt hatte. Ein winziger Supermarkt, ein Dorfkrug, ein wundervoll renovierter Schulzenhof und die unvermeidliche Filiale der Leininger Handelsbank bildeten den Mittelpunkt des Ortes. Ein kleines Kirchlein neben einem Rotklinkerneubau, in dem sich ein Kindergarten und das Pfarrbüro befanden. Eine Schule entdeckte Kramer nicht, stattdessen eine beachtlich große Videothek. Immerhin konnte er dort mit der Nachfrage beginnen. »Franziska Nachtwächter?«, so sorry, die Dame war dort unbekannt. Ach so, im Urlaub kennen gelernt. Und den Zettel mit der Telefonnummer verloren? Als Kramer zur Tür ging, spürte er das hämische Grinsen hinter seinem Rücken.
Im Supermarkt und in der Bank die gleiche Auskunft, eine Franziska Nachtwächter war nicht bekannt, wohnte wohl auch nicht im Ort.
Tja, wo konnte er sich noch erkundigen? Vielleicht in der so genannten Künstlerkolonie Schwarzer Berg. Dort verkehrten viele merkwürdige Typen, die nicht in Ketzingen wohnten; Kramer erinnerte sich an Sabrina und ihre Palettenkäufe zwecks Kleiderfärbung.
Aber zunächst wagte er sich in das Pfarrhaus und der junge Pfarrer grinste bis zu den etwas abstehenden Ohren. Tja, tja, diese Urlaube. Nachtwächter, Franziska. Nein, er müsse passen. Eine Frau dieses Namens kannte er nicht in seiner Gemeinde. Vielleicht in der Künstlerkolonie? Aber da würde er um diese Tageszeit niemanden antreffen. Die Musen küssten nach seiner des Pfarrers Erfahrung ihre Opfer erst nachmittags wach. Gab es sonst keine Verwandtschaft? Eine Schwester, die Apothekerin in Werlebach war? Etwa Christine Lankenow? Ja, die Paracelsus-Apotheke kenne er besser, als ihm lieb sei, weil er dort für seine Kreislaufmedikamente viel Geld lassen müsse. »Dann könnte es sich um Franziska Esteburg handeln, Herr Kramer. Wohlgemerkt, es könnte.« In seiner Kirche habe er sie noch nie gesehen und bei einem Konfessionsverhältnis von fiftyfifty dürfe man nicht erwarten, dass er die Familiengeschichten aller Ketzinger kenne. Am Mühlenweiher 2, ein auffälliger Neubau.
Kramer bedankte sich höflich und ging schnell, bevor der Pfarrer Fragen stellen konnte. Den Mühlenweiher fand er sofort, auch den Neubau Nummer 2, aber er klingelte nicht, sondern machte, dass er schnell wieder auf den Dorfplatz kam. Denn vor dem großen Haus stand im Schatten einer Linde ein heller Kombi mit Terborner Kennzeichen, an beiden Seiten mit den zwei großen schwarzen Frakturbuchstaben KV verziert.
Vor der Handelsbank ergatterte er einen Parkplatz und richtete sich wieder einmal auf geduldiges Warten ein. Es dauerte nicht lange, eine halbe Stunde später brauste der Kombi an ihm vorbei und am Steuer saß der grimmig vor sich hin blickende Voudou.
Auf der Rückfahrt nach Terborn ließ sich Kramer viel Zeit, weil er in Gedanken versunken war. Wieder einmal eine uralte Beziehungskiste, die man erst klären konnte, wenn man herausgefunden hatte, wer mit wem früher und heute.
Das Handy bimmelte und Nicole Reiter stellte aufgekratzt fest: »Ich habe Hunger. Du darfst mich sofort zum Essen abholen.«
»Und wie komme ich zu der Ehre?«
»Na, hör mal, schließlich habe ich deiner Freundin meinen Job abgetreten.«
»Wie bitte?«
»Diese Eva hat solche Tränen vergossen, dass ich nachgeben musste. Sie hat jetzt meinen Job bei Alles für Ihre Reise.«
»Eva hat behauptet, sie sei meine Freundin?«
»Exfreundin, du hast sie ziemlich schofel abserviert.«
»Na, wenn ich das Luder erwische, dann geht’s ihm dreckig. Eva ist die Tochter eines Mannes, der sein Büro neben
meinem Büro im Ruhlandhaus hat. Daher kennen wir uns. Alles andere ist frei erfunden.«
»Aber sehr glaubwürdig erfunden, muss ich schon sagen.«
»Na schön, du armes Opfer. Wo treffen wir uns?«
»Vor der Cantina Milanesa.«
»Bin schon unterwegs.«
Der große Ansturm der Mittagshungrigen hatte sich schon verlaufen. Nicole Reiter und Kramer hatten das Restaurant praktisch für sich allein.
Angelo nahm ihnen die Speisekarte weg und entschied: »Ihr esst heute Fisch auf Rosmarinkartoffeln. Dazu den Weißwein des Hauses. Der Chef kocht jetzt selbst.«
»Widerstand ist zwecklos«, flüsterte Nicole Kramer zu.
Es hatte sich gelohnt, Angelos Befehl zu folgen. »Na, wie hat es geschmeckt?«
»Ein Gedicht«, sagte Kramer spontan.
Angelo war in Terborn aufgewachsen und zur Schule gegangen. Deshalb fragte er schnell: »Mehr Goethe oder mehr Ringelnatz?«
»Sagen wir mal Kästner.«
»Es gibt nicht Gutes, es sei denn, man isst es.«
»Ebender!«
Nicole ließ sich widerspruchslos zu einem Dessert überreden. »Stammt von der Mama«, verriet Angelo.
»Auch ein Gedicht?«, fragte der Wirt, als er ab räumte.
»Nein, eher eine Arie Bellini etwa.«
»Du darfst wiederkommen«, erlaubte Angelo großzügig. »Und deine Freundin auch.«
Nicole Reiter zog eine Schnute, war aber klug genug, nicht zu widersprechen. Nach dem Espresso schaute sie auf ihre Armbanduhr. »Wir müssen uns beeilen.«
»Wieso denn das?«
»Opa Olix wartet mit der Kamera auf mich.«
»Opa Olix?«
»So heißt der Inhaber von Alles für Ihre Reise.«
Opa Olix mochte an die siebzig sein, hatte volle, weiße Haare und ein faltiges Gesicht, aus dem zwei dunkelblaue Augen strahlten. Er hielt tatsächlich eine Kamera bereit, um ein Abschiedsbild von Nicole zu machen. Während er sich mit Entfernung, Bildausschnitt und Blende herumplagte, schaute sich Kramer die Galerie von Frauenporträts an. Wenn das wirklich alles Studentinnen waren, hatte Opa Olix Generationen von Studentinnen zum Examen verholfen. Kramer staunte. Dass sich Frisuren im Laufe der Moden änderten, wusste er natürlich, aber dass auch Gesichtsformen einem allgemeinen Modetrend folgten, hatte er nicht geahnt.
Endlich blitzte es dreimal. Opa Olix war zufrieden und zeigte auf ein dickes Buch, das auf der Kassentheke lag. »Du bist Nummer 312.«
Nicole trug die Nummer in das Buch ein und kritzelte dahinter zuerst ihren Namen und dann, von wann bis wann sie in dem Laden ausgeholfen hatte. Zum Schluss musste sie einen klugen Spruch erfinden. Später würde ihr Foto, das Opa Olix in der Galerie aufhängte, ebenfalls mit der Nummer 312 versehen. »Damit wir unsere Schönen immer identifizieren können«, erläuterte der Weißhaarige vergnügt.
Kramer stockte. Das Gesicht kannte er doch! »Nicole, schaust du bitte mal nach, wie Nummer 78 geheißen hat?«
Nicole blätterte eifrig: »Nadine Schuster.«
Sieh mal an, die Radwanderin aus Essen hatte ebenfalls hier studiert.
»Lieber Herr Olix, darf ich das Buch mal nach einem bestimmten Namen durchblättern?«
»Wenn Sie keine Seite herausreißen, bitte, gerne!«
Nicole zog eine Schnute. »Und was mache ich in der Zeit?«
»Ich würde hundert Euro stiften, damit du nebenan bei Beelitz nach einem kleinen Schmuckstück schauen kannst.«
»Nein danke. Von dir würde ich zwar auch ein großes Schmuckstück annehmen, aber nicht aus dem Laden von Werner Beelitz.«
»Ist der zu teuer?«
»Nein, er ist zu unsympathisch.«
Opa Olix nickte heftig. »Nicole hat völlig Recht, Herr Kramer, das ist ein widerlicher Schürzenjäger, der zu glauben scheint, ich würde die Studentinnen nur beschäftigen, damit er immer wieder freie Auswahl hat.«
»Okay, aber im Parterre gibt es ein anderes Schmuckgeschäft, den Namen habe ich leider vergessen. Dort bedient eine grauhaarige Frau. Vielleicht findest du dort etwas.«
Nicole zog beschwingt ab und Olix massierte sich das Kinn. »Was machen Sie eigentlich, Herr Kramer?«
»Ich versuche, einen etwa siebzehn Jahre zurückliegenden Einbruch aufzuklären.«
»Den Bruch bei Beelitz, damals noch Eisele?«
»Genau den.«
Opa Olix schnaufte. »Na, dann mal viel Glück.«
Das hatte Kramer. Genau zur passenden Zeit hatte eine Franziska Nachtwächter als studentische Aushilfe bei Opa damals noch Papa Olix gearbeitet. Kramer war von ihrem Porträtfoto beeindruckt.
»Eine wunderschöne Frau«, murmelte Olix hinter ihm. »Fleißig, tüchtig, aber leider etwas flatterhaft und leichtsinnig. Sie wollte Künstlerin werden und war auf der Akademie. Jahre später habe ich sie mal auf der Straße getroffen, da hat sie mir gestanden, dass sie die Herzogliche Malschule so hieß die Akademie damals noch verlassen hatte und in Ketzingen in der Künstlerkolonie Schwarzer Berg arbeitete. Als Modell und als Wirtin. Ich habe sie bedauert, aber sie hat mich ausgelacht. Kein Grund zur Trauer. Einer der Künstler, ausnahmsweise einer mit Geld, habe sich in sie verguckt und sie würden bald heiraten.«
»Herr Olix, noch eine Probe auf Ihr exzellentes Gedächtnis. Hatte Franziska Nachtwächter, als sie bei Ihnen arbeitete, ein Verhältnis mit Werner Beelitz?«
»Ich fürchte, ja. Ich hatte sie, wie alle meine Studentinnen, vor dem Nachbarn gewarnt, aber sie war zu selbstbewusst und zu sehr von sich überzeugt, um auf mich zu hören.«
»Sie waren auch ein wenig in die Franzi verguckt, nicht wahr?«
»Natürlich, aber Sie werden mich nicht bei meiner Frau verraten?«
»Nein. Warum sollte ich den Enkeln einen so netten Opa wegnehmen?«
»Im Park, an sonnigen Tagen, hilft das manchmal bei jungen Müttern, Aupairmädchen und Hausangestellten, wenn man einen Wagen mit zwei brüllenden Terroristen hilflos vor sich herschiebt. Alle wollen Trost spenden ...«
»... aber nicht den Kleinkindern, sondern dem hilflosen Opa.«
»Man muss seine Chancen nutzen, Herr Kramer.«
»Einverstanden. Geht Ihr Vertrauen in Ihre Aushilfskräfte so weit, dass Sie manchen die Schlüssel für Ihren Laden anvertrauen?«
»Selten. Aber tagsüber liegen die Schlüssel in einer unverschlossenen Schublade an der Kasse. Wer weiß, wie man Wachsabdrücke macht, kommt jederzeit daran.«
»Sind Sie schon mal ausgeraubt worden?«
»Noch nie! Nicht einmal bestohlen.«
Kramers Handy bimmelte: »Rolf, ich habe was Wunderschönes gefunden, aber hundert Euro reichen nicht, trotz Rabatt für Freunde und Mitarbeiter von Opa Olix. Was meinst du, hat es Zweck, dass ich auf dich warte?«
»Selbstverständlich müssen Sie jetzt gehen«, meinte Opa Olix und wehrte Kramers Danksagung energisch ab.
Nicole hatte tatsächlich etwas Schönes gefunden. Das Wappen der Oberleininger Herzöge, als Goldanhänger an einer goldenen Kette.
»Du willst ja hoch hinaus.«
»Ich werde mal Vorsitzende des Oberleininger Verfassungsgerichtes.«
»Toi, toi, toi. Du bist nicht böse, wenn ich jetzt die Kurve kratze?«
»Nein, man soll arbeitsfähige Männer nie davon abhalten, etwas für die Steuereinnahmen des Landes zu tun.«
»Darauf vielleicht doch noch einen Eisbecher?«
»Mein Hosenbund kneift schon.«
»Dann kommt es auf eine kleine Straffung auch nicht mehr an.«
»Unter der Voraussetzung, dass du mir etwas über Eva Posipil erzählst. Hast du ihr auch schon goldene Anhänger geschenkt?«
»Nein. Aber eine halbe CD.«
»Wie geht das?«
Sie trennten sich als gute Freunde und Nicole versprach, ganz bestimmt wieder anzurufen. Nein, dass Eva sie so geschickt aus dem Job gedrängt hatte, war vergessen und verziehen, und Kramer sagte nicht, wie sehr ihm die Aktion „Nicole in die Fotogalerie“ geholfen hatte.
In der Handschelle ging Gerlinde sofort ans Telefon und bestätigte, dass die Kollegin, von der sie erzählt hatte, Nadine Schuster geheißen hatte, die von einem Werner Beelitz geschwängert worden war. Sie ließ sich Nadines Adresse und Telefonnummer geben und versprach, in Essen erst anzurufen, wenn Kramer ihr grünes Licht gegeben hatte. »Wie findest du so was immer raus, mein Lieber?«
»Das machen eure hervorragenden Bratkartoffeln.«
»Das zu hören, wird den Koch aufrichtig freuen.«
Kramer saß fast eine Stunde am Computer, um einen langen Bericht über den Dienstag und den Mittwoch zu schreiben. Diesmal faxte er sein Werk nicht an die Hauptkommissarin Caro Heynen, sondern an den grauen Victor Seyboldt, der wenig später aufgeregt anrief. »Glückwunsch, Rolf. Jetzt fehlt nur noch ein Satz. Wo liegt der Rest des Schmucks verborgen?«
Kaum hatte Kramer aufgelegt, als das Telefon wieder klingelte, eine sehr kleinlaute Eva Posipil wollte eine Untat
beichten und freute sich, dass Kramer ihre Schuldarie ziemlich ungeduldig abbrach.
Er tastete eine neue Nummer. Christine Lankenow sagte barsch: »Was wollen Sie?«
»Ein Porträtfoto Ihres Bruders Eberhard. Möglichst kurz vor seinem Tode aufgenommen.«
»Darf ich erfahren, was Sie damit anstellen wollen?«
»Ich habe im Landeskriminalamt einen Freund, der sich auf Gesichtsvergleiche spezialisiert hat. Mich würde schon interessieren, ob Ihr Bruder Eberhard tatsächlich der Vater von Anna Laysen sein kann.«
»Und warum sollte ich mir die Mühe machen, für Sie ein Bild herauszusuchen?«
»Weil ich Ihnen dann Aufnahmen vom Beilhorner Stausee überlasse.«
»Mein Mann ist nicht eifersüchtig.«
»Glaube ich sofort. Aber was ist mit Katrin Beelitz?«
»Sie sind ein widerlicher Schnüffler.«
»Stimmt. Widerlich, zäh und erfolgreich.«
»Wann kommen Sie vorbei?«
»Gar nicht. Sie kommen zu mir in mein Büro und zwar sofort.«
»Haben Sie noch alle Tassen im Schrank?«
»Nein, aber ich habe die Telefonnummer vom Beelitz-Haus im Buchenweg 38.«
Caro stimmte sofort zu, dass ihr Freund Günter Raabe einen Gesichtsvergleich versuchen sollte. Seit DNA-Analysen quasi alltäglich geworden waren, gab es nur noch wenige Fachleute, die immerhin mithilfe ausgeklügelter Computerprogramme und hochmoderner Laservermessungstechnik Gesichter daraufhin verglichen, ob eine Verwandtschaft vorliegen konnte. Wissenschaftlich und juristisch waren die Ergebnisse dieser Technik höchst umstritten, aber in der Praxis recht hilfreich.
Anielda übte sich mal wieder in ihrer neuesten Lieblingsbeschäftigung, sie füllte Druckerpatronen mit farbigen Tinten auf, und war sofort bereit, stattdessen mit Kramer auf Verbrecherjagd zu gehen,
»Du musst dir aber dunkle Sachen anziehen und vor allem leise Schuhe.«
»Wird wieder auf uns geschossen?«
»Wenn du damit fragen wolltest, ob du eine Gefahrenzulage beanspruchen kannst ich weiß es nicht. Aber wie ich dich kenne, hast du doch deinen Nachlass immer in bester Ordnung.«
Christine Lankenow kochte noch vor Wut, als sie in Kramers Büro stürmte. Sie knallte wortlos ein gestochen scharfes Foto ihres Bruders auf den Tisch und schluckte, als Kramer im Gegenzug die Bilder vom Bellhorner See auffächerte. »F. E. an der Klingel heißt doch wohl Franziska Esteburg, nicht wahr? Weiß Ihre Schwester, dass Sie sich in ihrem Haus mit ihrem früheren Geliebten Werner Beelitz treffen?«
»Keine Ahnung. Sie hat ihn schon vor langer Zeit abgelegt.«
»Ist Ihr Bruder Eberhard der Vater von Anna Laysen?«
»Ich kann mich nur wiederholen: Das weiß ich nicht.«
»Wo steckt Anna jetzt?«
»Warum fragen Sie mich das?«
»Wusste Anna von Ihrer Schwester Franziska?«
»Vermutlich. Natürlich nicht von mir, aber bei Annas Drang nach einer kompletten Familie hat vielleicht Mutter Irene auf Franziska hingewiesen.«
»Sie mochten Ihre Schwester nie leiden?«
»Stimmt.«
»Gibt es dafür einen bestimmten Grund?«
»Warum mag das Feuer das Wasser nicht?«
Kramer kam nicht weiter. Christine Lankenow ging wieder, und als es draußen dämmerte, fuhr er in die Haffstraße, um in dem klapprigen Lieferwagen sein elektronisches Gerät zu prüfen und neue Batterien und Akkus einzusetzen. Währenddessen kochte Anielda in seiner Wohnung mehrere Thermoskannen Kaffee und schmierte Butterbrote.
In Werlebach fand er einen Parkplatz etwa neunzig Meter von Dircks5 Haus entfernt. Das Schild Polizei leuchtete weit sichtbar in Blau. Hoffentlich hatte sich Konrad Engel schon zur wohlverdienten Ruhe begeben.
In Dircks5 Wohnung brannte kein Licht, dafür aber hinter den vorgezogenen Gardinen in Irenes Wohnzimmer auf der anderen Straßenseite. Kramer rief zuerst Irene Laysen an. Sie meldete sich umgehend.
»Hallo, Irene, hier ist Rolf. Ist zufällig Peter Dircks bei dir?«
»Was willst du denn um diese Zeit noch von ihm?«
»Du hast ja Recht, ich rufe morgen noch einmal an. Entschuldige bitte die Störung und schlaft schön.«
»Eifersüchtig, Rolf? Oder gekränkt?«
»Nein, mach dir keine Gedanken deswegen.«
Bevor er Anielda bei Dircks anrufen ließ, schnappte er sich ein Fernglas und schlich am Haus vorbei auf den abgesperrten Hof. Seine Vorsicht zahlte sich aus. Hinter einem kleinen Fenster an der Rückseite wurde Licht angeknipst. Anielda hatte sich für eine falsche Nummer entschuldigt und starrte Kramer verblüfft an. »Eine Frau.«
»Wahrscheinlich Corinna Babel. Sie flüchtet häufiger vor ihrem gewalttätigen Vater zu Peter Dircks und übernachtet dann in seinem Gästezimmer.«
»Und wo ist Dircks?«
»Liegt wohl drüben bei seiner schönen Nachbarin Irene im Bett.«
»In das du selbst gerne klettern möchtest, wie?«
»Im Moment wünsche ich mir nur, dass Corinna schnell wieder in ihr Bett kriecht, die Tür zumacht und dann nichts mehr hört.«
»Wieso? Willst du etwa in die Wohnung?«
»Ja. Und in das Geschäft. Du schiebst wieder Piepser-Wache. Wenn Dircks zurückkommt, muss er von rechts aus der Richtung des Hofs kommen und dann an diesem Haus vorbei links nach hinten gehen. Du drückst Alarm, wenn irgendein Mann drüben das Haus verlässt. Wir brauchen ein zusätzliches Verständigungssignal. Ich vermute, dass es unter dem Geschäft einen Keller gibt. Ich möchte prüfen, ob die Sender weit genug tragen. Wenn ich dreimal kurz piepse, piepst du dreimal kurz zurück. Dann weiß ich, dass deine Signale mich auch im Keller erreichen.«
»In Wahrheit willst du nur kontrollieren, ob ich eingeschlafen bin.«
»Das dürfte bei den Mengen Kaffee, die du verbraucht hast, einem gesunden Menschen eigentlich nicht passieren. Also bis dann.« Kramer zog sich die dünnen Plastikfingerhandschuhe an, schnappte sich seinen Leinenbeutel, den er schon mit dem benötigten Material gefüllt hatte, und verließ den alten Lieferwagen, der gewaltig schaukelte.
Werlebach schlief. Weit entfernt bellten Hunde. In dem Durchgang zum Hof war es stockduster, Kramer musste es riskieren, für einen Moment die Akkulampe anzuknipsen, um an dem Ring mit den Dietrichen ein vielleicht passendes Exemplar zu finden. Beim zweiten Versuch hatte er den richtigen Schlüssel erwischt, das Schloss ließ sich geräuschlos öffnen. Vorsichtig schob er Fuß vor Fuß, bis er an die erste Stufe stieß, ließ sich auf die Knie nieder und tastete die Treppe ab. Holz mit Teppichboden belegt. Hoffentlich knarrte keine Stufe. Auf allen vieren kroch er hoch, belastete jede neue Stufe erst vorsichtig mit einer Hand. Nichts knackte oder knarrte, auch von draußen war kein Geräusch zu hören. Dann fühlte er eine Tür, riskierte wieder einen kurzen Lichtstrahl und merkte sich die Position des Schlosses in dem Zugang zur Wohnung. Hier wurde ein altmodischer Bartschlüssel oder ein gewöhnlicher Metallhaken gebraucht. Der ließ sich ohne Laut umdrehen, und als er die Klinke herunterdrückte, ertönte nicht das geringste Quietschen. Alles schien perfekt geölt. Er schob die Wohnungstür einen kleinen Spalt auf und kroch in den Gang.
Nicht weit von ihm stand eine Tür offen, aus der etwas Licht herausfiel, wahrscheinlich nicht von einer brennenden Lampe, sondern Licht von einer Straßenlaterne, die nahe vor dem Fenster stehen musste. Es war tatsächlich das Wohnzimmer, von draußen fast komfortabel erleuchtet. Unter dem Fenster stand eine breite Couch, davor ein quadratischer Holztisch, der für Kramers Zwecke wie geschaffen war. Er konnte eine Wanze so unter die Tischplatte kleben, dass das Mikrofon neben einem Tischbein einen knappen Millimeter in den Raum ragte. Dabei vertraute er auf seine eigene Junggesellenerfahrung, dass Dircks nur alle Jubeljahre einmal unter dem Couchtisch Staub wischte oder die Tischbeine abledern würde.
Das Telefon stand nahe genug am Fenster; er konnte alles erkennen und ohne Probleme die Kunststoffhaube abschrauben. Der Sender ließ sich innen ankleben, die Drähte bog er an die blanken Kontakte heran; sie anzulöten wagte er nicht, mehrere Stückchen Tesafilm, die Metall an Metall drückten, mussten ausreichen. Mit Tesafilm befestigte er auch die Antenne innen im Telefon und beschloss, endlich einmal die Mathematik für den Bau von Raum sparenden, winzig kleinen Wendelantennen zu pauken.
Zwei Minuten später war das Telefon wieder perfekt zusammenmontiert und auf den alten Platz zurückgeschoben. Immer noch war kein Geräusch zu hören und Dircks jenseits der Straße sicherlich anderweitig beschäftigt. Kramer zog den Beutel hinter sich her und kroch wieder auf den Flur. Mit aller Vorsicht öffnete er die erste Tür auf der linken Seite einen Spalt und hörte regelmäßige Atemgeräusche. Corinna schlief tief und fest. Das Gästezimmer war wirklich sehr klein, das Fenster stand weit auf.
Kramer schloss lautlos die Tür wieder und kroch weiter. Die nächste Tür führte auf die steile, schmale Treppe, die die Wohnung mit dem Geschäft im Parterre verband. Wenn er sich recht erinnerte, frönte auch Dircks der Unsitte, alle möglichen Dinge >nur mal schnell auf der Treppe< abzustellen und sie dort dann zu vergessen. Aber nun musste Kramer die neue großartige Akkulampe aus dem Geschäft Alles für Ihre Reise häufiger anknipsen, um nichts hinunterzustoßen oder umzuwerfen. Wie er vermutet hatte, endete die Treppe nicht vor dem Eingang in das Geschäft, sondern führte hinter einer verschlossenen Tür weiter in den Keller. Auf diesem Stück wurde sie allerdings noch steiler und unbequemer.
Über den Keller staunte Kramer. Das Haus war auf seiner ganzen Fläche unterkellert, ein schmaler Gang führte bis zur Außenwand. Ein Teil der Räume lag zur Straße und verfügte über Fensteröffnungen, also war es gefährlich, hier Licht anzuknipsen, weil ein zufälliger Passant auf der Straße es bemerken konnte. Die Kellerräume auf der Hofseite besaßen nur schmale, fest vergitterte Lüftungs-Schächte. Alle waren bis auf den letzten Winkel mit alten Möbeln, Sperrmüll und Krimskrams voll gestellt. Hier im Dunkeln etwas zu suchen war purer Unsinn. Dircks sollte einen großen Abfallcontainer bestellen.
Weil er jetzt lange genug unterwegs war, drückte Kramer dreimal kurz den Signalknopf und Anieldas Antwortsignal — dreimal kurz ertönte umgehend. Schade, mehr ließ sich hier nicht erledigen. Kramer machte kehrt und ging Richtung Treppe zurück. In dem Moment ertönte ein lauter Summton, eigentlich das Signal für >Achtung, jemand kommt<. Wollte Anielda, ungeduldig geworden, ihn auf den Arm nehmen? Oder hatte Irene ihren Nachbarn und Bettgenossen schon vor die Tür gesetzt?
Kramer kletterte rasch die steilen Stufen zum Parterre empor, öffnete dort die Tür zur Treppe in die Wohnung nur einen Spalt weit und wartete gespannt. Als es plötzlich fürchterlich krachte, verlor er vor Schreck fast das Gleichgewicht. Jemand hatte die Haustür nicht aufgeschlossen, sondern mit einem Stemmeisen oder dergleichen aufgesprengt. Selbst bei größter Wut würde Dircks doch nicht so mit seinem Eigentum umgehen. Aber wenn es nicht Dircks war, wusste der Eindringling nicht, dass Corinna Babel in dem Gästezimmerchen schlief.
Kramer drückte verzweifelt den Piepserknopf zu einem Dauerton. Wenn Anielda so klug war, wie sie immer von sich behauptete, musste sie jetzt merken, dass etwas nicht stimmte. Hoffentlich beobachtete Anielda den Hauseingang durch die Einwegscheiben des Lieferwagens, um zu verfolgen, wer nachher das Weite suchte, und noch toller wäre, wenn sie die beiden Empfänger samt Kassettenanlage starten würde. Jemand stampfte laut die Treppe von der Haus zur Wohnungstür hoch. Auch für diese Tür besaß er hörbar keinen Schlüssel, sondern trat sie ein. Kramer traute sich nicht, gleichfalls zur Wohnung hochzuklettern. Erstens war er kein Held und zweitens hatte er keine Lust, sich im Halbdunkel auf eine Schlägerei einzulassen, bei der man seinen Gegner nicht einmal richtig erkennen konnte.
Und dann wurde ihm jede Entscheidung abgenommen. Oben leuchtete eine Lampe auf, offenbar trat Corinna aus dem Zimmerchen und schrie vor Schreck auf. »Was willst du denn hier?«
Der Mann brüllte wie ein gereizter Stier zurück: »Verfluchte Inzucht, was hast du hier verloren?«
Dann krachte ein Schuss, Corinna schrie noch einmal, diesmal vor Schmerzen, und stürzte zu Boden. Der Unbekannte drehte sich um und floh, fiel beinahe, die Treppe hinunter und stürmte dann ins Freie.
Kramer hielt den Daumen fest auf dem Druckschalter. Er betete, dass Anielda klug genug war, den Lieferwagen nicht zu verlassen. Eine Minute später riskierte Kramer es dann doch, in die Wohnung hochzusteigen und von dem präparierten Telefon aus 112 und 110 zu wählen. Corinna lag in dem schmalen Flur halb auf der Seite. Das Nachthemd über der Brust war schon dunkelrot von Blut. Kramer hatte Angst, sie zu bewegen und damit die Verletzung zu verschlimmern. Aus dem Gästezimmer nahm er vom Bett eine Decke und ein Kissen, bettete ihren Kopf etwas höher und deckte sie zu. Danach raste er nach draußen und hetzte zu seinem Wagen.
Anielda bebte wie Espenlaub. »Was ist denn los?«
»Ein unbekannter Einbrecher hat auf Corinna Babel geschossen.«
»Worauf wartest du Idiot noch? Los, nix wie weg!«
»Bist du verrückt? Ich habe Notarzt und Polizei alarmiert, die können jeden Moment eintreffen. Ein fort fahrender Lieferwagen würde auf fallen! Die alte Möhre ist auf meinen Namen zugelassen. Reiß dich zusammen, nur Ruhe, Anielda. Wir müssen warten, bis alles vorbei ist.«
Sie hätte ihm am liebsten die Augen ausgekratzt, doch er blieb stur. Bei aller Panik hatte Anielda angesichts des langen Warntons richtig überlegt und die Empfänger und die Kassettenanlage eingeschaltet. So war zumindest ein kurzer Satz des Täters aufgezeichnet und das mochte helfen, ihn später mithilfe seines >Stimmenabdrucks< zu überführen.