Читать книгу Krimi Paket Mörderisches Lesefutter im August 2021: 16 Romane - A. F. Morland - Страница 17

10.

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Notarzt und Polizei trafen fast gleichzeitig ein. Anielda wurde ungeduldig, aber nun mussten sie ausharren. Heimlich beglückwünschte Kramer sich, dass er für seinen Wagen keinen Parkplatz direkt vor dem Dircks-Geschäft gefunden hatte. Für einen verrosteten, zerbeulten Lieferwagen fast neunzig Meter vom Tatort entfernt dürfte sich die Kripo nicht interessieren.

»Hast du den Kerl weglaufen sehen, Anielda?«

»Ja, ich glaube, ich würde ihn wiederkennen. Du, der kannte sich hier aus.«

»Wie meinst du das?«

»Er kam aus dem Dircks-Haus heraus, ist über die Straße an der Boutique vorbei nach hinten gerannt und neben der Apotheke wieder auf der Hauptstraße herausgekommen, dann quer über die Uferstraße auf den Parkplatz an der Fähre, dort hatte er ziemlich mitten auf dem Platz seinen Kombi abgestellt.«

»Hast du zufällig Marke, Farbe, Kennzeichen erkannt?«

»Nein, dazu stand er zu weit weg.«

»Schade.«

»Hast du denn eine Ahnung, wer das war?«

»Nein.«

»So, jetzt sind drei Stunden vergangen, jetzt kannst du mir verraten, wie wir nach Hause kommen.«

»Indem wir ein ganzes Stück laufen und uns dann ein oder zwei Taxen rufen.«

Das mit dem Laufen, gefiel Anielda nicht, aber Kramer wollte nicht, dass später ein Taxifahrer aussagen konnte, dieser Mann richtig und diese Frau sind in Werlebach gewesen, nicht weit weg von dem Papier und Buchgeschäft in der Hauptstraße. Bevor sie losstiefelten, schaute Kramer sich noch einmal um.

»Nun mach schon, ich bin müde.« Anielda war gereizt und knötterte, erst recht als sie mit Kramer die Hauptstraße hinaufgehen musste und dann noch ein beträchtliches Stück weiter bis zur Kanzel. Es war trocken und lauwarm, gut vorstellbar, dass ein Liebespaar hier die Zeit vergessen hatte.

Das Taxi brauchte zwanzig Minuten und der Fahrer staunte nicht schlecht, als er das Ziel hörte: »Haffstraße.« An die merkwürdigen Blicke vieler Fahrer hatte Kramer sich gewöhnt.

Babsie hatte ihren Meilenstein schon geräumt, im Stundenhotel gegenüber waren viele Fenster auf Dauer dunkel.

»So, und was machen wir jetzt?«, fragte Anielda mit dem Schlummerwhisky in der Hand.

»Wenn ich das wüsste.«

Natürlich wollte Kramer bei der Suche nach dem Täter helfen, aber er wollte gleichzeitig nicht preis geben, dass er in Häuser und Wohnungen einbrach, Wanzen verlegte und Telefone anzapfte.

Kramer schlief schlecht, nicht nur wegen der kurzen und unbequemen Couch. Was hatte der Einbrecher gesucht? Diebstahl durfte man wohl ausschließen, sonst hätte der

Mann nicht diesen Krach beim Eintreten der Türen verursacht. Zweifellos kannte er Dircks, aber nicht gut genug, um zu wissen, dass manchmal eine fremde Frau Corinna in seiner Wohnung übernachtete. Auch dass Dirks die Nacht bei Irene Laysen verbrachte, hatte der Täter anscheinend nicht gewusst. Warum hatte er sofort geschossen, als Corinna das Licht im Flur anknipste? Hatte sie ihn erkannt? Statt zu fliehen, hatte er sie niedergeschossen, unter Umständen sogar getötet. Das ergab doch alles keinen Sinn.

Kramer wälzte sich lange hin und her und fühlte sich wie zerschlagen, als der Morgen heraufdämmerte.

Anielda maulte, als er sie zwar ins Büro mitnahm, dann aber zwang, eine ausführliche Aussage zu formulieren, die er in zwei Exemplaren ausdruckte. Eine musste sie für seine Akten unterschreiben, die andere würde Kramer, wenn er sich mit ihr einigen konnte, an Caro faxen. Gegen zwölf Uhr rief Oberkommissar Engel im Büro an.

»Hallo, Herr Kramer, ich will gar nicht wissen, seit wann Ihr Lieferwagen in Werlebach an der Hauptstraße parkt, ich will auch nicht erfahren, was sich hinter diesen seltenen Einwegscheiben verbirgt. Aber es haben schon zwei Werlebacher angerufen und sich über diese Rostlaube beschwert, die auf den Namen Rolf Kramer zugelassen ist. Können Sie den Wagen nicht anderswo abstellen?«

»Kennen Sie denn einen Parkplatz in der Nähe, bei dem sich die ordentlichen Werlebacher nicht gleich wieder aufregen?«

»Was halten Sie von dem Hof des Polizeireviers?«

»An sich viel, aber ...«

»Ja, aber was, Herr Kramer?«, drängte Engel.

»Ich möchte nicht, dass Sie in den Verdacht geraten, Beihilfe zu ungesetzlichen Taten zu leisten.«

»Stopp! Ich glaube, Sie reden besser nicht weiter. Oder wenn, dann nicht am Telefon, sondern unter vier Augen bei einer ordentlichen Tasse Kaffee.«

»Darüber werde ich sehr intensiv nachdenken.«

»Wird das lange dauern?«

»Ein, zwei Stunden sollten Sie mir noch einräumen, Herr Engel.«

»Okay, Hauptsache, Sie kommen heute noch vorbei.«

Anielda hatte wenig Lust mitzukommen, aber Kramer meinte: »Stell dich nicht so an, es dauert nur eine gute halbe Stunde. Das Wort Kombi hat mich auf eine Idee gebracht.«

In der Zerner Straße waren alle Parkmöglichkeiten besetzt, er musste sein Auto in einer Nebenstraße abstellen.

»Wohin willst du denn?«, quengelte sie.

»Ich möchte dir einen Mann zeigen.«

»Danke, ich kenne schon ein paar Männer und die Exemplare reichen mir vollständig.«

»Wenn du den auch kennen solltest, umso besser.«

Die Glastür zum Speditionsbüro KV-Eilzustellung war verschlossen und drinnen hielt sich offenbar niemand auf. Kramer ging mit Anielda um das Haus herum auf den Hof. Dort stand der helle Kombi, den er in Ketzingen gesehen hatte, und weil der Wagen hier parkte, vermutete Kramer, dass sich Voudrain in der Gegend herumtrieb. Kaum gedacht, hörte er ein leises melodisches Pfeifen, gleich würde jemand um die Hausecke biegen. Kramer zog Anielda rasch in eine offen stehende Garage.

»Was hast du vor?«, nörgelte sie.

»Leise! Schau dir den Mann an, der gleich um die Ecke kommt.«

Es war tatsächlich Voudou, der einen Schüsselring um den Zeigefinger kreisen ließ.

»Du, Rolf, das ist er.« Sie bekam kaum Luft vor Erregung. »Das ist der Kerl von gestern, der aus dem Haus gelaufen ist.«

»Ruhig!«, zischte Kramer und zog Anielda noch weiter in die Garage hinein. Voudou musste sie nicht sehen.

In der Garage stand kein Auto, aber an den Wänden waren Kisten und Kartons fast bis zur Decke übereinander gestapelt. Plötzlich hörten sie Voudrain draußen fluchen, ein Schatten näherte sich der Einfahrt und unvermittelt wurde die

Jalousie mit einem Ruck heruntergezogen. Unten schnappte auf Höhe des Bodens ein Riegel zu. Prima, nun saßen sie in der Falle. Auf dem Hof startete ein Motor, ein Auto fuhr fort.

»Und, du Held, was machen wir jetzt?«, blaffte Anielda Kramer an.

»Erst mal schauen, ob es hier Licht gibt.«

Es gab und im Lampenlicht sah die Garage nicht mehr so bedrohlich aus.

»Was mag in den Kartons sein?«

»Wahrscheinlich Waschpulver«, stichelte Kramer. »Zahnpasta wäre auch nicht schlecht für eine längere Haft.«

»Hast du zufällig ein Taschenmesser dabei?«

»Nicht zufällig, sondern als unverzichtbares Teil der detektivischen Grundausrüstung.«

»Her damit!«

Anielda stellte sich sehr geschickt an und öffnete die beiden ersten Kartons. »Guck dir das mal an, Rolf, du brauchst doch auch einen neuen Computer, nicht wahr?«

Den hätte er sich in der Tat hier besorgen können. Die großen Transportkartons waren voll gestopft mit elektronischem Material. Computer, Drucker, digitale Kameras, Scanner, alle noch in.ihren Originalverpackungen, kleinere Schachteln mit Betriebssystem-CDs, Spielen, Kabeln, Steckern, als ob ein Computerladen komplett ausgeräumt worden wäre. Oder aber die KV-Eilzustellung sollte das Material an die Besteller regulär ausliefern. Mit dem Problem sollte sich die Kripo herumschlagen.

Kramer nahm sein Handy heraus und rief Caro im Präsidium an. »Du, Anielda und ich stecken in einer Garage auf dem Gelände der V-Spedition an der Zerner Straße Nummer 14 fest. Holt ihr uns bitte raus? Wir haben auch eine Überraschung für euch.«

»Dem Versprechen können wir natürlich nicht widerstehen. Übrigens hat der Kollege Engel aus Werlebach angerufen, er erwartet dich irgendwie dringend.«

»Wenn du nichts dagegen hast, fahren wir gleich gemeinsam zu ihm.«

»Nein, natürlich nicht, dass ich Dienststunden und Dienstpflichten habe, interessiert ja nur die Personalabteilung, oder?«

»Wenn du mitfährst, müssten wir allerdings vorher kurz an meinem Büro vorbei. Da liegen noch die zwei Bilder, die ich dir für deinen Freund Günter in die Hand drücken wollte.«

»Auch das, lieber Rolf. Ich bin ja Bestandteil des öffentlichen Dienstes, der sich auch um die Beförderung der Bevölkerung kümmern muss.«

Nach zwanzig Minuten erschien endlich ein Streifenwagen und die Besatzung alarmierte die Blondine aus Voudous Vorzimmer. Die öffnete den Schnappverschluss des Garagentores und warf Kramer, den sie sofort wiedererkannte, einen mehr als finsteren Blick zu. »Das wird den Chef mächtig freuen, dass Sie sich hier herumtreiben.«

»Schöne Sachen heben Sie in der Garage auf.«

»Wir haben keinen Platz mehr und für ein neues Frachtzentrum fehlt uns das Kleingeld. Zufrieden?«

»Das kann dann der Chef der Kripo und dem Staatsanwalt erklären.«

Die „Brüder von Bruch und Hehl“, wie sie im Präsidium verspottet wurden, rückten schnell an und die Blondine machte sich, unfein fluchend, daran, aus ihrem Computer Briefwechsel, Rechnungen und Auftragsbestätigungen herauszuleiern, eine kleine, flotte Azubi sah Aktenordner durch nach Quittungen, Empfangsbestätigungen samt Frachtbriefen und Zollformularen. Zumindest taten beide Frauen nicht so, als müssten sie die Kontrolle der Polizei und Staatsanwaltschaft fürchten. Finanzamt und Versicherungen waren eine andere Sache, aber dafür waren Caros Kollegen nicht zuständig.

In Werlebach rangierte Kramer seinen rostigen Lieferwagen auf den Hof des Polizeireviers, nahm die Kassette aus dem

Aufzeichnungsgerät und ließ sich von Engel und Caro zusichern, dass er wegen des Einbruchs, der ohne Sachbeschädigung verlaufen war, und des illegalen Abhörens vorerst nicht mit einer Strafverfolgung zu rechnen habe.

Caro zupfte an ihrer hübschen Nase. »Rogge hatte mich schon gewarnt, aber ich finde es toll, dass du um der Gerechtigkeit willen über deinen Schatten springst.«

»Von wegen Gerechtigkeit«, stellte Kramer klar, »ich will mein Honorar. Und ich finde es langsam zum Kotzen, dass sich kein Aas um Anna kümmert.«

»Damit meinst du hoffentlich nicht mich?«, fuhr Caro hoch.

»Nein, meine Süße. Obwohl auch du ruhig etwas mehr Eifer an den Tag legen dürftest. Schau mal, was wir so nebenbei erledigt haben. Anielda hat den Mann gesehen, der unmittelbar nach dem Schuss auf Corinna Babel aus dem DircksHaus gerannt ist. Hier ihre schriftliche Aussage. Und den Mann, Klaus Voudrain, haben wir heute in der Zerner Straße das zweite Mal gesehen. Hier auf der Kassette seine Stimme, direkt nachdem Corinna ihn bemerkt hat.«

Die Überraschung war gelungen, aber Caro wehrte sich noch immer gegen Kramers Vorwurf, sie tue zu wenig, um Anna zu finden.

»Ich habe lange und gründlich Akten gelesen und bin auf etwas gestoßen, was dir vielleicht entgangen ist«, brummte sie.

»Ich glaube nicht. Soll ich raten, was dir auf gefallen ist?«

»Nur zu.«

»Alle hatten plötzlich Geld. Irene Laysen konnte einen muffigen Trödelladen zu einer modischen Boutique umbauen. Peter Dircks konnte sich nach seinem Knastaufenthalt das Papiergeschäft kaufen. Klaus Voudrain konnte sich nach dem Gefängnis eine Spedition zulegen. Christine Nachtwächter war in der Lage, sich am Kauf einer Apotheke zu beteiligen. Woher kam dieser wundersame Wohlstand?«

Caro musterte Kramer nachdenklich.

»Aus dem Einbruch bei Eisele, heute Beelitz. Zu der Zeit oder kurz vorher war Eberhards Schwester Franziska die Geliebte von Werner Beelitz, sie arbeitete zugleich als Aushilfe in einem benachbarten Geschäft, Olix Alles für Ihre Reise. Es war kein Problem für sie, die Schlüssel für das Juweliergeschäft in die Hand zu bekommen und Wachsabdrücke anzufertigen. Vater Lorenz Nachtwächter stellte daraus prima Nachschlüssel her. Das Gleiche ist mit den Schlüsseln für das Geschäft Alles für Ihre Reise geschehen. Und ich wette jeden Betrag, dass die Beute aus dem Geschäft vorübergehend in dem Laden „Alles für Ihre Reise“ gebunkert wurde. Da hat die Polizei mit Sicherheit nicht gesucht. Franziska hat sich dafür bezahlen lassen. Ihr Anteil steckt in der Künstlerkolonie „Schwarzer Berg“ und in einem riesigen Haus in Ketzingen, Am Mühlenweiher. Und wenn eure Ballistiker noch einmal genau nachmessen, werden sie feststellen, dass die tödliche Kugel auf Nachtwächter aus einem Fenster eines Personalraumes des Geschäftes „Alles für Ihre Reise“ abgefeuert wurde. Voudrain hat die heiße Ware stückweise, wenn mal wieder Geld gebraucht wurde, nach Frankreich zu seinem Onkel geschafft. Der hat seinen Anteil bekommen, ebenso wie Voudou. Alle kassierten, deswegen haben auch alle geschwiegen. Die Beute war ja groß genug.«

»Was ist mit Irene Laysen?«

»Das weiß ich nicht. Vermutlich ja.«

»Eine wunderschöne Geschichte«, prustete Caro erzürnt. »Und was davon kannst du beweisen?«

»Nichts. Das überlasse ich der Kripo. Aber vielleicht eine kleine Recherchenhilfe, damit niemand auf Krokodilstränen hereinfällt. Die neugierige Anna war fast allen Beteiligten lästig, vielleicht sogar gefährlich geworden. Irene fühlte sich angebunden und richtete sich schon auf den Tag ein, an dem sie ohne ihre Tochter Anna eine neue Existenz aufbauen konnte. Die frühere Keiler-Bande wurde nervös, weil Anna unbedingt ihren leiblichen Vater kennen lernen wollte und das Märchen mit Eberhard Nachtwächter nicht länger glaubte.«

Caro schüttelte den Kopf: »Ich denke, Anna wollte unbedingt Eberhards Eltern und Geschwister finden?«

»Sicher, wollte sie. Aber nicht aus Sentimentalität, sondern einfach, weil sie sich von denen eine Bestätigung dafür erhoffte, dass der Keiler nicht ihr Erzeuger sein konnte.«

»Du schilderst mit einem Mal eine ganz andere Anna.«

»Du meinst, weil sie ihre Absichten nicht lauthals in ganz Werlebach verkündet hat? Wie auch immer, ich finde, es reicht, dass ich euch den Mann liefere, der auf Corinna Babel geschossen hat.«

»Der sie umgebracht hat«, verbesserte Caro hart. »Sie ist heute Morgen gestorben, der Hubschrauber, der sie nach Großhadern bringen sollte, brauchte gar nicht mehr zu landen.«

»Hat Corinna noch etwas sagen können?«

»Ja, sie hat den Namen Klaus genannt. Also wohl tatsächlich Klaus Voudrain.«

»Dann hast du einen scheußlichen Fall rasch geklärt.«

Caro sah Kramer groß an. »Und wo steckt Anna, du Klugschwätzer?«

»Das müssen wir ihren wahren Vater respektive Erzeuger fragen.«

»Und wer ist das?«

»Mit einiger Sicherheit nicht Eberhard Nachtwächter. Vielleicht Klaus Voudrain. Oder Peter Dircks.«

»Also bist du immer noch genauso klug wie Grem.«

»Nein, ich weiß zum Beispiel, dass Irene Laysen in der Nacht vom 28. auf den 29. Mai nicht zu Hause war, sondern bei Peter Dircks.«

Vor dem Revier musste Kramer dann grob werden, weil Anielda Zirkus veranstaltete. Als ob sie nicht mal mit Bus und Stadtbahn in ihr Büro kommen könnte. Oder mit einem Taxi, für das sie allerdings selbst löhnen musste.

Auch Caro wollte Kramer zurückhalten: »Wo willst du hin?«

»Mir ist noch etwas eingefallen.«

»Das tut es immer. Bitte vergiss nicht, mit deinem Einbruch bei Dircks und dem Telefonanzapfen hast du eigentlich unsere Geduld erschöpft.«

»Ich will dich jetzt nicht beleidigen, Caro, aber du bekommst am Monatsende dein Gehalt, ob du den Fall nun löst oder nicht. Bei mir ist das anders, Seybolat zahlt nur, wenn ich Ergebnisse vorweisen kann. Und diese illegale Giftmüllentsorgung in der Tongrube bei Kumberg ist nichts, wofür der Graue auch nur einen müden Cent herausrückt.«

»Vielleicht kriegst du dafür einen Orden.«

»Kann ich den zu einem ordentlichen Preis verkaufen?«

»Du bist ein schrecklicher Mensch.«

»Du nicht?«

»Was soll das denn heißen?«

»Du musst in den Unterlagen etwas gefunden haben, was zur Aufklärung von Annas Verschwinden erheblich beitragen kann.«

»Ach ja? Und was?«

»Eine ärztliche Bescheinigung oder ein Gutachten, weiß der Henker von wem, dass Eberhard Nachtwächter impotent war. Oder zumindest infertil.«

Caro fuhr zusammen und schaute Kramer an, als habe er plötzlich Feuer gespuckt. »Wie kommst du darauf?«

Kramer lachte, ließ die Scheibe hochkommen und gab Gas. Kaum hatte er sein Handy in die Halterung gesteckt, als es auch schon bimmelte.

Caro hörte sich ehrlich besorgt an: »Wer hat dir das verraten, das mit Eberhards kleinem Defekt. Jemand aus dem Präsidium?«

»Nein, keine Sorge. Irene hat mir etwas zu ausführlich von den schönen Stunden mit ihrem Keiler vorgeschwärmt. Das hörte sich an wie auswendig gelernt, sodass mir die Idee kam, es könne nie einen Beischlaf mit zeugungsfähigem Samenerguss gegeben haben.«

»Hast du mit Irene geschlafen?«

»Steht Anielda in deiner Nähe? Nein? Gut! Nein, habe ich nicht. Hätte ich gern, zugegeben, aber ich werde immer misstrauisch, wenn sich Frauen mir an den Hals werfen. Dann überlege ich zwangsläufig, wollen sie dich oder deine Recherchenergebnisse?«

»Und das schlägt auf die Libido?«

»Gelegentlich sogar sehr heftig.«

»Was hättest du ihr denn verraten können?«

»Wenig, aber ihre große Angst war oder ist, dass ihr jemand Anna mit der Begründung wegnimmt, die Mutter sei nicht fähig, mit ihrer Tochter fertig zu werden.«

»Ich denke, sie richtet sich schon auf ein Leben ohne Tochter ein?«

»Ja, aber mit dem Geld aus der Versicherung, die bei Annas Tod fällig wird.«

»Du bist ein herzloser Mensch.«

»Bei der Wahl zwischen Herz und Verstand entscheide ich mich halt immer für meinen Kopf.«

»Liebt Irene denn diesen Dircks?«

»Vielleicht. Jedenfalls kennt sie ihn lange und er war bis auf seine zwei Jahre im Knast immer zur Stelle, wenn sie Hilfe brauchte.«

»Liebe hat viele Wurzeln«, seufzte Caro und Kramer schwieg.

»Wo fährst du jetzt hin?«

»Ich suche den Rest des Schmucks.«

»Sei vorsichtig, Rolf! Ich möchte dich gern lebendig Wiedersehen. Und ein Essen schulde ich dir auch noch.«

»Keine Sorge, Caro.«

Weil Kramer nicht mit der Fähre übersetzen wollte, musste er bis nach Terborn hineinfahren, um dort über den Fluss zu kommen. Auf der Straße nach Ketzingen herrschte noch reger Verkehr, am Dorfmarkt war zum ersten Mal die Künstlerkolonie Schwarzer Berg ausgeschildert. Aber Kramer hatte kein Glück. Franziska Esteburg war nicht da; sie hatte angerufen, dass sie erst später kommen würde ja, von zu Hause aus.

An der Tür traf Kramer auf Sabrina, die aus allen Wolken fiel. »Rolf, muss ich heute den Palettentrick vorführen?«

»Nein, Sabrina. Wie geht es Ihnen beiden denn?«

»Ach, dem da drin geht’s gut, besser als mir.«

»Ich halte Ihnen die Daumen. Bis bald mal.« Sabrinas Kleid flimmerte nicht ganz so farbenfreudig wie sonst, saß aber sehr eng, der kommende Nachwuchs war bereits deutlich zu erkennen.

Kramer fuhr von dem dicht bewaldeten Hügel „Berg“ war für Hügel eine der landesüblichen Übertreibungen wie für viele Mitglieder des Vereins das Wort „Künstler“ in den Ort hinunter. Vor dem Haus in der Straße Am Mühlenweiher parkte wieder ein heller Kombi mit den zwei schwarz ausgemalten Frakturbuchstaben KV auf der Beifahrertür. Deswegen fuhr Kramer weiter und suchte sich einen Platz, den man vom Haus nicht einsehen konnte.

Das Haus hatte einen Anflug von pompös. Zweistöckig, das Erdgeschoss mit viel Glas. Der Vordergarten verriet die Hand eines tüchtigen Gärtners. Was mochte Herr Esteburg beruflich treiben?

Kramer schlich um das Haus herum und versuchte vergeblich, durch die Glasbausteine und Fenster etwas zu erkennen. In einem Zimmer zum Garten brannte ein schwaches Licht, er presste die Nase an die Scheibe und lauschte angestrengt. Nichts.

Plötzlich durchzuckte ihn ein rasender Schmerz, als habe jemand ohne Vorwarnung versucht, ihm das rechte Ohr abzureißen. Den Knall registrierte er erst hinterher, das Krachen betäubte ihn. Neben ihm spritzten Steinteilchen und Putzstücke aus der Wand und trafen seine Backe und sein Ohr, sodass Kramer laut aufschrie. Als er mit der Hand nach der Wunde tastete, spürte er Feuchtigkeit. Seine Fingerspitzen hatten sich von Blut rot verfärbt,

»Was willst du hier?«, brüllte eine Männerstimme, und als Kramer herumfuhr, tanzte ein roter Schleier vor seinen Au

gen. Die Stimme kannte er. Aber den Mann konnte er nicht scharf genug sehen, um ihn wiederzuerkennen.

»Los, Hände hoch und ganz dicht an der Hauswand entlang in meine Richtung. Keine Dummheiten. Die nächste Kugel trifft dich in den Bauch.«

Kramer gehorchte wortlos, der Mann meinte es ernst und ein Gewehr war immer ein überzeugendes Argument. Der Lauf zielte auf Kramers Bauch. Als er sich an dem Schützen vorbeidrückte, erkannte er ihn auch: Klaus Voudrain.

Voudou stieß die Haustür auf und deutete in die geräumige Diele. »Wir sind alle neugierig, was du Arschloch hier willst.«

Hinter der Diele lag ein großer Wohnraum, in dem eine schwache Lampe brannte. Als Voudou mit seiner „Beute“ hereinkam, setzte ein wildes Stimmengewirr ein, alle redeten durcheinander.

Trotz des mulmigen Gefühls in seiner Magengrube musste Kramer kichern. Da waren ja fast alle versammelt.

»Na, was ist denn so lustig?«, knurrte Voudou.

»Eine Anna-Laysen-Gedächtnisversammlung?«

Alle schauten Kramer verblüfft an: Irene Laysen, Peter Dircks, Bernhard und Christine Lankenow, eine zierliche, quirlige Frau in einem engen und farbenfrohen Hausanzug wahrscheinlich Franziska Esteburg, geborene Nachtwächter und der große kräftige Mann, den Kramer am Bellhorner Stausee in Gegenwart von Christine Lankenow beobachtet und belauscht hatte, Werner Beelitz. »Oder eine Generalversammlung zur neuen Verteilung der Beute aus dem Einbruch in das Juweliergeschäft Eisele, heute Beelitz?«

»Halt’s Maul!«, brüllte Voudou und versetzte Kramer mit dem Gewehrkolben einen so brutalen Stoß in das Kreuz, dass Kramer sich lang ins Zimmer legte und dabei einen Stuhl umriss, auf dem ein kleiner Stapel Papier gelegen hatte.

»Nun ist aber gut!«, kreischte Franziska Esteburg auf und drohte Voudrain mit der Faust.

Beelitz sah ungläubig von einem zum anderen. »Wer ist das denn?«, fragte er unsicher.

»Ein Privatschnüffler«, antwortete Dircks laut. »Ein Privatdetektiv, den der^4 W engagiert hat.«

»Und wozu?«

Die korrekte Antwort übernahm Kramer lieber selbst. »Einmal, um den Rest des Schmucks und Edelmetalls aus dem Einbruch zu finden, dann aber auch, um Annas Schicksal zu klären. Und nebenbei möchte die Kripo von mir gern hören, warum Voudrain gestern in der DircksWohnung die harmlose Corinna Babel erschossen hat.«

»Waaas?« Irene Laysen fiel fast in Ohnmacht. Unter Umständen wusste sie noch gar nichts vom Tod ihrer Aushilfskraft. Auch Christine Lankenow starrte Kramer entsetzt und ungläubig an. Die anderen schnappten nur hörbar nach Luft.

»Ich glaube, ich opfere besser eine zweite Kugel«, schrie Voudrain und trat Kramer in die Seite, dass der wieder aufheulte. Der Schmerz flutete wie eine brennende Woge durch seinen Körper. Es fiel ihm schwer, seine Stimme unter Kontrolle zu bringen und genug Luft für eine Antwort zu schöpfen.

»Vor so vielen Zeugen, Voudou? Überdies wäre es zwecklos, ich habe meine Aussage vor der Kripo bereits gemacht und unterschrieben.«

»Ich kann das nicht länger mit ansehen, wie mein schöner neuer Teppich versaut wird.« Franziska Esteburg sprang auf und zerrte Kramer an einem Arm hoch. Bis auf Voudou lachten alle trotz der Spannung in dem Raum leise auf.

»Ab ins Bad, die Wunde muss verbunden werden.« Franziska schob Kramer zur Tür und niemand trat ihnen in den Weg. Sobald sie die Tür geschlossen hatte, flüsterte sie warnend: »Seien Sie vorsichtig, Voudou meint es leider ernst.«

»Warum ist er so brutal? Hat er so viel zu verlieren?«

»O ja.« Doch als Kramer Franziska in dem großen Spiegel fragend anschaute, drehte sie den Kopf zur Seite und kramte aus einem Apothekenschränkchen Verbandsmaterial und eine Wundsalbe heraus.

Er deutete auf einen großen Blutstropfen, der an seinem Öhr hinabrann, und sie ließ lauwarmes Wasser laufen, nahm einen Waschlappen und half ihm, die Wunden zu reinigen. Die Salbe verteilte sie recht großzügig, ebenso das Pflaster und die Mullstücke, die sie mit Klebestreifen befestigte. Seine Gesichtsseite sah bald aus wie ein verunglückter Streuselkuchen.

Dann bummerte jemand heftig gegen die Tür, Voudou brüllte: »Was treibt ihr da drin?«

»Ich muss ihn verbinden«, rief Franziska zurück und zwinkerte Kramer im Spiegel zu. Jede Wette, dachte er, dass sie Angst hat.

»Blödsinn. Unkraut vergeht nicht.« Dabei rasselte Voudou an der Klinke und Kramer fiel erst jetzt auf, dass Franziska von innen abgeschlossen hatte.

»Wenn du nicht sofort aufsperrst, trete ich die Tür ein«, wütete Voudou.

Kramer und Franziska kamen zu demselben Ergebnis: Voudrain meinte es ernst.

»Mach Platz, du Arschloch.« Sie drehte den Schlüssel um und riss die Tür schwungvoll auf. Voudou kam hereingestolpert und wurde erst von der Badewannenkante schmerzhaft gestoppt. Nach einem Blick auf Kramers Gesicht schien sich Voudou zu beruhigen. Franziska Esteburg drängte sich an ihm vorbei, Voudou griff ihr brutal in den Schritt und drückte sie gegen die Wand. Doch Franzi wusste sich zu wehren. Ihr Knie fuhr hoch und traf Voudrains edlere Teile mit einer Wucht, die ihn aufheulen ließ.

Die anderen Gäste lächelten wissend, als die drei ins Wohnzimmer zurückkehrten. Eine Minute herrschte ein gespanntes Schweigen, keiner wollte etwas sagen, zumal Voudrain weiterhin heftig mit dem Gewehr herumfuchtelte.

»Das ist doch ein alter Wehrmachtskarabiner, oder?«, erkundigte sich Kramer endlich. Einer musste ja die Geständnisse provozieren. Warum war wohl Beelitz hier? Der Juwelier schien nicht zu begreifen, was sich hier abspielte.

»Was geht dich das an?«, wollte Dircks wissen.

»In der vorigen Woche hat jemand mit einem solchen Karabiner auf mich geschossen, aber nur mein Auto beschädigt.«

»Schade«, bedauerte Voudou. »Eine schöne Waffe. Leider gehört sie mir nicht.«

So viel Frechheit verdiente einen Dämpfer, deshalb fuhr Kramer entschlossen fort: »Die Kripo hat sich für die Kugel aus meinem Auto interessiert und dabei herausgefunden, dass seinerzeit Eberhard Nachtwächter mit demselben Gewehr getötet wurde, mit dem man auch auf mich geschossen hat.«

Wie Kramer erhofft hatte, schauten sich alle unruhig an. Bernd Lankenow schüttelte den Kopf: »Wir werden aus Ihnen nicht recht schlau, Herr Kramer. Was wollen Sie eigentlich?«

»Das ist doch ganz einfach. Der Einbruch bei Eisele, der Tod Eberhards und Annas Verschwinden hängen selbstverständlich zusammen.«

»Das glaube ich nicht«, sagte Irene heftig.

Beelitz lehnte an der Wand und grübelte, wobei er der Reihe nach alle Anwesenden misstrauisch-abschätzig musterte. Sein vorwurfsvoller Blick blieb bei Christine Lankenow hängen, die ihm ausweichen wollte und intensiv mit Peter Dircks flüsterte. Nach einer Weile atmete Beelitz tief durch. Seine Miene veränderte sich und Kramer hätte jede Wette angenommen, dass Beelitz gerade in Gedanken seine Geliebte Christine Lankenow verabschiedet hatte. Sie spürte den Wechsel, blickte nur einmal flüchtig auf und strich dann eifrig ihren weiten Rock glatt. Ihr weißer Dienstkittel lag über einer Stuhllehne. Was mochte sie alle heute zusammengeführt haben?

»Hier sitzen genug Menschen, die dir das bestätigen könnten.«

»Und warum tut es keiner?«

»Weil jeder ein Interesse daran hat, seine Beteiligung an mehreren Verbrechen zu verschleiern.«

»Aber Sie können diese Schleier lüften, nicht wahr?«, höhnte Christine Lankenow.

»Zum Teil, ja. Mir fehlen nur noch kleine Stücke in dem großen Puzzle, aber vielleicht hilft mir ja der eine oder andere von Ihnen.«

»Dann legen Sie mal los!«, befahl Bernhard Lankenow und schaute seine Schwägerin Franziska spöttisch an.

»Okay. Wir beginnen mit einer Familie Nachtwächter. Es gab zwei Töchter, Christine und Franziska. Vater Lorenz wünschte sich aber noch einen Sohn und der Nachkömmling wurde auf den Namen Eberhard getauft. Doch das Nesthäkchen Eberhard besaß bei Weitem nicht die Klugheit und die Zielstrebigkeit seiner Schwestern. Im Gegenteil. Er war, was diese beiden Eigenschaften anbetrifft, von der Vorsehung stiefmütterlich bedacht worden.« Kramer schaute Irene scharf an, doch sie schwieg. »Außerdem war er mit einem kleinen Defekt belastet, er war unfruchtbar.« Christine verzog den Mund. »Was wahrscheinlich ein Glück für ihn und die Familie war; denn von Nachbarskindern und Straßenfreunden, denen er sich beweisen wollte, lernte Eberhard Brutalität und Rücksichtslosigkeit und wurde zu einem gefürchteten Schläger. Intellektuell dagegen war er mit der Hilfe bei Laysens Umzügen und Entrümpelungsaktionen voll aus gelastet. Hubert Laysen hatte eine Adoptivtochter. Irene, ein, wie alle erzählen, bildschönes Mädchen. Ob sie sich in Eberhard oder Eberhard sich in sie verliebte, spielt eigentlich keine Rolle. Ob Eberhard zu diesem Zeitpunkt von seinem körperlichen Defekt schon etwas wusste, auch nicht. Alle Welt glaubte natürlich, dass die entzückende Irene und der wikingerhafte Eberhard wie man das damals nannte - miteinander gingen und auch miteinander schliefen. Aber bis auf etwas Knutschen, Schmusen und Petting lief da nichts.«

Irenes Kopf fuhr hoch, sie biss sich auf die Lippen und betrachtete Kramer mit gespannter Wut. Dircks räusperte sich und Irene entspannte sich, lächelte den Nachbarn an. Sie atmete schwer.

»Dass Irene und Eberhard miteinander schliefen, glaubte auch ein Goldschmiedemeister namens Werner Beelitz, der in ein renommiertes Geschäft gut eingeheiratet hatte, aber seiner Frau schnell untreu geworden war. Unter anderem mit einer Studentin namens Franziska Nachtwächter.«

Franzi nickte fröhlich, nicht im Mindesten verlegen.

»Sie arbeitete als Aushilfskraft in dem Geschäft Alles für Ihre Reise. Beelitz erschien dort häufiger, um sich die neuen Aushilfen anzuschauen.«

Beelitz stellte sich gerade hin, er wollte protestieren und zupfte an seiner rotweißblauen Seidenkrawatte, aber Franziska Esteburg winkte so energisch ab, dass er sich wieder an die Wand lehnte und den Mund hielt. »Ich hoffe, Sie nehmen mir die Bemerkung nicht übel, aber Sie hatten schon genug Erfahrungen, um Beelitz schnell zu durchschauen. Doch jetzt tut sich eine Lücke in meinen Kenntnissen auf. Wer kam zuerst auf die Idee, dass ein Einbruch bei Eisele alle Träume vom großen Geld erfüllen konnte, die die Keiler-Bande damals hegte?«

»Das war Peter«, mischte sich Voudrain unerwartet ein. »Er hatte Franzi eine Zeit lang energisch den Hof gemacht, aber sie hatte ihn abblitzen lassen.«

Franziska Esteburg verteidigte sich: »Peter war nett, aber zu jung und zu unbedarft für mich.«

»Und zu arm, wenn du mir diese wichtige Ergänzung erlaubst«, höhnte Voudou.

Kramer schaute Dircks an, der zuerst den Kopf schüttelte und dann auf Voudrain wies. »Die Idee stammte von ihm, nachdem er erfahren hatte, dass sein Onkel, der in Frankreich lebte, ein Hehler war.«

Voudou fuhr hoch und schwenkte wütend den Karabiner. »Das hättet ihr gerne, wie? Alle Schuld auf mir abzuladen.«

»Willst du leugnen, dass du zu mir gekommen bist, nachdem ich dir erzählt hatte, dass Franzi mit diesem Beelitz schlief und Gelegenheit hatte, an die Schlüssel heranzukommen?«

Voudrain fauchte vor Wut. »Du also auch, mein Lieber?«

Christine und Franziska beschworen fast im Chor. »Ganz ruhig, Klaus. Denk an die große Keiler-Versammlung, bei der wir uns über die Aufteilung der Beute gestritten haben, bevor wir die Beute hatten.«

Beelitz wurde bleich wie ein Blatt Papier. Aber für ihn interessierte sich im Moment kaum jemand. Nur Irene drängte sich an ihn heran und nahm seine Hand. In den engen Tuchhosen und dem hellen, engen Strickhemd sah sie jung, süß und verletzlich aus. Aber ihre Geste wirkte weniger liebevoll als fürsorglich.

Christine fuhr fort und betrachtete Kramer, als sei der etwas begriffsstutzig. »Bei Nachtwächters herrschte mal wieder absolute Ebbe in der Kasse, unserem Vater drohte der Bankrott. Eberhard, Franzi und ich haben auf ihn eingeredet wie auf einen lahmen Gaul, bis er zugestimmt hat, den Deal durchzuziehen. Ich bin eines Abends mit Franzi gegangen, als sie sich mit Beelitz in einer besseren Gartenlaube traf und die beiden stundenlang bumsten. Vater hatte mir gezeigt, wie man Wachsabdrücke macht, Franzi hat mir die Schlüssel rausgeworfen und ich habe die Abdrücke hergestellt und dann die Schlüssel wieder reingebracht, Beelitz hat nichts gemerkt.«

Der Goldschmied stöhnte auf und lief so rot an, dass Kramer fürchtete, er werde gleich einen Schlaganfall bekommen.

Voudrain hatte ihn nicht aus den Augen gelassen und sagte nun verächtlich: »Wundert dich das, du Drecksau? Stell dich bloß nicht so an!«

»Okay, anschließend gab es eine Versammlung, bei der die Beute aufgeteilt wurde«, fuhr Kramer leise fort, aber Christine Lankenow schüttelte den Kopf: »Nicht sofort. Peter hatte die schlaue Idee. Wenn Franziska das Verhältnis mit Beelitz aufgegeben und unmittelbar danach ein Einbruch bei Beelitz stattgefunden hätte, würde die Kripo fast automatisch bei uns erscheinen. Und die Keiler hatten schon genug auf dem Kerbholz. Also haben wir noch etwas gewartet. Die Beziehung ging ohnehin ihrem Ende zu. Beelitz hatte irgendwie näheren Kontakt zu Irene bekommen und seine Freundinnen haben ihn schon immer schnell gelangweilt.«

Weil ihn alle anklagend musterten, brüllte Beelitz: »Was schaut ihr so? Natürlich habe ich gedacht, der Eberhard und die Irene würden miteinander schlafen. Sie hat mir gegenüber sogar behauptet, sie würde die Pille nehmen.«

»Einer Sechzehnjährigen musste die Pille damals noch verschrieben werden, oder?«, warf Kramer ein.

Doch jetzt kam Christine Lankenow ihrem Liebhaber zu Hilfe. »Hulda, der Stiefmutter, war das durchaus zuzutrauen, sie lebte in der ständigen Angst, die uneheliche Adoptivtochter Irene werde ebenfalls ein uneheliches Kind bekommen. So etwas sei quasi vererbbar. Eine widerliche Frau. Und als es passiert war und Irene ihren Freund Eberhard um Hilfe bat, hat der bei der Bande durchgesetzt, dass Irene an der Beute aus dem Eisele-Laden beteiligt wurde.«

»Was haben Sie Irene denn angeboten oder versprochen, damit sie mit Ihnen ins Bett ging?«, blaffte Kramer den verstummten Beelitz an.

Der würgte einen Moment, bis Irene ihn anstieß. »Sag’s ruhig!«

»Er wollte ihr angeblich helfen, ihre richtigen Eltern zu finden«, meinte Voudrain verächtlich.

»Woher wollen Sie das wissen?«

»Ich war sozusagen dabei, als er sie zum ersten Mal auszog, aufs Bett warf und sich über sie hermachte.«

»Du lügst doch, sobald du den Mund aufmachst!«, zischte Beelitz.

»Meinst du? Ich hab’s sogar fotografiert.«

Beelitz sah aus, als würde er jeden Moment explodieren, aber Irene lachte schrill auf. »Stimmt. Voudou hat mir einen Abzug geschenkt.«

»Warum denn das?«, wollte Kramer wissen.

Voudrain knirschte laut. »Gewisse überhebliche Typen sollten ruhig mal auf den Teppich zurückkommen.«

»Redest du jetzt von dir?«, fauchte Christine.

»Hast du das Foto aufgehoben?«, fragte Kramer und sah Irene fest an.

Sie nickte, konnte aber nicht weiterreden, das übernahm Dircks. »Irene hat es in einem kleinen Tresor aufbewahrt, in dem auch ihre Geschäftsunterlagen und Dokumente lagen. Normalerweise hat sie das Fach abends abgeschlossen, bevor sie schlafen ging. Doch am 28. Mai hatte sie das vergessen, weil sie sich sehr aufgeregt hatte wegen eines Streites mit ihrem Freund Waldemar Denzel. Sie ist losgelaufen und hat den Tresor offen gelassen. Die neugierige Anna hat natürlich die Chance genutzt, sich etwas anzusehen, was sonst immer vor ihr verschlossen war, und hat das Foto gefunden. Sie hat den richtigen Schluss daraus gezogen, dass nämlich nicht Eberhard Nachtwächter ihr Vater war, was sie ohnehin nie hatte glauben wollen, sondern Werner Beelitz.«

Kramer nickte. »Ich denke mal, sie hat sich am 29. Mai mit Ihnen verabredet, Herr Beelitz, nachdem ihr Versuch, einen Lehrer zu Hilfe zu rufen, gescheitert war.«

Beelitz drohte jeden Moment umzufallen. Er war totenbleich und zitterte am ganzen Körper. Kramer war überzeugt, dass Beelitz von Franziskas und Christines Beihilfe zum Einbruch in das Juweliergeschäft nichts gewusst hatte. Und nun legte man ihm noch eine andere Schlinge um den Hals. Seine Augen rollten wild hin und her, er rang krampfhaft nach Luft und plötzlich, ohne Vorwarnung, raste er auf die Zimmertür zu, schubste Franziska Esteburg und ihre Schwester Christine Lankenow aus dem Weg und riss die Tür auf.

»Bleib stehen, du Mörder!«, schrie Voudrain aus voller Kehle und feuerte schon, während er den Karabiner noch hochriss.

Die Kugel verfehlte den fliehenden Beelitz und zerschmetterte eine Vase, die auf einem niedrigen Tischchen neben der Tür stand. Während das Wasser noch spritzte, hatte Dircks Voudrain das Gewehr aus der Hand gerissen.

»Bist du völlig verrückt?«, brüllte der Schreibwarenhändler dabei. »Willst du Vollidiot immer alles mit Pulver und Blei regeln?«

»Dann hat er tatsächlich Eberhard erschossen?«, fragte Kramer fassungslos.

»Ja.«

»Aber warum denn nur?«

»Er hatte Schiss, dass Eberhard mit der gesamten Beute abhauen würde.«

»Und mich mitnahm«, ergänzte Irene halb stolz, halb schamhaft.

»Und uns alle bei dem Versuch, die Beute loszuwerden, in den Knast bringen würde«, keuchte Voudrain.

»Die Beute war in dem Geschäft Alles für Ihre Reise versteckt?«

»Ja«, seufzte Franzi, »ich hatte auch Nachschlüssel für das Geschäft von Papa Olix.«

»Und was suchte Voudou an dem Abend in dem Laden?«

»Was wohl, du Klugscheißer?! Jetzt hatten sie die Klunker aus dem Laden rausgeholt, aber sie wussten natürlich nicht, wer das alles für sie zu Geld machte.«

»Ihr Onkel in Frankreich.«

»Ja. Der wollte fünfzig Prozent und ich wollte zwanzig; ; das war den Kinderchen zu viel, sie wollten es lieber auf eigene Faust in Hamburg oder Frankfurt versuchen. Damit die Kripo sie sofort fasste und auch mich hinter Gitter brachte. Doch irgendjemand war klug genug, sich die Sore unter den Nagel zu reißen und sie zu verstecken, bis sich alle Gemüter etwas abgekühlt hatten.«

»Was du durch einen prächtigen Schuss beschleunigt hast«, stöhnte Christine. »Jetzt hatten wir nicht nur einen Einbruch an den Hacken, sondern auch einen Mord.«

»Ich wollte Eberhard nicht töten, ich wollte ihm nur einen Denkzettel verpassen. Und für den Abend lahm legen.«

»Glauben Sie ihm kein Wort! Voudou ist ein brutaler Besserwisser und kaltschnäuziger Lügner«, warnte Christine.

Sie hatte kaum ausgesprochen, als sich Voudrain auf sie stürzte und seine blindwütige Miene versprach Mord. Das war ein Fehler, Bernhard Lankenow trat unerwartet einen Schritt vor, um seine Frau zu verteidigen, und hielt plötzlich ein Schnappmesser in der Hand. Er musste die Waffe gar nicht bewegen, der verblüffte Voudou stolperte und fiel genau auf die Messerspitze, schrie und sackte zusammen. Die Klinge war ihm oberhalb des Jeansgürtels in den Magen gedrungen.

»Schluss jetzt!«, befahl Kramer und ging ans Telefon, um Notarzt und Mordkommission zu alarmieren.

Während sie auf Garo und ihre Leute warteten, fragte Kramer Dircks: »Was hat Voudrain gestern bei Ihnen gewollt?«

»Voudou brauchte Geld für sein Geschäft und weiß nicht, wo die restliche Beute versteckt ist. Dummerweise hatte ich ihn gefragt, wann der nächste Transport nach Frankreich geht, weil Franzi ein wertvolles Stück verkaufen wollte. Er glaubte deshalb, der gesamte Rest liege bei mir im Keller.«

Irene begann zu schluchzen. »Wenn ich nur dieses verdammte Foto nicht aufgehoben hätte.«

Kramer wusste nicht, wie und ob er sie trösten sollte. Aber eine Frage musste sie ihm noch beantworten: »Liebe Irene, wenn du mit einem wildfremden Mann ins Bett gestiegen bist, nur um die Namen deiner Eltern zu erfahren, warum hast du dann Anna die Geschichte mit Eberhard Nachtwächter vorgeflunkert?«

»Sie konnte doch den Mund nicht halten. Wenn ich den Namen Beelitz erwähnt hätte, hätte sie den sofort in Werlebach herumerzählt, und ich hatte eine Vereinbarung mit Beelitz, dass er mir bei meinem Geschäft hilft, wenn ich dafür sorge, dass seine Frau nichts von Anna erfährt.«

»Katrin Beelitz muss aber doch von seiner Untreue irgendetwas gewusst oder geahnt haben.«

»Hat sie auch. Doch bei Anna waren unter Umständen Erbansprüche drin, und das war für Katrin Beelitz eine Horrorvorstellung. Wenn sie schon keine eigenen Kinder krie

gen konnte, dann wollte sie auf keinen Fall die Seitensprünge ihres Mannes mit dem väterlichen Erbe versorgen.«

»Hat Beelitz dir denn geholfen, deine Eltern zu finden?«

»Ja, hat er.« Irene schnitt eine Grimasse. »Hubert hatte ihm wohl genug verraten.«

»Die waren wohl nicht so, wie du sie dir vorgestellt hattest?«

»Nein, ganz und gar nicht. Sie war Kellnerin in einer Fernfahrerkantine, er fuhr einen Lastwagen und beide sind bei einem Brand in der Kantine umgekommen.«

»Und wem gehört nun der Karabiner?«

»Ursprünglich mir. Hubert Laysen hatte ihn aus dem Krieg mitgebracht. Eines Tages erschien Voudou bei mir und bot mir viel Geld für das Gewehr. Ich steckte mal wieder in finanziellen Schwierigkeiten und habe die Waffe mit Vergnügen an Voudou verkauft.«

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