Читать книгу Krimi Paket Mörderisches Lesefutter im August 2021: 16 Romane - A. F. Morland - Страница 15

8.

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Die Frage wälzte Kramer lange hin und her, nachdem er sein Auto am Ruhlandhaus abgestellt und sich zu einem Bummel durch die Innenstadt entschlossen hatte. Nicht weit vom Eingang der Merkur-Galerie hörte Kramer klassische Musik, Boccherini, wenn er sich nicht irrte, ein frühes Streichquartett, umgeschrieben für zwei Gitarren und eine Geige. Die Gitarrenspieler mussten noch viel lernen und üben, aber die Geigerin hatte ausgelernt, und als Kramer sich durch den Kreis von Neugierigen drängte, erkannte er zu seiner Verblüffung Eva Posipil. Ab und zu flog eine Münze in den umgedrehten Strohhut, den sie vor sich auf das Pflaster gelegt hatte. Aus der Galerie kamen zwei uniformierte Wächter heraus, die nur flüchtige Blicke auf das Trio warfen und ohne Kommentar weitergingen. Klassische Musik wurde geduldet, Kramer hatte im Tageblatt gelesen, dass der Terborner Verkehrsverbund in den Tunnelbahnhöfen der S und U-Bahnen Mozart, Haydn und Schubert abspielte, weil diese Musik unerwünschte Dealer, Schnorrer und Rowdys erfolgreicher vertrieb als Sicherheitsstreifen mit großen Schäferhunden. Das Rondo endete mit einem Akkord, für den das schöne Wort galt, dass gut gemeint in der Regel das Gegenteil von gut bedeutete.

Kramer ging bis zu dem Hut vor, ließ einen Schein hineinflattern und flüsterte Eva zu: »Wenn ihr Hunger habt, lade ich euch zum Essen ein.«

Ihr Gesicht hellte sich auf und ihre Augen funkelten. »Tut mir leid, was wir dem armen Boccherini antun«, entschuldigte sie sich leise und schob ihre Sonnenbrille hoch.

»Hauptsache, ihr erkennt und hört eure Untaten noch«, gab Kramer zurück und schüttelte den beiden Gitarrenspielern die Hand. Sie hatten nichts dagegen, diesen Platz zu verlassen und sich in die Eintopbude einladen zu lassen, die etwa zehn Fußminuten entfernt lag. Eva Posipil erregte sich unterwegs über den Supermarkt in Syden.

Die Bezahlung war mäßig, aber aufgehört hatte sie, weil dort niemand auf ihre Bitte eingehen wollte, ab und zu die Arbeitszeiten zu verlegen. »Ich muss doch üben, Rolf.«

»Was spielst du denn im Moment?«

»Quer durch den Garten. Wir versuchen, ein Klavierquintett auf die Beine zu stellen.« >Wir< das waren die beiden Gitarrenspieler, die wie Eva an der Musikhochschule Examen gemacht hatten, Bratsche und Cello, und nun sehen mussten, wie sie ihre Brötchen verdienten. Die Pianistin unterrichtete mittlerweile an einer privaten Musikschule. Der fünfte, ein weiterer Geiger, hatte nach dem Vorspielen ein Angebot vom Städtischen Symphonieorchester erhalten und überlegte noch, ob er es annehmen sollte.

Kramer gewann den Eindruck, dass ihre heutigen Begleiter an Eva nicht nur deren geigerische Fähigkeiten schätzten, sie balzten ganz nett. Aber diese Wahl musste Eva allein treffen. Sie suchte jedenfalls im Moment einen Nebenjob, den sie sich mit Blick auf die Übungszeiten selbst besser einteilen konnte als die Arbeit an der Supermarktkasse. Kramer gab ihr die Handynummer von Nicole Reiter und Eva versprach, die schönen Grüße auf keinen Fall zu vergessen.

»Du kommst weit rum!«, lobte sie und Kramer schielte sie misstrauisch von der Seite an, weil er ihrem fröhlichen Ton nicht recht traute. Die Fähigkeit, ein völlig harmloses Gesicht aufzusetzen, hatte sie zweifellos von ihrem Vater, dem Ahnenforscher, geerbt.

Jens Rogge, früher als Hauptkommissar Leiter des ersten Kommissariats und dann, weil er bei einem Fall zu viel ausgebuddelt hatte, vorzeitig zum Rückzug in den Ruhestand gezwungen, erinnerte sich noch gut an den Mordfall Eberhard Nachtwächter. »Nein, bleib mal am Apparat, ich muss nur eben meine alten Unterlagen hervorkramen.«

Das dauerte nur zwei Minuten. Wahrscheinlich hatte Caro ihren Vorgänger schon vorgewarnt, was Rogge nicht bestritt. »Ja, hat sie, von ihr weiß ich auch, dass Victor Seyboldt dir einen Auftrag gegeben hat. Der Schütze hat im ersten Stock des Rackenhofes an einem Fenster zum Hof gestanden ... Natürlich, es war ein Zufallstreffer, ausgerechnet in den Hals, nicht einfach in den Körper oder in das Motorrad ... Sicher, der Tod wurde, wenn nicht beabsichtigt, dann doch billigend in Kauf genommen ... Feinde, Feinde? Moment...« Kramer hörte, wie umgeschlagene Blätter raschelten. »Von der Keiler-Bande hast du schon gehört. Und auch, dass Nachtwächter zwei Tage später vor Gericht erscheinen sollte ... Ja, einer aus der Bande hatte gesungen. Der Knabe ist kurz nach seiner Aussage von einem Maurergerüst gestürzt... Aber sonst? Nachtwächter hatte, soweit wir wissen, keine Feinde, von den Geschädigten der Einbrüche und Überfälle einmal abgesehen. Aber woher sollten die wissen, dass sie ihn auf den Parkplätzen hinter dem Rackenhof antreffen würden? ... Enttäuschte Freundinnen? Möglich, aber nicht sehr wahrscheinlich. Nachtwächter war zu der Zeit mit einer Irene Laysen befreundet, die kennst du ja, mit Annas Mutter ... Und jetzt möchtest du natürlich wissen, ob Nachtwächter den Einbruch bei Eisele begangen hat ... Also, mein Freund, wir haben keine Spuren von ihm gefunden. Auch kein Stück der Beute, obwohl wir die Wohnung und die Werkstatt des Nachtwächters auf den Kopf gestellt haben ... Sicher, Nachtwächters Vater war Schlosser und besaß die nötige Ausrüstung, um von den Originalschlüsseln perfekte Nachschlüssel anzufertigen. Das hat er bestritten und wir haben ihm das Gegenteil nicht nachweisen können ... Finanziell ging’s dem Geschäft Eisele auch sehr ordentlich, es war auf einen Versicherungsbetrug nicht angewiesen. Dann hätte Seyboldt auch nicht gezahlt ... Wo steckt die Sore, und wenn Teile daraus verscherbelt worden sind, von wem an wen und wo und wie ... ? Die Kugel, auch das noch, die hat uns gewaltig viel Arbeit beschert und vermutlich mächtig in die Irre geführt. Ein Wehrmachtskarabiner 98 ... Übrigens hatte Nachtwächter mit dem Bremsen angefangen, die KTU hat in dem Lämpchen des Bremslichts an dem Motorrad Verschmelzungsspuren mit dem Glas der Birne gefunden ... Ob Nachtwächter ohne den Treffer den Aufprall vermieden hätte? Rolf, du darfst eine Münze werfen. Ich weiß es nicht und unsere Gelehrten wissen es auch nicht ... Sonstige Spuren am Motorrad? ... Null Komma null ... Wann treffen wir uns wieder einmal zum Skat?«

»Jens, ich muss zunächst ins Ruhrgebiet. Zeugen befragen, was Grem zu flüchtig erledigt hat.«

»Hör mal zu, Rolf. Ich bin kein Freund von Kurt Grembowski, aber wenn du jetzt Anna finden solltest, kann ihn das seinen Job kosten. Ich bin vor einigen Tagen Karl Simon über den Weg gelaufen und der Kriminalrat kochte ziemlich.«

»Dann soll er seinen Unmut nicht nur an Grem auslassen, sondern auch an diesem Schönling in der Presseabteilung.«

»Dessen Tage sind schon gezählt. Georg Zachmann hat bereits viel von seiner strahlenden Schönheit verloren. Bis bald mal, Rolf.«

»Wir sehen uns, mach’s gut, Jens.«

Mit letzter Entschlusskraft raffte Kramer sich auf und fuhr noch einmal nach Werlebach. Unterwegs gähnte er ganze Arien, er hätte in der Eintopbude nicht so zuschlagen sollen.

Aber nun hatte Christine Lankenow Zeit, führte ihn nach hinten in den Aufenthaltsraum und bot ihm einen Kaffee an. Die zwei Helferinnen füllten vorn Schubladen mit Medikamenten auf. Sie waren ungestört.

»Wo steckt Anna Laysen?«, begann Kramer direkt, doch Christine lachte nur. »Das dürfen Sie mich nicht fragen, ich habe keine Ahnung.«

»Anna radelt von der Fähre runter, biegt in den Krimser Forst ein, um nach Fleissheim zu ihrer Freundin Gunda Simrock zu fahren. Dann schießt ihr plötzlich etwas durch den Kopf, sie biegt ab, um einen anderen Menschen aufzusuchen. Wer könnte das gewesen sein?«

»Auch hier wieder dieselbe Antwort: Ich habe keine Ahnung.«

»Mir kam der Gedanke, es könne sich um Ihre Schwester Franziska handeln.«

»Warum denn das?« Christines Erstaunen schien echt zu sein.

»Anna war auf der Suche nach ihrem Vater.«

»Mein Bruder ist vor Annas Geburt ermordet worden, er liegt auf dem Westfriedhof in Mingenbrück begraben.«

»Das weiß ich. War denn Ihr Bruder tatsächlich Annas Erzeuger?«

»Wissen tu ich das nicht, woher auch. Aber Irene hat nie einen Zweifel daran gelassen. Meine Eltern haben sogar eine Zeit lang gefürchtet, Irene Laysen könne von ihnen Unterhalt für Eberhards Kind verlangen.«

»Ja, die Geschichte von dem verunglückten Besuch mit der kleinen Anna im Wagen kenne ich. Mir haben viele Menschen erzählt, Eberhard habe Manschetten vor Ihnen gehabt, weil Sie sozusagen die Familie gemanagt und kommandiert haben. Gut denkbar, dass er Ihnen nicht gestanden hat, dass er einer Minderjährigen ein Kind gemacht hatte. Doch mit Ihrer Schwester Franziska verstand er sich sehr viel besser. Heißt es wenigstens. Wenn er ihr vor seinem Tod die Schwangerschaft gestanden haben sollte, hätte sich Anna mit dem Gedanken zufrieden geben müssen, dass nicht irgendwo ein Märchenprinz auf seine Tochter wartete, sondern dass der Anführer einer Jugendbande, der auf dem Westfriedhof liegt, ihr Vater ist respektive war.«

»Klingt logisch. Aber danach müssen Sie Franzi schon selbst fragen. Ich habe seit Jahren nicht mehr mit ihr gesprochen.«

»Würde ich gerne tun, wenn ich wüsste, wie sie heute heißt und wo ich sie finden kann.«

»Soviel ich weiß, Herr Kramer, heißt sie nach wie vor Franziska Nachtwächter und lebt in Ketzingen. Die genaue Adresse habe ich nicht, aber bei den fünfhundert Einwohnern in dem Nest sollte es nicht so schwer sein, sie zu finden.«

»Danke. Ein zweite Frage. Warum weiß Anna nicht, dass Sie ihre Tante sind?«

»Ehrlich gesagt, ich lege wenig Wert darauf, dass die stockkonservativen Werlebacher immer wieder daran erinnert werden, dass die Apothekerin einen kriminellen Bruder hat.«

»Hatte«, verbesserte Kramer höflich, doch sie winkte ärgerlich ab. »Der Unterschied spielt in diesem vermufften Nest keine Rolle. Fragen Sie mal Irene, wie oft man ihr aufs Butterbrot schmiert, dass sie ein uneheliches Adoptivkind ist, das im Alter von gerade achtzehn Jahren ein uneheliches Mädchen bekommen hat.«

»Kennen Sie Peter Dircks näher?«

»Nein. Ich weiß natürlich, wer er ist, auch, dass Irene große Stücke auf ihn hält, dass er immer bereit steht, ihr oder Anna zu helfen. Aber wir kennen uns persönlich nicht näher.«

»Wirklich nicht?«

»Was wollen Sie damit andeuten?«

»Dircks war ebenfalls Mitglied der Keiler-Bande und ein guter Freund Ihres Bruders Eberhard.«

»Na und? Mein Bruder hatte eine Reihe merkwürdiger Freunde, denen ich schon damals gerne das Haus verboten hätte. Nach Eberhards Tod hatte ich keinen Grund, mich mit denen zu beschäftigen.«

»Sie haben sozusagen einen Schlussstrich unter Ihre Jugend und Ihre Familie gezogen, was?«

Christine Lankenow schaute Kramer an, als wollte sie ihn gleich gewaltsam vor die Tür setzen. Deswegen baute er vor. »Nur eine Frage noch, dann sind Sie mich für heute los.«

»Für heute?«

»Ich komme bestimmt wieder. Vielleicht möchte ich dann jedoch nicht mit Ihnen, sondern mit Ihrem Mann sprechen. Zum Beispiel über eine alte Ziegelei in Kumberg oder das Haus Bismarckstraße 51. Er soll ja einen guten Anwalt haben, aber auch der wird ihn nicht ewig vor der U-Haft bewahren.«

Ihre Augen zuckten, aber sie sagte nichts. Kramer nahm es als erstes Zeichen widerwilligen Respekts.

»Woher hatte Irene Laysen das Geld, um den Trödelladen zu einer Boutique umzubauen?«

»Die alten Laysens hatten eine hohe Lebensversicherung zugunsten Irenes abgeschlossen, darüber hinaus war der alte Laysen ausgesprochen geschäftstüchtig. Das Problem war später nur, das Geld zu finden, das er sehr gut vor seiner Frau, seiner Schwägerin und dem Finanzamt versteckt hatte.«

»Und wer hat das erledigt?«

»Soviel ich weiß, ein junger Angestellter aus der Leininger Handelsbank, Filiale Rollesheim. Er hätte sozusagen zum Lohn gerne die hübsche Irene geheiratet, aber die wollte nicht ... Nein, kein Name. Ich bin sicher, Irene freut sich sehr, Sie wiederzusehen.«

Den Hohn verstand Kramer sehr wohl, offenbar hatten hier die Wände Ohren und Augen, aber er verschluckte jede Bemerkung über Werner Beelitz und das Wochenendhaus am Beilhorner Stausee. Man musste auch Pulver für eine zweite Salve vorrätig halten/Christines dreiste Lügen hatten ihn aus seiner Schläfrigkeit wachgerüttelt.

Irene nickte fröhlich, als er in das Geschäft kam. »Fünf Minuten noch, einverstanden? Ich muss nur noch aufräumen und abschließen.«

Das ging wirklich schnell und fünf Minuten später stiegen sie die Treppe in die Wohnung hoch. Vor der Wohnungstür nahm Kramer sie an beiden Schultern, drehte sie herum und küsste sie gierig.

Irene presste sich an ihn und lachte vergnügt. »Schön, dass du gekommen bist.«

Diesmal waren die Vorhänge schon geschlossen und er zog sie auf seinen Schoß, die Couch quietschte.

»Möchtest du was zu trinken? Heute habe ich auch etwas zu essen, nicht nur trockenen Zwieback.«

»Etwas zu trinken nehme ich gerne an. Wenn es geht, keinen Kaffee bitte.«

Irene sprang auf und lief nach draußen. Nachdem sie ein Tablett mit Gläsern und Flaschen abgestellt hatte, kuschelte sie sich an ihn.

Doch nach dem Knutschen gerieten sie wieder in ernsthafteres Fahrwasser. »Bist du weitergekommen?«, erkundigte sich Irene.

»Nicht sehr«, gestand er. »Aber ich weiß jetzt, wo ich nachfragen kann. Das heißt, einen Namen und eine Adresse brauche ich noch von dir.«

»Ja?«

»Ich war in der Apotheke. Christine Lankenow behauptet, sie wisse nicht genau, wo sich ihre Schwester Franziska aufhält.«

»Das ist gut möglich. Christine und Franziska haben sich nie verstanden.«

»Gibt es einen Grund für diese Abneigung?«

»Wenn ja, dann kenne ich ihn nicht.«

»Du hast doch die Mitglieder der Nachtwächter’schen Keiler-Bande gekannt?«

»Ja.«

»Auch einen Klaus Voudrain?«

»Ja. Voudou mit Spitznamen. Ich mochte ihn nicht. Er war ziemlich brutal und rücksichtslos. Schon damals.«

»Dagegen hat Peter Dircks für dich geschwärmt.«

»Hat er, und wie, er war immer schon ein netter, hilfsbereiter Kerl. Wenn da nicht Eberhard gewesen wäre, wer weiß ...?«

Kramer lachte leise. »Ich glaube, er schwärmt auch heute noch für dich.«

»Ja, das tut er. Ich auch für ihn ...«

»Ich dachte, du schwärmst für mich!«

»Das auch«, kicherte sie. »Eine Frau darf doch mehr als einen Schwarm haben oder?«

»In der Theorie hast du Recht, in der Praxis sehen die Männer das nicht so gerne. War Dircks denn eifersüchtig auf Eberhard?«

»Ja, ziemlich. Aber damals waren wir noch halbe Kinder.«

»Hast du bitte noch eine Schorle für mich?«

»Aber immer. Du suchst doch weiter nach Anna?«

»Bis ich sie gefunden habe oder weiß, was mit ihr am 29. Mai passiert ist.«

Bevor Kramer losfuhr, rief er Anielda an und fragte sie, ob sie sich in den nächsten Tagen um sein Büro und seine Wohnung kümmern könne. »Ich will ins Ruhrgebiet, nach Essen.«

»Hm. Kannst du mich nicht mitnehmen? Ich habe einen alten Freund in Kettwig, und solange du in Essen herumgurkst, könnte ich ihn mal besuchen.«

»Tja, warum eigentlich nicht. Aber rufe ihn besser vorher an, ob du willkommen bist. Bei alten Freunden und Freundinnen ist das leider nie so sicher.«

»Hast du gerade schlechte Erfahrungen gemacht?«

»Nein, wie kommst du darauf?«

»Du hörst dich so deprimiert an.«

»Ich bin nicht deprimiert, ich bin abgeschlafft.«

»Bitte keine näheren Einzelheiten. Holst du mich morgen um neun Uhr ab?«

Anielda stand pünktlich vor ihrer Haustür und verstaute ächzend eine riesige Reisetasche auf der Hinterbank. Dass sein Kofferraum mit wichtigeren Dingen belegt war, wusste sie.

»Nun, was hat dein Freund gesagt?«

»Er war sehr erstaunt, dass ich noch lebe. Aber ich bin willkommen.«

»Wie willkommen? Muss ich zwei Hotelzimmer mieten oder reicht eines für mich?«

»Müssen wir das jetzt entscheiden?«

»Nein, etwas Zeit hat es noch. Hast du dein Handy geladen?«

»Aber natürlich, mein Schatz.«

Nach drei Stunden machten sie die erste Pause an einer scheußlich überfüllten Raststätte, der Kaffee war teuer und schwach, die Luft schlecht und stickig, der Lärm unerträglich. Kramer hasste überfüllte Räume mit verbrauchter Luft, er spazierte einen ausgetretenen Feldweg entlang, und als er sich im Schatten eines Baumes auf eine Bank setzte, beobachtete er Anielda in gut fünfzig Meter Entfernung. Sie telefonierte und ihr Gesicht verriet, dass sie von den Antworten des Gesprächspartners nicht sehr begeistert war.

»Wenn du über Nacht in Essen bleiben musst, brauchen wir zwei Zimmer«, verkündete sie anschließend unwirsch.

»Ei, wie das?«

»Seine Frau kommt heute Abend zurück.«

»Seit wann kennst du ihn?«

»Seit etwa zehn Jahren.«

»Hast du geglaubt, er würde darauf warten, dass du mal aus heiterem Himmel anrufst?«

»Nein«, sagte sie und es hörte sich an, als meinte sie das Gegenteil.

»Wie heißt er denn?«

»Wolfgang Bürger. Warum willst du das wissen?«

»Damit ich weiß, wo ich mit der Suche anfangen muss, wenn du Dummheiten gemacht hast.«

»Idiot.«

»Heißen Dank.«

Die nächsten Stunden schwieg Anielda schmollend, auch als sie wenige Kilometer nach der Raststätte in einen Stau gerieten, der sich nach einer halben Ewigkeit nur ganz langsam auflöste. Weder beim Warten noch beim Fahren störte dies Kramer. Im Gegenteil.

Er kannte in Bredeney ein kleines, ruhiges Hotel, bekam ohne Schwierigkeiten zwei Einzelzimmer und setzte Anielda am S-Bahnhof Essen-Stadtwald ab, um anschließend nach Holsterhausen zu fahren. Der Berufsverkehr ließ schon nach und er fand die Künzelstraße auf Anhieb. Schwieriger war es mit einem Parkplatz, und als er endlich im vierten Stock vor der Wohnungstür von Nadine Schuster stand, schnaufte er heftig.

Nadine Schuster war zwar daheim, wollte ihn aber nicht so ohne Weiteres in die Wohnung lassen, was er ihr nicht verargen konnte. Deshalb schlug er ihr vor, ihren Freund Heinz Taubert anzurufen, die Ladenspelderstraße liege doch praktisch um die Ecke.

»Kennen Sie sich hier aus?«

»Ein wenig«, sagte Kramer bescheiden und richtete sich auf der Holztreppe ein, bis Heinz Taubert erschien. Ein Kommissar Grembowski habe sie doch schon befragt.

»Der hat Anna nicht gefunden«, erklärte Kramer kurz, »und nun hat mich eine Versicherung auf die Suche geschickt.«

»Was wollen Sie wissen, was die Kripo noch nicht gehört hat?«

»Es müsste eine Neuigkeit sein, die Anna während der Stunden erfahren hat, die sie in Haus Malle geputzt hat.«

Der große, breitschultrige Mann und die viel kleinere, schlanke Frau sahen sich lange an.

»Ja«, begann Nadine Schuster zögernd. »Da war was. Anna kam zu mir und fragte mich, ob sie einmal das Telefon benutzen dürfe nur für ein kurzes Ortsgespräch. Ich war etwas verwundert eine Sechzehnjährige ohne Handy gibt’s doch praktisch nicht mehr.«

»Um wie viel Uhr hat Anna gefragt, Frau Schuster?«

»Etwa gegen zehn Uhr. Das Gespräch hat nicht lange gedauert, ich hatte den Eindruck, dass sie von dem oder der Angerufenen abgewimmelt wurde. Ja, ich konnte zuhören, weil ich im Nebenzimmer Koffer packte. Anna legte auf und hat gleich danach noch eine Nummer gewählt. Und diesmal habe ich regelrecht gelauscht. Anna sagte nämlich sehr höflich: Guten Morgen, Frau Doktor, entschuldigen Sie bitte, wenn ich störe, aber könnte ich bitte einmal mit Herrn Warstedt sprechen? Mein Freund ist in Warstedt geboren, deshalb habe ich ungeniert zugehörig Nach einer Weile sagte Anna dann: Das ist sehr schade, aber ich sehe ihn ja dann am Montag, vielen Dank, Frau Doktor. Damit hat sie das Gespräch beendet, sie war nach dem Tonfall zu schließen sehr enttäuscht. Danach hat sie nicht mehr telefoniert. Hilft Ihnen das was, Herr Kramer?«

»Sehr sogar«, versicherte er, tauschte mit den beiden Telefon und Faxnummern aus und verabschiedete sich. »Sie haben Anna an dem Morgen nicht mehr gesehen, Herr Taubert?«

»Doch, doch, ich war kurz nach Terborn reingefahren, um noch etwas einzukaufen, aufzutanken, Luft und Ol nachzusehen. Der Karren hatte lange gestanden. Gegen elf Uhr war ich wieder zurück und habe angefangen, einen halben Hausstand in ein viel zu kleines Auto zu packen. Anna hat brav geholfen und wir haben ihr zum Schluss zwanzig Euro gegeben. Sie hat an dem Vormittag übrigens auch mal geweint.«

»Geweint? Warum?«

»Das wissen wir nicht. Nadine hat gefragt, ob sie Kummer habe, und Anna hat erwidert, nein, sie habe sich halt viele Jahre lang getäuscht und sich selbst etwas vorgemacht ... Keine Ahnung, was sie damit gemeint hat.«

Nadine Schuster und Heinz Taubert waren sichtlich erleichtert, als Kramer ging. Im Flur hingen an der Wand vor der Wohnungstür zwei Wimpel Radclub Rothaargebirge. SiegerlandRundfahrt 2003.

Kramer versuchte, mit Anielda zu telefonieren. Sie meldete sich nicht. Wenn die Ehefrau heute Abend zurückkam, hatten die beiden vielleicht im Moment Besseres zu tun, als mit Handys zu hantieren. Kramer wählte seinen Anrufbeantworter im Büro an und schluckte bei den Neuigkeiten, die Caro verkündete: »Die erste Kugel, die dich verfehlt und in der Türverkleidung gesteckt hat, stammt aus einem uralten Wehrmachtskarabiner 98 K. Aus eben dieser Waffe ist vor rund siebzehn Jahren auf Eberhard Nachtwächter geschossen worden, der danach auf dem Parkplatz hinter dem Rackenhof tödlich verunglückte. Glückwunsch, Rolf. Die Waffe haben wir jahrelang vergeblich gesucht. Wie machst du das bloß? Die zweite Kugel, die aus Kumberg, stammt aus einer modernen Bockflinte, von der es bei uns noch keine Vergleichsprojektile gibt. Lankenow ist mehrfach vernommen worden, leugnet aber, in der alten Ziegelei Drogen gekocht und Giftmüllabfälle und Abfälle aus biologischen Labors in Glas oder Keramik eingeschmolzen zu haben, um sie illegal in der Tongrube zu versenken. Von den beiden Fahrern, die nicht so hartnäckig schweigen, wissen wir aber so ungefähr, welche Firmen und Labors den preiswerten Entsorgungsdienst Lankenow in Anspruch genommen hatten. Übrigens möchte das Tageblatt unbedingt ein großes Interwiew mit dir machen. Nutze deine Chance für so viel kostenlose Werbung und vergiss mich nicht.«

Anielda kam kurz vor Mitternacht ins Hotel. Kramer saß an der kleinen Bar und gönnte sich seinen Schlummer-Whisky. Anielda sah so niedergeschlagen aus, dass er sie nicht fragte, wie es gewesen sei, sondern ihr auch einen Whisky bestellte.

»Danke, Rolf«, murmelte sie und trank schnell aus. Die Bardame sah sie besorgt an, machte aber wortlos ein zweites Glas fertig.

»Ich pass schon auf!«, flüsterte Kramer.

Nach dem zweiten Whisky knurrte Anielda grimmig: »Ich hätte nicht hierher fahren sollen. Er ist viel blöder, als ich ihn in Erinnerung hatte. Und geheiratet hat er eine gewaltige Blondine mit einem riesigen Busen und einem noch größeren Erbschaftskonto. Er hat ausgesorgt und alles aufgegeben, was ihn früher einmal umgetrieben hat. Als er noch nebenbei jobben musste, war er angenehmer. Und wie war es bei dir?«

»So langsam lässt sich das Mosaik Zusammenlegen.«

»Möchtest du schon was erzählen?«

»Nein. Ich muss erst noch all denen die Köpfe waschen, die mich dreist belogen haben.«

»Willst du noch einen trinken? Ich habe genug.«

»Nee, der Tag morgen wird lang und anstrengend.«

Krimi Paket Mörderisches Lesefutter im August 2021: 16 Romane

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