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Wahrheit und gewöhnliches Wissen
ОглавлениеGewöhnlich setzen wir Wissen mit Wahrheit gleich, sonst nennen wir es Unwahrheit oder Falschheit. Wissen ist aber nicht wirklich Wahrheit, denn Wahrheit existiert immer im Moment. Wahrheit ist dynamisch und in gewissem Sinn geheimnisvoll. Wir können sie nie fixieren und statisch machen.
Viele Probleme entstehen, wenn man Wissen für Wahrheit hält. Das erste ist, daß das, was man glaubt, und daß Informationen unrichtig sein können. Das ist nicht ungewöhnlich, wie die Wissenschaftsgeschichte zeigt. Wissenschaft besteht aus einer Reihe von Annäherungen, die immer wieder korrigiert werden. Wir bewerten unser Wissen zum Beispiel in der Physik oder Mathematik gewöhnlich als absolutes Wissen oder absolute Wahrheit, während es sich in Wirklichkeit nur um eine Annäherung handelt. Es gab eine Zeit in der Geschichte, da glaubte man, die Erde würde auf dem Rücken einer Schildkröte fortbewegt. Das war eine weit verbreitete Theorie. Wenn jemand die Theologen – die Wissenschaftler der damaligen Zeit – fragte: „Worauf befindet sich diese Schildkröte?“ war die Antwort: „auf dem Rücken einer anderen Schildkröte“. Später glaubte man, die Erde sei flach. Es galt als wissenschaftlich bewiesen: Wissenschaftler schauten so weit sie konnten und stellten fest, daß sie flach ist. Zu der Zeit war das die Wissenschaft, und für eine Weile funktionierte das ganz gut, es war nützliches Wissen.
Das zweite Problem ist, daß indirektes Wissen – Wissen, das man von anderen Menschen bekommt – kein wahres Wissen ist, auch wenn es korrekt ist. Es ist noch nicht das, was wir persönliche Wahrheit nennen, es ist noch keine Wahrheit, die auf eigener Erfahrung oder Wahrnehmung beruht. Leute erzählen einem Dinge, man lernt Dinge in der Schule, man hört und liest Dinge. Alles das ist nicht wahres Wissen, es ist nur Glauben und Überzeugung aus zweiter Hand, Meinungen, die man in gutem Glauben übernimmt. Hier gibt es keine Gewißheit, und doch kann dieser Glaube einen daran hindern, Realität auf eine andere Art wahrzunehmen. Beispielsweise glauben wir alle, daß unser Körper aus Atomen zusammengesetzt ist. Wissen wir das wirklich? Wir haben es gehört, in Chemiebüchern gelesen, aber es ist nicht unmittelbares Wissen. Wir wissen es nicht wirklich. Es ist Wissen, das auf Glauben beruht. Es war bei der Entwicklung unserer Technik nützlich zu denken, daß unser Körper aus Atomen besteht, aber wenn unsere Wissenschaftler das für absolute Wahrheit hielten, würde unsere Wissenschaft keine Fortschritte machen.
Das dritte Problem besteht darin, daß in uns die Gewohnheit etabliert wird, unsere eigene Intelligenz nicht zu gebrauchen, wenn wir uns auf Informationen und Annahmen verlassen, die von anderen stammen. Dann werden unsere Fähigkeit, zu wissen, und unsere Liebe zum Wissen auf Weisen geschwächt, die wir nicht einmal bemerken, besonders im Hinblick darauf, wie wir uns selbst erleben und kennen. Das ist der Grund, weshalb es wichtig ist, durch eigene unmittelbare Erfahrung und eigenes Wissen herauszufinden, was wahr ist. Wenn man nur auf andere hört, trainiert man nicht die eigenen Muskeln der Inquiry oder die eigene Intelligenz. Wenn man an indirektem Wissen festhält – und damit zufrieden ist –, unterbricht man die Verbindung mit der Unmittelbarkeit der eigenen Erfahrung.
Unsere Arbeit hat also mit der Inquiry, mit der Erforschung genau des Bewußtseins und des Wahrnehmungsvermögens unserer Erfahrung zu tun. Wir müssen uns immer mehr auf unser eigenes unmittelbares, direktes Wissen verlassen. Aber auch wahres Wissen, das auf unserer eigenen Erfahrung beruht, besteht aus Begriffen, Bezeichnungen, Vorstellungen, Bildern usw. Es existiert also nur als eine Erinnerung. Wenn Sie zum Beispiel an sich selbst arbeiten und die Erfahrung machen, daß Sie ein Ozean von Bewußtsein sind, dann ist das ein wahres, unmittelbares Wissen von Ihrem Bewußtsein. Aber im nächsten Moment ist es nur eine Erinnerung, ein Bild, ein Begriff, eine Vorstellung, ein Eindruck aus der Vergangenheit. Es ist insofern wahres Wissen, als Sie es unmittelbar bekommen haben, aber es wird sofort zu gewöhnlichem, zu altem Wissen.
Wenn Sie weiter denken, daß Sie ein Meer von Bewußtsein sind, wird Sie das von Ihrer unmittelbaren Erfahrung trennen, auch wenn diese Aussage sowohl wahr ist als auch aus der Erfahrung gewonnen ist. Diese Begriffe, Bezeichnungen und Vorstellungen, die aus unserem direkten und wahren Wissen stammen, müssen als Symbole oder Hinweise auf die Realitäten angesehen werden, auf die sie sich beziehen. Sie sind nicht die Wahrheit. Wenn Sie von Ihrer Erfahrung sprechen, ein Meer von Bewußtsein zu sein, dann ist der Bericht dieser Erfahrung nicht die Wahrheit. Er ist nur dann Wahrheit, wenn er die unmittelbare Erfahrung von essentieller Realität jetzt, in diesem Moment wiedergibt. Ihre unmittelbare Erfahrung ist vielleicht überhaupt nicht Erfahrung von Essenz oder von Essenz, die sich auf die gleiche Weise manifestiert. Wenn Sie an dem Gedanken festhalten: „Ich bin Essenz“, wird dieser Gedanke zu einer weiteren Selbstrepräsentanz, einem weiteren Selbstbild. Vielleicht ist Ihre Erfahrung in diesem Augenblick eine Erfahrung von Raum oder Liebe oder einfach die eines plumpen Körpers. Auch wenn Sie eine authentische Erfahrung von Essenz gehabt haben und Sie sich dann mit ihr durch gewöhnliches Wissen identifizieren, trennt Sie das von der unmittelbaren Erfahrung ihrer Wirklichkeit und ihrer Präsenz. Das ist deshalb so, weil die Erfahrung von Essenz die Unmittelbarkeit der Erfahrung Ihres Seins ist und weil Sie durch einen erinnerten Begriff keine Verbindung zu dieser Unmittelbarkeit herstellen können.
Manche Konzepte, wie das eines essentiellen Selbst, sind manchmal unter gewissen Umständen und für bestimmte Zwecke nützlich, aber nicht immer. Wenn man jeden Begriff für jederzeit anwendbar hält, wird er zu etwas Starrem, das den Dynamismus einfriert und die Offenheit der Inquiry blockiert und verschließt.
Die Transformation von Wissen ist aber ein viel umfassenderer Prozeß als nur die Transformation des alten Wissens, das unsere Erfahrung in diesem Augenblick prägt. Das Verstehen klärt uns auf, wie unsere gegenwärtige Erfahrung durch die Vergangenheit, durch altes Wissen gemustert ist. Dieses Verstehen, das durch die Enthüllung von Wahrheit entsteht, befreit unsere Erfahrung dafür, sich frisch und spontan zu entfalten. Dann wird unsere Erfahrung unmittelbarer und intimer.