Читать книгу Kommissar Handerson - Sammelband - Adrienne Träger - Страница 3

Am selben Tag

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Als Kommissar Björn Handerson in den schmalen Feldweg einbog, der zur Bahnstrecke führte, konnte er die blau rotierenden Lichter der Streifenwagen schon von weitem sehen. Es war unverkennbar, dass hier etwas geschehen war und es würde nicht mehr lange dauern, bis sich die ersten Schaulustigen versammelten. Als er an der Absperrung angekommen war und den Motor abgestellt hatte, wunderte er sich, dass sie nicht schon längst da waren. Aber vielleicht war dieser Ort einfach zu weit abseits gelegen, um so schnell die vor Neugier geifernden Gaffer anzuziehen. Wie er sie hasste, diese Schaulustigen. Seit über dreißig Jahren war er nun bei der Kriminalpolizei im amberländischen Carlshaven, aber an diese sensationsgeilen Glotzer, die sich wie die Aasgeier auf jedes Unglück stürzten, weil es in ihrem Leben sonst nicht viel gab, worüber sich zu berichten lohnte, konnte und wollte er sich nicht gewöhnen.

Er hatte gerade zur Arbeit fahren wollen, als der Anruf kam. Ein vermeintlicher Selbstmord an der Güterzugstrecke zum Hafen. Als Mordkommission wurden er und seine Kollegen in so einem Fall pro forma dazu gerufen, obwohl es für sie meist nicht viel zu tun gab. Hier war der Fall sonnenklar – eine junge Frau hatte sich von der Brücke auf die Gleise gestürzt, als der Güterzug kam. Der Zugführer konnte nicht mehr bremsen und hatte sie überrollt. Ein klassischer Fall von Freitod. Zu ermitteln gab es da wahrscheinlich nicht viel.

Sergeantin Anna Carenin kam ihm, sich unter der Absperrung aus schwarz-gelbem Tatortband hindurchduckend, entgegen. Er lächelte. Die hochgewachsene, rothaarige junge Frau mit der sportlichen Figur war immer als erste am Tatort. Wie machte sie das bloß?

„Und?“

„Sieht nicht gerade schön aus. Der Zug hat sie voll erwischt.“

„Wissen wir schon, wer sie ist?“

„Nein, an der Leiche war zumindest kein Hinweis auf die Identität zu finden. Einen Ausweis hatte sie nicht einstecken. Die Uniformierten suchen das Gelände ab, ob dort vielleicht eine Geldbörse oder ähnliches liegt, die ihr beim Sturz aus der Tasche gefallen sein könnte. Außerdem sammeln sie die restlichen Teile von ihr ein.“

„Ist Weidmann schon da?“

„Ja. Und schlecht gelaunt wie immer.“

Handerson seufzte. „Was auch sonst.“

Er ging zum Kofferraum seines Wagens, um den Koffer mit der sterilen Schutzkleidung herauszuholen, die an jedem Tatort Vorschrift war, damit die Spurenlage nicht verfälscht wurde. Als er sich fertig umgezogen hatte, folgte er Anna hinter die Absperrung.

Der kleine, untersetzte Gerichtsmediziner Morton Weidmann saß über den Leichnam gebeugt und schaute grimmig.

„Hallo, Mort“, grüßte Handerson ihn.

„Nichts ‚Mord‘. Selbstmord. Zumindest deutet im Moment alles darauf hin. Ich wollte einen von den Plattfüßen losschicken, damit der nach dem Rest von der Frau sucht, da hat der mir doch glatt neben die Leiche gekotzt. Unprofessionell so etwas. Ich meine, das gibt es doch gar nicht. Lernen die heute auf der Polizeischule eigentlich gar nichts mehr?“

„Na ja, also schön ist nun wirklich anders...“, versuchte Björn ihn zu beschwichtigen.

Weidmann ignorierte seinen Einwand. „Also, für mich gibt es hier erst mal nichts mehr zu tun“, verkündete der kleine Gerichtsmediziner und stand auf. „Der Leichenwagen müsste gleich kommen. Die sollen den Leichnam und die restlichen Teile, die noch gefunden werden, in mein Institut schaffen. Ich beschäftige mich dann damit, wenn ich Zeit habe. Schönen Tag noch, man sieht sich.“

Weidmann stand auf und ging Richtung Absperrung. Handerson sah ihm hinterher und seufzte; der Mediziner konnte sehr anstrengend sein. Er wandte sich wieder der Unfallstelle zu. Die Leiche sah wirklich nicht schön aus. Ein Bein und ein Arm waren von den Zugrädern abgetrennt worden und nicht zu sehen. Wahrscheinlich waren sie irgendwo in dem Gestrüpp an den Bahngeleisen gelandet. Das Gesicht war zwar von Blut verklebt und kaum erkennbar, schien aber nach dem Zusammenstoß mit dem Zug noch bemerkenswert intakt zu sein. Die Tote war dunkelhäutig und in ein teuer aussehendes Abendkleid gehüllt. Es sah zerrissen aus, aber das konnte auch eine Folge des Unfalls sein. An den Füßen waren keine Schuhe. Handerson schaute sich um, konnte aber auch keine entdecken. Vielleicht standen sie noch oben auf der Brücke. Aber zieht man sich denn die Schuhe aus, bevor man Selbstmord begeht?

Er blickte zur Brücke hinauf. Für ihn sah es zumindest aus wie ein klassischer Selbstmord. Sie war in dem Moment von der Brücke gesprungen, als der Zug kam. Alles passte zusammen. Das Einzige, das es jetzt noch zu klären gab, war ihre Identität und die Frage, wieso sie es getan hatte. Eine reine Routinesache. Wenn sich heute kein Hinweis auf ihre Identität finden würde, dann würde sich innerhalb der nächsten Tage bestimmt jemand melden, der sie vermisste. Und dann würde man auch herausfinden, wieso sie von der Brücke vor den Zug gesprungen war.

Neben dem Ende des Güterzuges stand ein Krankenwagen. Die Sanitäter kümmerten sich dort um den Zugführer, der nach dem Unfall ziemlich geschockt war und verzweifelt versuchte, damit fertig zu werden, dass er einen Menschen totgefahren hatte. Handerson ging zu ihm.

„Kommissar Handerson, Mordkommission Carlshaven. Sind Sie in der Lage, ein paar Fragen zu beantworten?“

„Ich kann nichts dafür, ehrlich. Die ist mir einfach vor den Zug gefallen. Da war so ein Schatten auf der Brücke und im nächsten Moment hängt die mir voll vorne drauf.“

„Ein Schatten?“

„Na ja, die Frau halt. Die hatte die Sonne im Rücken. Ich habe immer Angst davor gehabt, dass mir das irgendwann mal passiert. So eine verdammte Scheiße.“

„Sind Sie sicher, dass da nur eine Person auf der Brücke stand?“

„Ja, da war definitiv nur sie. Ich wollte die nicht überfahren, ehrlich, aber Bremsen ging wirklich nicht mehr.“

Handerson legte dem Mann beruhigend die Hände auf die Schultern und sah ihm in die Augen.

„Das glaube ich Ihnen. Sie können nichts dafür. Aber Sie stehen unter Schock und sollten jetzt ins Krankenhaus.“

„Wir fahren jetzt auch – oder brauchen Sie uns noch?“, fragte einer der Sanitäter.

„Nein. Der Mann muss dringend ins Krankenhaus und gegen den Schock behandelt werden. Fahren Sie nur.“

Die Sanitäter verfrachteten den Zugführer in den Rettungswagen, schlossen die Türen und machten sich auf den Weg. Der Mann tat Handerson leid. Er war nun schon seit über dreißig Jahren bei der Polizei und hatte in dieser Zeit mehrfach solche Fälle miterlebt. Die Lokführer konnten nichts dafür, dass sich jemand vor ihren Zug geschmissen hatte, aber das Gefühl, die Schuld dafür zu tragen, einen Menschen totgefahren zu haben, wurden sie nicht los. Viele von denen, die er kennengelernt hatte, waren nach einem solchen Zwischenfall nicht mehr in der Lage gewesen, ihren Beruf weiter auszuüben. Für den Mann hoffte er, dass er nicht zu diesen vielen gehören würde.

Er hielt nach Anna Ausschau. Sie sprach mit ein paar Uniformierten, die sich kurz darauf in Richtung Gestrüpp bewegten. Er ging zu ihr.

„Ich habe sie angewiesen, weiter nach den restlichen Leichenteilen und eventuellen persönlichen Gegenständen zu suchen. Wahrscheinlich ist etwas dahinten im Gebüsch gelandet“, sagte Anna und wies in die Richtung, in die die Uniformierten gingen.

„Sag mal, hat man irgendwo auf der Brücke ihre Schuhe gefunden?“

„Nein, wieso?“

„Weil sie keine anhat.“

„Komisch. Ich werde den Jungs noch sagen, dass sie auch nach den Schuhen suchen sollen.“

„Da das hier kein Mord zu sein scheint, können wir wohl auch wieder fahren. Soll ich dich mitnehmen? Wie bist du überhaupt ohne Auto hergekommen?“

„Ich war schon im Präsidium, als der Anruf kam und habe mich von einem Streifenwagen herfahren lassen.“

„Kluges Kind. Wo steckt eigentlich Peter?“

„Der meinte, da es sich augenscheinlich um einen Selbstmord handele, bräuchte nicht unbedingt die ganze Mordkommission hier aufzutauchen. Einer müsse ja die Stellung halten, falls etwas wirklich Wichtiges passieren sollte, und da er der dienstältere sei, sei es wohl meine Aufgabe, mir die Hände schmutzig zu machen. Komm, lass uns fahren und ihm erzählen, was er Schönes verpasst hat.“

Anna sagte noch schnell einem Uniformierten Bescheid, dass sie auch nach den Schuhen suchen sollten, dann gingen sie. Als sie die Autos erreichten, konnten sie sehen, dass sich eine kleine Menschenmenge an der Absperrung versammelt hatte. Ein Beamter in Uniform hatte alle Mühe, sie zurückzuhalten. In der ersten Reihe stand ein hochgewachsener, schlanker Glatzkopf in den Vierzigern mit einer Zigarette im Mundwinkel und einem Notizblock in der Hand.

„Der schon wieder“, dachte Handerson. Wie gesagt, er hasste menschliche Aasgeier, die nichts Besseres zu tun hatten, als sich am Unglück anderer zu weiden. Aber wenn er eines noch mehr hasste, dann waren es Reporter, die damit noch versuchten, Geld zu machen. Und Hans Schreiber vom Carlshavener Kurier war irgendwie immer da, wo es eine Leiche gab. Handerson hegte die dumpfe Vermutung, dass er heimlich den Polizeifunk abhörte, um sofort zur Stelle zu sein, wenn sich etwas Schlimmes ereignete. Anscheinend gab es im beschaulichen Carlshaven einen großen Markt für Nachrichten über Mord und Totschlag.

„Kommissar Handerson, können Sie schon etwas sagen?“

„Nein“, knurrte Handerson den Reporter an. „Und selbst wenn, würde ich es dir bestimmt nicht verraten. Mach, dass du weg kommst.“

„Soll ich das zitieren?“

„Arschloch.“

„Na, na, Herr Kommissar, wer wird denn gleich so ausfallend werden?“

Handerson überlegte ernsthaft, Schreiber eine reinzuhauen. Er hasste diesen Typen wie die Pest, aber Anna legte ihm besänftigend die Hand auf die Schulter.

„Kein Kommentar. Komm, Björn, wir gehen.“

Sie zogen die Schutzkleidung aus und stiegen ein. Handersons Wagen rollte langsam durch die sich vor ihm teilende Menge.

Kommissar Handerson - Sammelband

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