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Carlshaven, Polizeirevier, 08. September 2014

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„Weidmann hat gerade angerufen“, begrüßte Sergeant Peter Müller seine Kollegen an diesem düsteren Morgen. „Er hat die Autopsie an unserer Unbekannten abgeschlossen. Der Bericht liegt bei ihm in der Gerichtsmedizin. Wenn wir ihn möglichst schnell haben wollen, sollen wir ihn bitte persönlich abholen.“

Handerson verdrehte die Augen. Wie überall war auch die Polizei von Amberland chronisch unterfinanziert. Auf Tatortbefunde musste man Wochen, wenn nicht sogar Monate oder Jahre warten. Mit den Autopsien sah es nicht besser aus. Zwar waren Mord und Totschlag in Carlshaven nicht gerade an der Tagesordnung, weshalb die Mordkommission so klein war, aber auch in der Gerichtsmedizin fehlte es an Geld und Personal, um Autopsien möglichst schnell durchführen zu können. Es war also keine Seltenheit, dass eine Leiche einmal zwei Wochen auf Eis lag, bis Weidmann die Zeit hatte, sich ihr zu widmen. Da Morton Weidmann es aber hasste, wenn man ihn drängelte – und das hatte Peter in den letzten Tagen zu Genüge getan, weil die Identität der Selbstmörderin immer noch nicht feststand – kam er dann auf so geniale Ideen, wie Berichte persönlich abholen zu lassen, um sich die Verzögerung durch den Postweg zu ersparen, schließlich brauchte ein Standardbrief laut der Amberländischen Post offiziell drei Tage, um zugestellt zu werden.

„Vielleicht solltest du dann ganz schnell hinfahren, damit du in der Zwischenzeit nicht noch mehr graue Haare bekommst“, stichelte Anna.

„Na, na, ich bin immer noch der dienstältere, also pass’ auf, was du sagst. Aber vielleicht sollte ich zur Abwechslung tatsächlich einmal in die Gerichtsmedizin fahren. Ich habe Weidmann schon länger nicht gesehen“, konterte Peter und erhob sich.

Mit Anfang vierzig war er zwar noch nicht allzu alt, die Natur hatte es aber nicht besonders gut mit ihm gemeint, weshalb ihm schon mit Anfang dreißig die ersten grauen Haare gesprossen waren. Dieser Umstand brachte es mit sich, dass seine Kollegen ihn des Öfteren damit aufzogen. Er nahm es mit Humor. Was blieb ihm auch anderes übrig? Ändern konnte er daran eh nichts und sich die Haare zu färben, hätte nur noch mehr dumme Sprüche mit sich gebracht. Gelegentlich behauptete er spaßeshalber, dass es der Dienst in der Mordkommission sei, der für seine Haarfarbe gesorgt habe, denn entweder gäbe es gar keine Leichen oder der Fall gestalte sich als so schwierig, dass einem davon nur graue Haare wachsen oder die wenigen, die man habe, ausfallen könnten.

„Komm, Björn, lass uns fahren. Vielleicht schaffen wir es ja dann doch noch innerhalb der nächsten Tage, die Identität unserer großen Unbekannten zu lüften.“

~

Eine halbe Stunde später betraten die beiden Polizisten das Gebäude der Gerichtsmedizin. Es war in einer großen, weißen Villa aus dem frühen neunzehnten Jahrhundert untergebracht und mit dem kleinen, grünen Park drumherum wirkte es ganz und gar nicht so, als ob dort drinnen Leichen lagerten und darauf warteten, von Weidmann und seinen Kollegen aufgeschnitten zu werden.

Handerson und Müller kannten sich in dem Gebäude gut aus und steuerten daher geradewegs auf das Büro des Gerichtsmediziners im Erdgeschoss zu. Björn hämmerte gegen die Tür, die im nächsten Moment von dem kleinen, dicklichen Weidmann aufgerissen wurde.

„Mann, schlag mir doch nicht gleich die Tür ein!“

„Wieso? Wecke ich sonst am Ende noch die Leichen im Keller?“

„Sehr lustig. Ich lache später. Willst du deine große Unbekannte sehen?“

„Nein, danke. Sag uns doch einfach, was du herausgefunden hast.“

„Setzen“, Weidmann zeigte auf die kleine Sitzgruppe in der Ecke seines geräumigen Büros. Peter ließ sich das nicht zwei Mal sagen und sank auf das kleine, rote Ledersofa. Handerson nahm daneben Platz. Der Gerichtsmediziner kramte noch einen Moment auf seinem Schreibtisch herum, bevor er die Akte fand, die er suchte und sich ihnen gegenüber in den Ledersessel setzte.

Er schlug die Akte auf und reichte den Polizisten zwei Fotos. Sie zeigten das Gesicht der Selbstmörderin mit den nun für immer geschlossenen Augen. Sie sah noch recht jung aus. Die Gesichtszüge wirkten schön und anmutig.

„Todesursache war eine Kopfverletzung, die vom Sturz auf die Schienen herrührte. Sie war vermutlich schon tot, als der Zug sie erfasste. Zudem hat sie heftige Verletzungen im Genitalbereich und auch etliche Hämatome an Armen und Beinen, die nicht von dem Aufprall mit dem Zug stammen. Sieht für mich nach einer recht brutalen Vergewaltigung aus.“ Er zuckte mit den Achseln. „Wer weiß, vielleicht war es aber auch einvernehmlich und extra hart, so genau kann man das nie sagen, wenn die Leute nicht mehr reden können.“

„Sperma?“, fragte Peter.

„Ja, in der Vagina, auf den Schenkeln und auf der Brust“, antwortete Weidmann und fügte genervt hinzu: „Aber du weißt, wie lange so eine Analyse dauert. Also frage mich jetzt bitte nicht, von wem und ob wir das in einer Datenbank haben. Wenn du Glück hast, dann kann ich dir das nächstes Jahr sagen. Und bevor du mir jetzt die nächste Frage stellst: Hautpartikelreste habe ich unter ihren Fingernägeln keine gefunden.“

„Drogen?“, fragte Handerson.

„Ich habe Blut- und Haarproben ins Labor geschickt. Sie hatte noch Reste von Ketamin im Blut, das war aber schon fast wieder abgebaut. Sie muss es einige Stunden vor dem Sprung von der Brücke genommen oder eingeflößt bekommen haben. Als sie sprang, hatte die Wirkung auf jeden Fall schon stark nachgelassen. Das Betäubungsmittel könnte aber auch erklären, wieso ich keine Abwehrverletzungen gefunden habe, falls es doch nicht einvernehmlich gewesen sein sollte. Wenn sie betäubt war, konnte sie sich auch nicht richtig wehren. Das würde dann wiederum auf Vergewaltigung hindeuten. Na ja, das ist eure Aufgabe, das rauszufinden. Aber ich habe da noch etwas Seltsames gefunden.“ Er nahm die Akte wieder in die Hand.

„Hast du das Gefühl, dass sie die Drogen freiwillig genommen hat?“, fragte Handerson.

„Schwer zu sagen, aber ich habe weder Einstichstellen gesehen, noch sind ihre Nasenschleimhäute kaputt. Das spricht dafür, dass sie es oral zu sich genommen hat und das ist bei Ketamin eher ungewöhnlich. Sie hatte auch eine geringe Menge Restalkohol im Blut. Ketamin kann man Leuten auch ähnlich wie GHB ins Getränk mischen, sodass sie nichts davon mitbekommen.“

Weidmann blätterte noch einmal in der Akte und zog vier weitere Fotos hervor. Sie zeigten die rechte und linke Hand der jungen Frau.

„Was ist denn das da?“, fragte Peter.

„Das sind Hautschäden, die vermutlich durch Putzmittel verursacht wurden. Entweder hat unsere Unbekannte jeden Tag mehrere Stunden mit der Hand im Putzkübel verbracht oder das Zeug ist so schädlich, dass es alles wegätzt.“

„Sag mal, die sieht sehr jung aus. Kannst du sagen, wie alt die in etwa war?“, fragte Björn.

„So um die zwanzig, würde ich sagen. Aber nagele mich bloß nicht darauf fest.“

„Sonst noch etwas, das du uns sagen kannst?“

„Nein, nicht wirklich. Ich hoffe, ihr könnt damit etwas anfangen.“

„Na ja, viel weiter hat uns das jetzt nicht gebracht, schließlich wissen wir immer noch nicht, wer sie ist“, stellte Handerson fest.

„Hellsehen kostet extra und so langsam muss ich mal wieder an die Arbeit. Also raus mit euch.“

Damit erhob er sich und ging zur Tür, die er den beiden provokant aufhielt.

„Gastfreundlich wie immer, lieber Morton“, lächelte Handerson ihn an und verließ mit Peter im Schlepptau schleunigst das Büro des Gerichtsmediziners. Hinter ihnen fiel die Tür krachend ins Schloss.

„Sag mal, kommt mir das nur so vor oder war der froh, uns wieder los zu sein?“, fragte Peter.

„Ach, du kennst ihn doch. Wenn er keine schlechte Laune hat, dann ist er krank“, antwortete Björn achselzuckend. Die beiden verließen das Gebäude mit der Akte so zielstrebig, wie sie gekommen waren und machten sich wieder auf den Weg zurück ins Büro.

Kommissar Handerson - Sammelband

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