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Wie entstehen Verschwörungstheorien?
ОглавлениеDa Verschwörungstheorien ein sehr komplexes, heterogenes Phänomen sind, gibt es für ihre Entstehung nicht die eine Ursache. Manche Verschwörungstheorien werden gezielt von politischen Autoritäten verbreitet, um deren Macht zu sichern oder um bestimmte Maßnahmen umzusetzen und eigene Ziele zu verfolgen, wie etwa die Behauptung einer Unterwanderung des Regierungsapparates der Vereinigten Staaten durch Kommunisten in der McCarthy-Ära.86 Bei gezielt zu politischen Zwecken eingesetzten Verschwörungstheorien kommen wir in den Bereich von Desinformation und Propaganda. In solchen Fällen kann zurecht bezweifelt werden, ob die Protagonisten der entsprechenden Verschwörungsbehauptungen überhaupt selbst daran glauben. Hier scheint oftmals eher die propagandistische oder politische Wirkung der Verschwörungstheorie im Vordergrund zu stehen.
Die meisten modernen Verschwörungstheorien entstehen jedoch aus dem Bedürfnis, alternative Erklärungen für bestimmte Ereignisse und Entwicklungen zu finden. Der wichtigste Faktor für die Entstehung von Verschwörungstheorien scheint uns in diesem Zusammenhang ein grundlegendes Misstrauen zu sein. Dieses Misstrauen kann sich etwa auf die Äußerungen einzelner Personen oder Personengruppen, auf die offiziellen Erklärungen für bestimmte Ereignisse oder auch auf ganze gesellschaftliche Systeme oder Institutionen wie etwa ›die Medien‹ oder ›die Politik‹ beziehen, kommt also innerhalb von Verschwörungstheorien in höchst unterschiedlichen Dosen vor. Aus diesem Misstrauen erwächst schließlich der Verdacht oder die Gewissheit, dass ›etwas nicht stimmt‹, sich ›hinter den Kulissen‹ etwas abspielt, dass es eine verborgene Verschwörung gibt.87 Das Misstrauen speist sich aus sehr unterschiedlichen Quellen. Eine der wichtigsten Ursachen dafür scheint uns das kulturelle Wissen um die Existenz realer Verschwörungen zu sein. Die Vorstellung erfolgreicher und gescheiterter politischer wie ökonomischer Verschwörungen ist fester Bestandteil unseres kollektiven Wissens – und begründet in den Augen vieler Menschen die Möglichkeit oder Wahrscheinlichkeit weiterer Verschwörungen. Anders ausgedrückt: Dadurch, dass Verschwörungen grundsätzlich im Bereich des Möglichen liegen, bleibt für von Menschenhand verursachte Ereignisse im Prinzip immer auch ein verschwörungstheoretischer Interpretationsspielraum.88
Konspirative Praktiken sind mit unserer Kultur und unseren Alltagshandlungen untrennbar verbunden. Der Soziologe Erving Goffman spricht von Kollusionen, die Eltern-Kind-Beziehungen, Partnerschaften oder auch das kollaborative Verhältnis zwischen Arzt, Patient und Angehörigen prägen – etwa dort, wo es um Erzählungen vom Weihnachtsmann, eine Überraschungsfeier oder aber das einvernehmliche Zurückhalten belastender Informationen über einen Krankheitszustand geht. Goffman schreibt, dass wir alle »ein wenig von der süßen Schuld des Verschwörers in uns tragen«, insofern wir im Alltag stetig damit beschäftigt sind, mit- und gegeneinander die eine oder andere Situationsbestimmung zu stabilisieren oder durchzusetzen.89 Wenn innerhalb einer Paarbeziehung der Ehemann seine Frau mit einer Geburtstagsparty überrascht und ihr deshalb die Unwahrheit über sein Treiben ›hinter den Kulissen‹ erzählt, so ist dies nicht weniger konspirativ, als wenn er seine Partnerin stattdessen über eine Liebesaffäre im Unklaren lässt. In der Regel sind Alltagskonspirationen so lange unproblematisch, wie es gelingt, die soziale Ressource Vertrauen nicht zu sehr zu belasten. Alltagsverschwörungen basieren auf gegenseitiger Anerkennung und einem gemeinsam geteilten impliziten Wissen (Common Sense) darüber, was in den gegebenen Kontexten ›richtig‹, angemessen oder taktvoll ist. Während die kollektive Täuschung zur Vorbereitung einer Überraschungsfeier oder das kollaborative Verschweigen einer schweren Krankheitsdiagnose in den meisten Fällen unproblematisch oder nachträglich verzeihlich, ja sogar erwünscht sind, gilt die geheime Liebesaffäre in der Regel als Betrug. Sie ist mit Enttäuschung verbunden, zerstört Vertrauen und erzeugt Misstrauen.
Die Lüge oder die kollektive Täuschung, wie sie in der Verschwörung zum Tragen kommt, ist nach dem Soziologen Georg Simmel eine Kulturtechnik, um »geistige Überlegenheit zur Wirkung zu bringen« und damit Macht über die Unwissenden auszuüben.90 Als Machttechnik bietet die Täuschung in Form der Lüge oder Verschwörung die Möglichkeit der Erschaffung »einer zweiten Welt neben der offenbaren«, meint Simmel. Greifen wir das erwähnte Beispiel der Massenvernichtungswaffen-Lüge noch einmal auf, so wird verständlich, was das bedeutet. Die massenmedial transportierte Lüge von den Massenvernichtungswaffen im Irak Anfang 2003 stellte sich für die getäuschte Öffentlichkeit (oder zumindest Teile von ihr) wie die ›Realität‹ dar. Weil das vermeintliche Beweismaterial in Form von Dokumenten und Aussagen gezielt so präsentiert wurde, als handele es sich dabei um unumstößliche Fakten, übte diese ›zweite Welt‹ der fabrizierten Beweise einen so starken Einfluss aus, dass sich durch die darauf gründende Folgehandlung des Angriffskrieges die Realität tatsächlich veränderte. Auch die Gegenstimme des Experten Scott Ritter konnte an der Wirkung der Lüge nichts ändern. Der Krieg wurde Realität. Aber nicht aufgrund von echten Massenvernichtungswaffen oder einer realen Verschwörung von Saddam Hussein und Osama bin Laden, sondern auf der Basis eines Komplotts zur Täuschung der (Welt-)Öffentlichkeit.
Die Verschwörung wird also dort problematisch, wo sie das Vertrauen in soziale Institutionen (nachhaltig) erschüttert. Im Bereich der Politik sprechen wir dabei oft von machiavellistischen Verschwörungen. Der Machttheoretiker Niccolò Machiavelli kann als einer der ersten Theoretiker der Verschwörung betrachtet werden. In seinem schon im 16. Jahrhundert verfassten Werk Discorsi legt Machiavelli den Grundstein dafür, Verschwörungen als politische Machttechniken ganz bewusst strategisch einzusetzen. Von Machiavelli aus kann die Ideengeschichte der konspirativen Praxis über die französische Aufklärung bis hin zum modernen Geheimdienst verfolgt werden, wo die »Konspiration als Beruf«91 professionalisiert ist. Dabei lassen sich professionelle Verschwörungen zwar graduell, aber nicht prinzipiell von den Techniken der Informationskontrolle unterscheiden, die in Alltagsverschwörungen zum Einsatz kommen.
Aufgrund der festen Verankerung konspirativer Praxis sowohl in unserem Alltagsleben als auch und vor allem in jenen gesellschaftlichen Bereichen, in denen es um den Gewinn und die Ausübung von Macht geht, haben wir durchaus guten Grund, misstrauisch und wachsam gegenüber ›offiziellen‹ Wahrheiten zu sein. Die aktuelle Verbreitung von Verschwörungstheorien ist zumindest zu einem Teil auch eine Reaktion auf das Fehlverhalten gesellschaftlicher Eliten. Lügen und Täuschungen in der Politik, Komplotte in wirtschaftlichen Strukturen, außergesetzliche Geheimdienst-Aktionen, Klüngelei in der Wissenschaft oder journalistische Fehltritte untergraben das Vertrauen der Bevölkerung gegenüber den entsprechenden Personen und Institutionen.92
Misstrauen allein reicht jedoch nicht aus, damit Verschwörungstheorien entstehen. Es ist eher so etwas wie der Nährboden, auf dem sie gedeihen. In der Regel sind es Begebenheiten mit bestimmten Eigenschaften, die zum Gegenstand verschwörungstheoretischer Deutungen werden. Es handelt sich um Ereignisse und Entwicklungen, die als krisenhaft, beängstigend und problematisch empfunden werden, die ein hohes Maß an kollektiver Aufmerksamkeit sowie emotionaler Erregung und moralischer Entrüstung erzeugen und darüber hinaus zumindest aus der Sicht mancher Beobachter Merkmale aufweisen, die den Verdacht einer Verschwörung nahelegen. Zu diesen Merkmalen zählen etwa: ungeklärte, offene Fragen, widersprüchliche Informationen, unbefriedigende, unplausible, lückenhafte Erklärungen, diskrete oder verdeckte Verbindungen ungeklärter Ereignisse zu bestimmten Personen, Personengruppen oder Institutionen, vor allem, wenn sie mächtig sind; aber auch Hinweise, Indizien oder gar konkrete Beweise im Hinblick auf eine konspirative Struktur, z. B. in Form von Dokumenten, Schriften, Aussagen von ›Insidern‹, ›Verrätern‹, ›Whistleblowern‹ etc.
Die wichtigste Funktion von Verschwörungstheorien besteht unseres Erachtens darin, unerwartete, irritierende oder beängstigende Ereignisse vor dem Hintergrund bestehender Weltbilder, Überzeugungen und Einstellungen sinnhaft zu deuten. Was heißt das? Wenn eine gegebene Erklärung für ein bestimmtes Ereignis mit dem Wissen, den Erfahrungen und den Überzeugungen eines Individuums oder einer Gruppe in Konflikt gerät, entsteht etwas, was man in der Psychologie kognitive Dissonanz nennt. Vereinfacht gesagt, kann eine kognitive Dissonanz dann entstehen, wenn Menschen Wahrnehmungen, Gedanken, Gefühle, Wünsche, Einstellungen etc. haben, die zueinander im Widerspruch stehen. Dies erzeugt eine innere Spannung, die die meisten Menschen als unangenehm empfinden und folglich auflösen wollen. Bei Verschwörungstheorien passiert oft genau das: Menschen nehmen ein Ereignis wahr und die angebotenen Erklärungen fügen sich nicht in ihre Perspektive auf die Welt ein. Wenn das entsprechende Ereignis allerdings mithilfe alternativer Erklärungen umgedeutet wird, kann es auf diese Weise in bestehende Überzeugungen integriert werden und die kognitive Dissonanz verschwindet. Dies knüpft an die These des deutschen Historikers Dieter Groh an, der annimmt, dass Verschwörungstheorien insbesondere dann Wirkung entfalten, wenn sie »in das vorherrschende Deutungsmuster einer Gruppe, Partei, Nation, Kultur, Religion wie der Schlüssel in ein Schloss hineinpassen«.93 Der konkrete Hintergrund für die Entstehung und Verbreitung einer Verschwörungstheorie kann z. B. aus Vorurteilen, Ressentiments, aus politischen Haltungen, religiösen Überzeugungen, aber auch aus wissenschaftlichen oder journalistischen Erkenntnissen oder schlichtweg dem gesunden Menschenverstand bestehen.
Aus diesen Überlegungen folgt, dass Verschwörungstheorien nicht nur destruktives, sondern durchaus auch positives gesellschaftspolitisches Potenzial entfalten können. Sie können – historische Beispiele lassen sich ausreichend finden – dazu genutzt werden, totalitäre Macht- und Herrschaftsverhältnisse, Unterdrückung und Zerstörung zu rechtfertigen. Sie können Vor- und Fehlurteile begünstigen oder extreme politische Meinungen legitimieren. Andererseits können sie aber auch zur Aufdeckung tatsächlicher Verschwörungen beitragen, Betrug oder Machtmissbrauch aufzeigen, auf ökonomische Manipulationen oder politische Korruption hinweisen.94 Wir sprechen uns deshalb nicht nur aus theoretischen, sondern auch aus gesellschaftspolitischen Gründen gegen eine pauschale Abwertung von Verschwörungstheorien aus und plädieren für eine differenzierte Perspektive, die das Phänomen in seiner ganzen Breite betrachtet. Dazu zählen gefährliche Varianten von Verschwörungstheorien, harmlose, aber auch solche, die im Sinne demokratischer, offener Gesellschaften positive Effekte haben.
1 Steinmeier 2019
2 Zick et al. 2019
3 Rees und Lamberty 2019, S. 212–213
4 Lehnartz 2018
5 Butter 2018, S. 233
6 Dörwang 2020
7 Coady 2006, S. 1
8 Vgl. Pipes 1998, S. 43
9 Butter 2018, S. 36–37
10 Vgl. etwa Knobloch 2018, S. 5–6
11 Vgl. Butter, S. 45 sowie Knight 2000, S. 10
12 Vgl. Hövelmann 2014
13 Pfahl-Traughber 2002, S. 31–33
14 Nocun und Lamberty 2020, S. 21
15 Götz-Votteler und Hespers 2019, S. 36
16 Vgl. Bartoschek 2015, S. 17
17 Hepfer 2015, S. 24
18 Vgl. auch Harder 2018, S. 23
19 Vgl. Anton 2011, S. 29–30
20 Vgl. Harder, S. 31
21 Butter 2018, S. 47
22 Das Memo kann im Volltext eingesehen werden unter: http://www.jfklancer.com/CIA.html (eigene Übersetzung)
23 Vgl. Schink 2020, S. 309
24 Vgl. etwa Hövelmann 2014
25 Vgl. Swift 2013
26 Alt und Schiffer, 2020, S. 53
27 Butter 2018, S. 47
28 DeHaven-Smith 2013, S. 118 (eigene Übersetzung)
29 Popper 1987, S. XII
30 Popper 1992, S. 112
31 Ebd.
32 Ebd.
33 Ebd.
34 Vgl. Anton und Schetsche 2020, S. 108–110
35 Vgl. Anton und Schink 2019, S. 483
36 Exemplarisch: Butter 2018, S. 21–22 sowie S. 40–41
37 Hofstadter 1967, S. 4
38 Hofstadter 1964
39 Vgl. Barkun 2003, S. 8–9
40 Vgl. Byford 2011, S. 120
41 DeHaven-Smith 2013, S. 120–22; vgl. Schink 2020, S. 309
42 Vgl. Barkun 2003, S. 3–4
43 Vgl. Ebd., S. 6
44 Vgl. Ebd., S. 103–109
45 Siehe etwa Pipes 1998, S. 44 sowie Lutter 2001, S. 19–21
46 Keeley 2007, S. 51–53
47 Vgl. Clarke 2006, S. 83 sowie Coady 2006, S. 118
48 Vgl. Coady 2006, S. 126
49 Cubitt 1989, S. 22
50 Ebd., S. 14
51 Ebd. 1989, S. 13
52 Anton 2011, S. 121
53 Butter 2018, S. 37
54 Nocun und Lamberty, S. 43
55 Vgl. Harder 2018, S. 55
56 Vgl. Hepfer 2020, S. 14
57 Weiner 2012, S. 418
58 Vgl. Geyer 2002
59 Nocun und Lamberty 2020, S. 42
60 Vgl. Hepfer 2020, S. 11
61 Pitt und Ritter 2003
62 Goertzel 1994
63 Abalakina-Paap et al. 1999
64 Whitson und Galinsky 2008
65 Vgl. Bartoschek 2015, S. 164
66 Vgl. Butter 2018, S. 123–124
67 Pfahl-Traughber 2002, S. 39–40
68 Vgl. Götz-Votteler und Hespers 2019, S. 39–40
69 Freeman und Bentall 2017
70 Maaz 2001
71 Barron et al. 2018
72 Cichocka et al. 2016
73 Dawin et al. 2011
74 Sunstein und Vermeule 2009
75 Clarke 2006, S. 87
76 Brotherton und Eser 2015
77 Oliver und Wood 2014
78 Raab 2020, S. 58–59
79 Vgl. Anton et al. 2014. S, 10
80 Vgl. Meyer 2018, S. 71
81 Imhoff und Bruder 2014
82 Vgl. Marcus 1999
83 Hepfer 2020, S. 12–13
84 Lamberty und Knäble 2020, S. 32
85 Götz-Votteler und Hespers 2019, S. 39
86 Vgl. Jaworski 2001, S, 21
87 Vgl. Anton 2020, S. 14
88 Vgl. Anton et al. 2014, S. 17
89 Goffmann 2017, S. 97
90 Simmel 1992, S. 390
91 Krüger und Wagner 2003
92 Vgl. Schink 2016a, S. 405
93 Groh 2001, S. 189
94 Vgl. Anton und Schetsche 2020, S. 111