Читать книгу Der Kampf um die Wahrheit - Alan Schink - Страница 14
Antisemitische Verschwörungstheorien
ОглавлениеDie Behauptung einer Verschwörung der Juden dürfte zu den ältesten und am weitesten verbreiteten Verschwörungstheorien überhaupt zählen.25 So verkündete etwa der griechische Philosoph Philostratos um 200 n. Chr., die Juden hätten sich »nicht nur gegen Römer, sondern gegen die gesamte Menschheit erhoben«. Sie würden in »undurchdringlicher Absonderung« leben und »der übrigen Welt die Tischgemeinschaft« verweigern.26 Bereits im frühen Christentum entwickelten sich in Anlehnung an das Neue Testament antijüdische Ressentiments: Den Juden wurde die Schuld an der Leidensgeschichte Jesu und am Christusmord gegeben.27 Im Mittelalter wurde das Judentum mit dem Antichristen in Verbindung gebracht, wenn nicht gleichgesetzt. Synagogen galten als »Stätten der Schwarzen Magie«, Juden wurden als »Kinder des Teufels« oder »Sendboten Satans« bezeichnet.28 Im Zuge der ab 1347 in Europa wütenden Pestwellen wurde den Juden unterstellt, sie hätten diese mit der Vergiftung von Brunnen herbeigeführt und opferten darüber hinaus christliche Kinder in Ritualmorden (Ritualmordlegende).29 Der ökonomische Erfolg und gesellschaftliche Aufstieg einiger jüdischer Familien im Zeitalter des Absolutismus und der Aufklärung nährten weitere Feindseligkeiten: »Aus der Nähe der ›Hofjuden‹ zu den herrschenden Fürsten und der dominierenden Stellung der Juden im Geldgeschäft erwuchs nicht nur das Bild vom jüdischen Wucherer, sondern auch der Mythos vom verschwörerischen Machtstreben der Juden.«30 Dieses Bild verfestigte sich während und nach der Französischen Revolution 1789 – die vielen als Werk von Freimaurern, Illuminaten und eben auch Juden galt – und steigerte sich langsam, aber sicher zur Vorstellung einer jüdischen Weltverschwörung mit dem Ziel, alle Nichtjuden in einem mächtigen jüdischen Weltreich zu beherrschen.31 Enorm zur Verbreitung dieser Vorstellung beigetragen haben die 1903 erstmals im Russischen Kaiserreich erschienenen Protokolle der Weisen von Zion. Es handelt sich dabei um ein gefälschtes antisemitisches Pamphlet, das vermeintliche Sitzungsprotokolle einer geheimen jüdischen Elite enthält, die ihren Weg zur Weltherrschaft plant. Zur Erstellung der Protokolle wurden ältere, fiktionale Texte verwendet, etwa eine von Maurice Joly in Brüssel herausgegebene Streitschrift gegen das Regime Napoleons III., in welcher ein fiktiver Dialog zwischen Machiavelli und Montesquieu über Liberalismus und Despotie in der Unterwelt beschrieben wird. Bis heute ist unklar, wer die eigentlichen Urheber der Protokolle der Weisen von Zion sind.32
Mitte der 1930er-Jahre wurde aufgedeckt, dass es sich bei den ›Protokollen‹ um eine Fälschung handelt. Antisemiten auf der ganzen Welt glaubten jedoch weiterhin an ihre Echtheit. Joseph Goebbels vertraute zwar bereits 1924 seinem Tagebuch an, dass er den Text für eine Fälschung hält, was ihn jedoch nicht davon abhielt, diesen für antisemitische NS-Propaganda zu instrumentalisieren.33 Die NSDAP stützte ihre antisemitische Propaganda stark auf die Protokolle und verbreitete ihren Inhalt in auflagestarken Flugblättern. Nationalsozialistische Organe wie Der Stürmer oder der Völkische Beobachter griffen die Protokolle immer wieder auf. 1923 erschien eine kommentierte Ausgabe der Protokolle des einflussreichen NS-Ideologen Alfred Rosenberg, die später auf Anweisung des NS-Erziehungsministers Bernhart Rust sogar im Schulunterricht behandelt werden sollten.34 Ob Hitler selbst von der Echtheit der Protokolle überzeugt war oder sie nur zu antisemitischen Propagandazwecken nutzte, ist umstritten. Fakt ist, dass die systematische Instrumentalisierung der Protokolle der Weisen von Zion durch die Nationalsozialisten für ihre antisemitische Ideologie erheblich dazu beitrug, eine gesellschaftliche Stimmung zu schaffen, in der sich schließlich der Massenmord an Millionen europäischer Juden ereignen konnte.35
Auch nach dem Holocaust blieb die Behauptung einer jüdischen Weltverschwörung lebendig. Holocaust-Organisator Adolf Eichmann kolportierte noch während seines Prozesses 1961 in Jerusalem, Hitler sei lediglich eine Marionette der »satanischen internationalen Hochfinanz« gewesen,36 und knüpfte damit an Verschwörungstheorien an, welche gar das ›Dritte Reich‹ und den Holocaust selbst als Teil einer jüdischen Weltverschwörung betrachten.37 Derartige Vorstellungen sind heute vor allem im arabischen Raum weitverbreitet. Hitlers Mein Kampf und die Protokolle der Weisen von Zion sind hier zum Teil Bestseller,38 antisemitische Verschwörungstheorien im öffentlichen Diskurs, in Parlamenten und in der Populärkultur allgegenwärtig. Dies verweist auf den ohnehin stark ausgeprägten Antisemitismus in arabischen Ländern, der wiederum mit dem ungelösten israelisch-palästinensischen Konflikt zusammenhängt.39
Doch auch in der westlichen Welt spielen antisemitische Verschwörungstheorien nach wie vor eine Rolle, etwa nach dem 11. September 200140 oder auch in der Corona-Krise. Sie verbreiten sich vor allem in rechten bis rechtsextremen Milieus (wir kommen darauf zurück), aber nicht nur dort, wie Katharina Nocun und Pia Lamberty betonen: »Antisemitisch konnotierte Verschwörungserzählungen finden sich nicht nur in rechtsextremen und rechtsradikalen Kreisen. Es handelt sich um ein gesamtgesellschaftliches Phänomen, das vom Stammtisch über Popkultur bis hin zu als links wahrgenommenen Gruppen reicht.«41 Antisemitische Verschwörungstheorien sind ein Paradebeispiel für gruppenbezogene Verschwörungstheorien – und dafür, wie gefährlich diese werden können. Ihre historische Kontinuität ist verstörend, das Maß ihrer negativen Auswirkungen schrecklich. Eine Beschäftigung mit historischen antisemitischen Verschwörungstheorien ist allein schon deshalb wichtig, um aktuelle und künftige Erscheinungsformen schnell erkennen und als solche benennen zu können.42