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Eine kurze Begriffsgeschichte
ОглавлениеWann der Begriff ›Verschwörungstheorie‹ zum ersten Mal auftaucht, lässt sich nicht genau sagen. Nach dem Blogger und Autor Bernd Harder erscheint er bereits 1787 im Journal für Freymaurer. Im englischsprachigen Raum kursiert das englische Äquivalent ›conspiracy theory‹ mindestens seit den 1860er-Jahren. Der Begriff wurde zur Beschreibung von Spekulationen über politische Verschwörungen, aber auch im Zusammenhang mit der Aufklärung von Verbrechen verwendet. In amerikanischen Zeitungen aus den 1880er-Jahren wurden bei einem ungelösten Todesfall eine ›conspiracy theory‹, eine ›murder theory‹ und eine »suicide theory« als mögliche Erklärungen gegenübergestellt – der Begriff war also keineswegs abwertend gemeint.20 Die eindeutig negative Bedeutung (und zwar sowohl im Deutschen als auch im Englischen) etablierte sich erst wesentlich später. Im Internet liest man häufig, dass die negativen Assoziationen des Begriffs ›Verschwörungstheorie‹ insbesondere auf ein CIA-Dokument aus dem Jahr 1967 zurückzuführen seien, dass die CIA den Begriff gar erfunden hätte, um Menschen zu diskreditieren, die an der offiziellen Version der Ermordung von John F. Kennedy zweifelten.21 Diese Geschichte ist zum Teil eindeutig falsch, zum Teil aber auch nicht ganz unwahr. Was war geschehen?
Kurz nachdem Kennedy am Mittag des 22. November 1963 in Dallas von zwei Gewehrschüssen tödlich getroffen worden war, wurde als Tatverdächtiger der 24-jährige Gelegenheitsarbeiter Lee Harvey Oswald festgenommen. Er galt als Hauptverdächtiger und Schütze. Zwei Tage später wurde Oswald selbst von dem Nachtclub-Besitzer Jack Ruby getötet. Um den Gerüchten über ein Mordkomplott Einhalt zu gebieten, setzte Lyndon B. Johnson, Kennedys Nachfolger, eine Kommission unter der Leitung des Obersten US-Bundesrichters Earl Warren ein, die die genauen Hintergründe der Tat aufklären sollte. Die Warren-Kommission kam zu dem Ergebnis, dass Oswald die Ermordung Kennedys allein zu verantworten habe und weitere Mittäter ausgeschlossen seien. Dies änderte allerdings nichts daran, dass in den folgenden Jahren eine ganze Welle von Publikationen erschien, in denen die Alleintäterschaft Oswalds in Zweifel und verschiedene Verschwörungs-Szenarien in Erwägung gezogen wurden.
Die CIA war offenbar besorgt darüber, dass die Kritik an den Schlussfolgerungen der Warren-Kommission dem Ansehen der US-amerikanischen Regierung und auch dem Geheimdienst selbst schaden könnte. Denn schließlich wurde, neben anderen potenziellen Drahtziehern, auch die CIA immer wieder verdächtigt, in das Kennedy-Attentat involviert zu sein. In dem 1967 verfassten Dokument Dispatch 1035–960 finden sich Anweisungen für CIA-Mitarbeiter, wie mit Verschwörungstheorien zur Ermordung Kennedys umzugehen sei. Das Ziel des Memos, das 1976 auf Betreiben der New York Times freigegeben wurde, bestand darin, Argumente und Strategien zur Verfügung zu stellen, um Verschwörungstheorien zur Kennedy-Ermordung im In- und Ausland zu widerlegen und zu diskreditieren. So wurde den CIA-Agenten etwa empfohlen, etablierte Politiker und Redakteure davon zu überzeugen, dass die Spekulationen der Kritiker ohne jede Grundlage und jede weitere Diskussion schädlich seien. Teile der Verschwörungsdiskussion seien gar von »kommunistischen Propagandisten« erzeugt worden. Die CIA-Agenten sollten, heißt es in dem Memo weiter, Politiker und Redakteure dazu drängen, ihren Einfluss geltend zu machen, um »unbegründeten und unverantwortlichen Spekulationen entgegenzuwirken«.22
Die Einschätzungen über die Bedeutung und die Wirksamkeit der in dem CIA-Memo vorgeschlagenen Maßnahmen gehen weit auseinander. Die einen sehen darin lediglich einen etwas hilflosen Versuch, die Ergebnisse der Warren-Kommission zu verteidigen und einem befürchteten Ansehensverlust der US-Regierung entgegenzuwirken. Andere betrachten das Memo als Beleg für den illegitimen Eingriff in eine öffentliche Debatte, als eine manipulative Operation zur Diskreditierung abweichender Meinungen und zur Durchsetzung einer regierungskonformen Deutung.23 Fest steht: Auch nach der Verteilung des Dokuments innerhalb der CIA rissen die Diskussionen über die Ermordung Kennedys nicht ab. Sie halten vielmehr bis heute an.24 Nach zwischen 1963 und 2013 in den USA jährlich durchgeführten Meinungsumfragen zur Ermordung Kennedys glaubten in diesem Zeitraum nie mehr als 36 Prozent der US-Bürger an die Einzeltäter-Erklärung der Warren-Kommission. Zwischen 50 und 81 Prozent gingen davon aus, dass neben Oswald weitere Personen in die Ermordung involviert waren.25 Bis heute sind zwischen 1.000 und 2.000 Bücher zur Ermordung Kennedys erschienen. Die allermeisten gehen von einer Verschwörung aus.26 Damit verfehlte das CIA-Memo langfristig gesehen ganz offensichtlich sein Ziel.
Wie gezeigt, kursierte der Begriff ›Verschwörungstheorie‹ schon lange vor dem CIA-Dokument aus dem Jahr 1967. Dass die CIA den Begriff mit diesem Memo erfunden oder eingeführt hätte, ist also schlichtweg falsch. In dem CIA-Dokument findet sich keinerlei Erklärung oder Definition zu dem Begriff ›Verschwörungstheorie‹. Es scheint so, als hätte man in dem Text lediglich einen bereits gebräuchlichen Begriff aufgegriffen.27 Doch hat die CIA mit ihrer Absicht, Verschwörungstheorien zum J.F.K-Attentat zu diskreditieren, zum schlechten Ruf von Verschwörungstheorien beigetragen? Das kann zumindest nicht ausgeschlossen werden. Der amerikanische Politikwissenschaftler Lance DeHaven-Smith kommt zu dem Schluss, dass »im Schatten des McCarthyismus und des Kalten Krieges« die CIA-Anweisungen dazu beigetragen hätten, das »Verschwörungstheorie-Label mit mächtigen negativen Assoziationen« aufzuladen.28 Allerdings war ›Verschwörungstheorie‹ auch schon 1967 kein neutraler Begriff, sondern eindeutig negativ konnotiert. Dazu haben insbesondere zwei bedeutende Intellektuelle beigetragen: der österreichisch-britische Philosoph Karl Popper und der amerikanische Historiker Richard Hofstadter.
Als Karl Popper vor über 70 Jahren in seinem einflussreichen Werk Die offene Gesellschaft und ihre Feinde den Begriff ›Verschwörungstheorie‹ mitprägte, stand er stark unter dem Einfluss der schrecklichen Erfahrungen der Menschheit mit totalitären Systemen in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts, namentlich mit dem Nationalsozialismus und dem Stalinismus. Popper entstammte einer jüdischen Familie, floh 1937 gemeinsam mit seiner Ehefrau vor dem Nationalsozialismus von Österreich nach Neuseeland und verlor durch den Holocaust zahlreiche Familienangehörige. Eine gemeinsame Wurzel von Nationalsozialismus und Stalinismus lag für Popper im Historizismus, also der Vorstellung der Gesetzmäßigkeit, Planbarkeit und Vorhersagbarkeit der Geschichte. Der Historizismus ist für Popper reiner Aberglaube, da der zukünftige Verlauf der menschlichen Geschichte unmöglich bestimmt werden könne. Popper schreibt: »Eine wissenschaftliche Theorie der geschichtlichen Entwicklung als Grundlage historischer Prognosen ist unmöglich.«29 Geschichtliche Ereignisse seien in nur sehr wenigen Fällen das Ergebnis bewusster menschlicher Planung und Handlung, sondern in der Regel unbeabsichtigte, indirekte, zufällige und oftmals auch unerwünschte Nebenprodukte sozialer Interaktion. Daher könne es nicht das Ziel der Sozialwissenschaften sein, Prognosen über den Verlauf der menschlichen Geschichte anzustellen. Vielmehr müsse sie sich auf die Analyse des aktuellen sozialen Geschehens konzentrieren, um zu verstehen, wie und warum sich Gesellschaften verändern, aber auch, was einer gesellschaftlichen Entwicklung im Wege steht. Diesem eigentlichen Ziel der Sozialwissenschaften stehe etwas entgegen, was Popper die Verschwörungstheorie der Gesellschaft nennt. Interessanterweise spricht Popper immer nur von Verschwörungstheorie und nie von Verschwörungstheorien. Was genau versteht Popper unter der Verschwörungstheorie der Gesellschaft? Lassen wir ihn selbst antworten: »Diese Theorie behauptet, daß die Erklärung eines sozialen Phänomens in dem Nachweis besteht, daß gewisse Menschen oder Gruppen an dem Eintreten dieses Ereignisses interessiert waren und dass sie konspiriert haben, um es herbeizuführen. (Ihre Interessen sind manchmal verborgen und müssen erst enthüllt werden). Diese Ansicht vom Ziel der Sozialwissenschaften entspringt der irrigen Theorie, daß, was immer sich in einer Gesellschaft ereignet, das Ergebnis eines Planes mächtiger Individuen oder Gruppen ist. Besonders Ereignisse wie Krieg, Armut, Mangel, Arbeitslosigkeit, also Ereignisse, die wir als unangenehm empfinden, werden von dieser Theorie als gewollt und geplant erklärt. Ein solches Ergebnis ist auch der moderne Historizismus, der, wie seine primitive, theistische Form zeigt, eine Abwandlung der Verschwörungstheorie ist.«30
Für Popper ist die Verschwörungstheorie (der Gesellschaft) also im Wesentlichen ein Element eines spezifischen Geschichtsverständnisses, das maßgeblich durch den deutschen Idealismus und den Philosophen G. W. F. Hegel geprägt und unter anderem von Karl Marx aufgegriffen wurde. Nach diesem entstehen gesellschaftliche Ereignisse und Entwicklungen nicht zufällig, sondern sind Ausdruck des sogenannten ›Weltgeistes‹, einer Dialektik von Klassengesetzen oder, in der Fokussierung auf Akteure, das Ergebnis planvollen (konspirativen) Handelns. Popper bestreitet dabei gar nicht, dass es in der Geschichte reale Verschwörungen gegeben hat, im Gegenteil: Verschwörungen sind für Popper ein »typisches soziales Phänomen«.31 Dennoch sei die Verschwörungstheorie der Gesellschaft am Ende widerlegt, da nur wenige Verschwörungen erfolgreich seien und die meisten nicht funktionieren würden. Oder wie Popper es ausdrückt: »Verschwörer genießen am Ende nur selten die Früchte ihrer Verschwörung.«32
Poppers Verständnis des Begriffs ›Verschwörungstheorie‹ unterscheidet sich also deutlich von dem, was wir heute darunter verstehen. Er hatte totalitäre Systeme und deren Machthaber im Blick, nicht jedoch alternative Deutungen bestimmter Ereignisse, die sich gegen gesellschaftliche Autoritäten richten (was Verschwörungstheorien heute oftmals sind). Für Popper war die Verschwörungstheorie der Gesellschaft Teil eines fast schon religiösen, teleologischen Denkens, nach welchem sich alle geschichtlichen Ereignisse nach einem bestimmten ›Plan‹ vollziehen. Popper bezeichnete die Verschwörungstheorie der Gesellschaft daher auch als Ergebnis einer »Verweltlichung religiösen Aberglaubens«.33 Besonders interessant erscheint uns Poppers Bemerkung, dass die Verschwörungstheorie falsch sei, weil Verschwörungen am Ende meistens scheitern. Hier ist zu beachten, dass Popper damit nicht meint, dass Verschwörungstheorien (im heutigen Sinne) grundsätzlich falsch sind, sondern dass groß angelegte Verschwörungen aufgrund der mangelnden Plan- und Steuerbarkeit gesellschaftlicher Entwicklungen nicht funktionieren können.34
Popper hatte also etwas sehr Spezielles im Blick, als er über die Verschwörungstheorie der Gesellschaft schrieb: umfassende Verschwörungsideologien, die verwandt sind mit dem Historizismus und die davon ausgehen, dass nichts auf der Welt zufällig geschieht und alles einem bestimmten Plan folgt. Doch wie viele Verschwörungstheorien, über die wir heute sprechen, sind tatsächlich von einem derartigen ›totalen‹ Denken geprägt oder motiviert? Selbstredend gibt es unzählige Verschwörungstheorien über gigantische (Welt-)Verschwörungen, die die gesamte Weltgeschichte prägen. Zu den bekanntesten solcher Theorien gehört etwa die antisemitische Vorstellung einer jüdischen Weltverschwörung, aber auch verschiedene Varianten der Theorie einer Neuen Weltordnung, einer vermeintlichen Agenda globaler Eliten, der verschiedene gesellschaftliche Entwicklungen zugeschrieben werden. Wie sieht es jedoch mit Verschwörungstheorien über spezifische Ereignisse wie Attentate, Regimewechsel, fingierte Kriegsgründe, Wirtschaftskomplotte, Geheimdienstaktivitäten usw. aus? Diese Sorte von Verschwörungstheorien setzt kein Weltbild voraus, nach dem das gesamte Weltgeschehen nach dem Plan einer geheimen Machtgruppierung abläuft. Und derartige verschwörungstheoretische Deutungen hatte Popper auch definitiv nicht im Sinn.35 Dies änderte allerdings nichts daran, dass in der wissenschaftlichen Diskussion über Verschwörungstheorien Poppers Argumente gegen die Verschwörungstheorie der Gesellschaft zu Argumenten gegen Verschwörungstheorien im Allgemeinen gemacht wurden.36 Dies wiederum trägt ganz wesentlich zum schlechten Ruf von Verschwörungstheorien bei. Popper wurde zu einer Art wissenschaftlichem Kronzeugen für die akademische Delegitimierung und Problematisierung des Verschwörungsdenkens. Die Grundlage dafür ist allerdings, wie wir gezeigt haben, eine Fehlinterpretation oder zumindest eine Überstrapazierung seiner Aussagen zum Thema Verschwörungstheorien. Karl Popper starb im Jahr 1994 in London. Einen erheblichen Teil der Rezeption seiner Gedanken zu der Verschwörungstheorie der Gesellschaft bekam der große Denker nicht mehr mit. Man kann nur mutmaßen, wie Popper, der wie kein anderer die offene, freie Gesellschaft begründete und verteidigte, es bewertet hätte, dass sein Name mit der pauschalen Abwertung verschwörungstheoretischer Spekulationen assoziiert wird – eine Abwertung, die, wie wir noch zeigen werden, gegenwärtig auch dazu beiträgt, Debattenräume zu verengen und abweichende Stimmen zu zensieren. Wir vermuten: Popper hätte das nicht gutgeheißen.
1964, also drei Jahre bevor das berühmt-berüchtigte CIA-Memo zu Verschwörungstheorien über die Ermordung Kennedys verfasst wurde, erschien die erste Fassung des einflussreichen Essays The Paranoid Style in American Politics von Richard Hofstadter. Hofstadter lehrte amerikanische Geschichte an der Columbia University und gilt als einer der wichtigsten amerikanischen Intellektuellen der Nachkriegsära. Hintergrund für die Entstehung des Essays war Hofstadters Auseinandersetzung mit der wachsenden Bedeutung rechtsradikaler Strömungen und Gruppierungen in den 50er- und 60er-Jahren in den USA wie etwa der John Birch Society. Hofstadter sieht eine spezielle Bewusstseinsform (»style of mind«) als gemeinsame Ursache für verschiedene politisch extreme Bewegungen, die stark durch verschwörungstheoretisches Denken geprägt sind. Da diese Bewusstseinsform einige Parallelen zur klinischen Paranoia aufweise, bezeichnet er sie als paranoid style. Gemeint sei damit ein Hang zur Übertreibung, zum Misstrauen und zu Verschwörungsfantasien. Hofstadter betont, dass er mit dem paranoid style keine Paranoia im klinischen Sinne beschreibt, sondern den Begriff gleichsam aus dem klinischen Kontext entlehnt, um damit ein politisches Phänomen zu beschreiben. Ein wesentlicher Unterschied zwischen klinischer Paranoia und dem paranoid style bestehe darin, dass bei Ersterer davon ausgegangen wird, dass sich die wahrgenommenen Bedrohungen und Verschwörungen gegen die Betroffenen selbst richten, während bei Letzterem ganze Nationen, Kulturen oder Lebensweisen als Angriffsziel oder Opfer verschwörerischen Wirkens gesehen werden.37 Der paranoid style erhalte überhaupt erst dadurch seine Bedeutung, dass es sich nicht um den Ausdruck einer psychischen Erkrankung handele. Hofstadter schreibt: »In der Tat hätte die Idee des ›paranoid style‹ als eine Kraft in der Politik wenig zeitgenössische Relevanz oder historischen Wert, wenn sie nur auf Menschen mit tief gestörtem Geist angewandt würde. Es ist die Verwendung paranoider Ausdrucksweisen durch mehr oder weniger normale Menschen, die das Phänomen bedeutsam macht.«38
Hofstadter lässt also keinen Zweifel daran, dass er den paranoid style als politische und nicht als klinisch-psychologische Kategorie versteht. Wie auch Popper bestreitet Hofstadter nicht die Realität von politischen Verschwörungen. Klar ist jedoch auch, dass ›paranoid‹ ein stark negativ besetzter, wertender Begriff ist und Verschwörungstheorien nach Hofstadters Verständnis etwas Abzulehnendes und Gefährliches sind. Hofstadters assoziative Verknüpfung von Verschwörungstheorien und Paranoia hat darüber hinaus den Weg für die Pathologisierung verschwörungstheoretischer Spekulationen gebahnt. In der Folge entstand eine Vielzahl von Studien, die nach psychologischen Auffälligkeiten oder gar psychischen Störungen bei Menschen suchen, die an Verschwörungstheorien glauben (dazu später mehr).39 Wie wirkmächtig Hofstadters Essay bis heute ist, zeigt sich auch daran, dass die gedankliche Verbindung von Verschwörungstheorien und (klinischer) Paranoia ein fester Bestandteil des kulturellen Gedächtnisses westlicher Gesellschaften geworden ist.40
Fassen wir zusammen: Den Begriff ›Verschwörungstheorie‹ gibt es schon lange, seine klar negative Konnotation erhielt er allerdings erst Mitte des 20. Jahrhunderts, insbesondere durch die Überlegungen Karl Poppers und Richard Hofstadters zum Thema. Das heutige Verständnis des Begriffes speist sich jedoch zumindest zum Teil aus einer Miss- oder Überinterpretation der Argumente Poppers und Hofstadters. Zur Zeit der Entstehung des CIA-Dokuments Dispatch 1035-960 war das Wort ›Verschwörungstheorie‹ in seiner negativen Bedeutung zumindest im akademischen und intellektuellen Diskurs geläufig, die CIA hat den Begriff also lediglich aufgegriffen. Durch die Anweisung, Verschwörungstheorien zur Kennedy-Ermordung gezielt zu diskreditieren und mit kommunistischer Propaganda gleichzusetzen, hat das CIA-Memo aber sehr wahrscheinlich zum schlechten Ruf von Verschwörungstheorien beigetragen.41 Die negativen Bedeutungszuschreibungen zum Begriff ›Verschwörungstheorie‹ sind bis heute vorherrschend und erschweren eine sachliche Diskussion zum Thema. Innerhalb des wissenschaftlichen Diskurses führt die unkritische Übernahme der negativen Verwendungsweise des Verschwörungstheoriebegriffs regelmäßig in analytische Sackgassen. Will man zu einem umfassenden Verständnis des komplexen sozialen Phänomens Verschwörungstheorien gelangen, sollte man den Blick weiten und auch denjenigen Aspekten des Verschwörungsdenkens Beachtung schenken, die bisher aufgrund des eingeschränkten Blickwinkels zwangsläufig ausgeblendet wurden.