Читать книгу Der Kampf um die Wahrheit - Alan Schink - Страница 9
Die Sache mit der Wahrheit
ОглавлениеWürde man Vertreter von verschwörungstheoretischen Deutungen nach ihrer Motivation fragen, sich mit den entsprechenden Themen zu beschäftigen, würden vermutlich viele antworten, dass es ihnen um ›die Wahrheit‹ geht. Viele Wissenschaftler, die sich mit Verschwörungstheorien auseinandersetzen, sprechen diesen hingegen jeglichen Wahrheitsgehalt ab. Wie steht es um das Verhältnis von Verschwörungstheorien zur Wahrheit?
Seit der Präsidentschaft Donald Trumps erfährt der Begriff ›Fake News‹ eine gesteigerte öffentliche Aufmerksamkeit. Im Allgemeinen versteht man darunter bewusst erzeugte Unwahrheiten, Falschinformationen und Falschmeldungen, die sich vor allem in sozialen Medien zum Teil massenhaft verbreiten. In den meisten Fällen haben die Schöpfer von Fake News politische oder finanzielle Interessen. Trump weitete die Bedeutung des Begriffs aus, indem er etablierten Medien regelmäßig vorwarf, gezielt Falschinformationen über seine Präsidentschaft zu verbreiten. In jüngster Zeit werden die Begriffe ›Fake News‹ und ›Verschwörungstheorien‹ oft synonym benutzt, dabei handelt es sich um grundsätzlich unterschiedliche Phänomene. Der Hauptunterschied ist: Verschwörungstheorien beziehen sich immer auf eine faktische oder fiktive Verschwörung, Fake News dagegen nur zu einem geringen Teil. Allerdings dienen Fake News häufig als Belege für vermeintliche Verschwörungen. Fake News basieren auf falschen Informationen oder bewussten Lügen. Doch wie ist es bei Verschwörungstheorien?
Auf die Frage nach dem Wahrheitsgehalt von Verschwörungstheorien gibt es innerhalb der Wissenschaft keine eindeutige Antwort. Ganz im Gegenteil: Es herrscht große Uneinigkeit darüber, wie angemessen oder unangemessen Verschwörungstheorien die Wirklichkeit beschreiben. Konkret geht es darum, ob Verschwörungstheorien grundsätzlich falsch sind oder ob es neben falschen auch wahre Verschwörungstheorien gibt. Wie weit die Meinungen hier auseinander gehen, zeigen die Positionierungen der zu Beginn dieses Kapitels erwähnten Bücher Nichts ist, wie es scheint von Michael Butter und Fake Facts von Katharina Nocun und Pia Lamberty. Während für Butter feststeht, dass sich »noch nie eine Verschwörungstheorie im Nachhinein als wahr herausgestellt«53 hat, betonen Nocun und Lamberty: »Dass einige Verschwörungshypothesen sich am Ende als wahr heraus gestellt haben, ist in der Wissenschaft unbestritten.«54 Welche Seite hat nun recht? Die Antwort lautet: beide, denn es hängt letztlich von der Definition des Begriffs ›Verschwörungstheorie‹ ab, ob es auch wahre Verschwörungstheorien geben kann oder nicht.55 Natürlich kann man Verschwörungstheorien so definieren, dass sie immer falsch sind, und dann eben nur jene Verschwörungstheorien betrachten, die sich als falsch herausgestellt haben oder mit großer Wahrscheinlichkeit falsch sind. Die Frage ist nur: Ist das sinnvoll? Unseres Erachtens führt das in eine völlig falsche Richtung, da so ein wesentlicher Teil des Themenkomplexes Verschwörungen und Verschwörungstheorien definitorisch ausgeklammert wird. Nur eine Gesamtbetrachtung dieses Phänomens ermöglicht ein fundiertes Verständnis von Verschwörungstheorien samt einer graduellen Differenzierung ihrer konkreten Erscheinungsformen.
Selbstverständlich hat es Verschwörungstheorien gegeben, die sich im Nachhinein als wahr herausgestellt oder die zur Aufdeckung von realen Verschwörungen beigetragen haben.56 Solche Fälle aufgedeckter Verschwörungen wiederum befördern den Glauben an weitere Verschwörungen und damit die Entwicklung entsprechender neuer Verschwörungstheorien. Das eine lässt sich vom anderen nicht trennen. Schauen wir uns einen solchen Fall genauer an: die Watergate-Affäre.
Anfang der 1970er-Jahre befand sich die Parteizentrale der Demokratischen Partei in dem Watergate-Gebäudekomplex in Washington. Seit 1969 war der Republikaner Richard Nixon 37. Präsident der USA. In der Nacht vom 17. Juni 1972 brachen fünf Männer in den Gebäudekomplex ein. Sie klebten ein Stück Klebeband an eine Tür, um deren Zufallen zu verhindern. Dies bemerkte ein aufmerksamer Wachmann und verständigte die Polizei, die kurz darauf die fünf Einbrecher festnehmen konnte. Das Ziel der Männer war es offenbar, Abhörwanzen in der Zentrale der Demokraten zu installieren und Dokumente zu fotografieren. Die nach dem Einbruch ermittelnden Staatsanwälte gingen zunächst nicht davon aus, dass die Tat eine größere politische Dimension hat. Dennoch spekulierten die investigativen Journalisten Carl Bernstein und Bob Woodward in der Washington Post schon Monate vor den eigentlichen Enthüllungen über eine weitreichende politische Verschwörung, die auch das Weiße Haus miteinschloss. Die beiden Journalisten hatten verdeckte Informationen von einem Informanten mit dem Pseudonym Deep Throat erhalten. Dessen Identität wurde erst im Jahr 2005, also 33 Jahre nach den Ereignissen, bekannt. Es handelte sich um Mark Felt, zur Zeit der Watergate-Vorfälle stellvertretender Direktor des FBI. Der amerikanische Journalist und Geheimdienstexperte Tim Weiner fasst die frühen Spekulationen über eine Regierungsverschwörung wie folgt zusammen: »Nicht alle ihre Berichte waren korrekt, doch insgesamt ergab sich das Bild einer ganzen Verschwörungsserie vonseiten des Weißen Hauses zur Ausschaltung der politischen Gegner des Präsidenten mit Hilfe von Spionage und Sabotage.«57 Zu diesem Zeitpunkt war allerdings noch nichts eindeutig nachgewiesen und der Washington Post wurde von der Regierung und anderen Zeitungen vorgeworfen, falsche Anschuldigungen zu verbreiten. Darüber hinaus wurde die Redaktion politisch unter Druck gesetzt, man drohte mit dem Entzug finanziell wichtiger Lizenzen.58 Die ersten Behauptungen über eine politische Verschwörung schadeten Nixon übrigens kaum: In der Präsidentschaftswahl am 7. November 1972 wurde Nixon, der zuvor jegliche Verwicklung in die Vorfälle vehement abstritt, mit einer deutlichen Mehrheit im Amt bestätigt. Doch die Gerüchteküche brodelte weiter. Ein halbes Jahr später, im Mai 1973, führten Wissenschaftler eine Studie zu Verschwörungstheorien rund um die Watergate-Affäre durch. Das Ergebnis lautete: Anhänger der Demokraten glaubten viel eher an eine Regierungsverschwörung als Republikaner. Außerdem zeigte sich, dass Menschen, die anderen gegenüber grundsätzlich misstrauisch eingestellt waren, viel eher dazu neigten, an die These einer Verschwörung zu glauben.59 Die Beweise, die für eine Regierungsverschwörung sprachen, wurden in der Folgezeit immer erdrückender. Doch Nixon versuchte alles, um seine Amtsmissbräuche zu vertuschen – dies allerdings brachte ihn in immer noch größere Schwierigkeiten. 1974 begannen formale Untersuchungen zu seiner Amtsenthebung und am 9. August trat Nixon schließlich von seinem Amt als Präsident zurück. Im Fall von Watergate haben wir es also mit vorerst nicht eindeutig bewiesenen Behauptungen über eine Verschwörung zu tun, die sich dann aber (zumindest zum Teil) als wahr herausstellten – und am Ende einen Präsidenten zu Fall brachten. Heute spricht im Zusammenhang mit der Watergate-Affäre niemand mehr von einer Verschwörungstheorie, sondern von einer realen Verschwörung. Doch was muss eigentlich passieren, damit aus einer Verschwörungstheorie eine anerkannte Verschwörung wird?
Den größten Einfluss auf das, was die Mitglieder moderner Gesellschaften mehrheitlich als ›wahr‹ oder ›wirklich‹ betrachten, haben die Bereiche Politik, Medien und Wissenschaft. Wenn eine Verschwörungstheorie in keinem dieser Bereiche aufgegriffen und als ›wahr‹ – d. h. als ernstzunehmend oder rational – betrachtet wird, hat sie im Prinzip keine Chance, den Sprung zu einer anerkannten und realen Verschwörung zu schaffen. Wird sie allerdings von allen drei Bereichen bestätigt, haben wir es mit einer wahren Verschwörung zu tun. Damit ist die Sache doch ganz einfach, oder? Leider nicht, denn die Angelegenheit ist weitaus komplizierter. In vielen Fällen ziehen Politik, Medien und Wissenschaft nicht an einem Strang, legen also unterschiedliche Bewertungen vor. Bei der Watergate-Verschwörung vertrat die Washington Post eine völlig andere Sicht auf die Dinge als das Weiße Haus. Darüber hinaus sind Politiker, Journalisten und Wissenschaftler bei der Beurteilung einzelner Verschwörungstheorien oftmals gänzlich unterschiedlicher Meinung. Donald Trump, der bereits in seinem ersten Wahlkampf 2016 gerne Verschwörungstheorien aufgriff – etwa jene, dass Barack Obama nicht in den USA geboren sei –, behauptete nach seiner Niederlage bei der Präsidentschaftswahl 2020, dass die Wahl manipuliert worden wäre und ihm Stimmen ›gestohlen‹ worden seien. Die Demokraten sahen das freilich völlig anders. Trumps Anwälte konnten für den Vorwurf der Wahlmanipulation zwar keine handfesten Beweise liefern, dies änderte allerdings nichts daran, dass Millionen seiner Anhänger die Geschichte von der ›gestohlenen Wahl‹ für die Wahrheit hielten – mit bekannten Folgen. Dass es so weit kommen konnte, hängt auch damit zusammen, dass Trump, der mit den Medien im Allgemeinen bekanntermaßen auf Kriegsfuß steht, während seiner Präsidentschaft von großen Zeitungen und Nachrichtensendern in den USA nicht nur Gegenwind erfuhr. Der den Republikanern nahestehende Nachrichtenkanal Fox News, einer der meistgesehenen in den USA, griff Falschbehauptungen von Trump immer wieder kritiklos auf und präsentierte sie einem Millionenpublikum.
Dies verweist auf den Umstand, dass es bei Verschwörungstheorien mindestens zwei Wahrheitsebenen gibt: die faktische Realität und die soziale Wirklichkeit. Auf der Ebene der faktischen Realität von Verschwörungstheorien geht es um die faktenbasierte Auseinandersetzung, also um die Frage, ob es klare Belege für eine Verschwörung gibt oder nicht. Mit anderen Worten: Es geht darum, ob die Fakten für oder gegen eine Verschwörung sprechen. Derartige Diskussionen finden oft in journalistischen und wissenschaftlichen Kontexten statt, doch man sollte nicht davon ausgehen, dass hier immer eindeutige, objektive Bewertungen und Konsense entstehen. Auch Journalisten und Wissenschaftler sind nicht immer neutral, sachlich, widerspruchsfrei und unvoreingenommen. Was in Bezug auf verschiedene Verschwörungstheorien ›Fakten‹ sind und was ›Fakes‹, ist immer wieder Gegenstand heftiger Kontroversen. Das lateinische Wort factum bedeutet eben nicht nur Tatsache, sondern auch ›das Gemachte‹. Wir möchten an dieser Stelle aber betonen, dass wir nicht infrage stellen, dass es so etwas wie eine ›objektive Realität‹ gibt. Allerdings werden die Daten dieser Realität immer durch menschliche Beobachter interpretiert, was zum Teil zu sehr unterschiedlichen Ergebnissen führt.60
Die Ebene der sozialen Wirklichkeit funktioniert nach einer anderen Logik. Hier ist nicht primär entscheidend, ob es klare Belege gibt, die für oder gegen eine Verschwörung sprechen, sondern es kommt darauf an, wie viele Menschen und welche sozialen Instanzen diese Verschwörung für real halten und welchen Einfluss dies auf eine Gesellschaft hat. In vielen Fällen stimmen die beiden Ebenen überein, das heißt, wenn eine Verschwörungstheorie im Rahmen einer offenen Diskussion über die ihr zugrunde liegenden Fakten zurückgewiesen wird, besitzt sie auch sozial keine Gültigkeit. Häufig widersprechen sich die beiden Ebenen aber auch. Am 5. Februar 2003 begründete Colin Powell, Außenminister unter Präsident George W. Bush, vor dem UN-Sicherheitsrat die Absicht der amerikanischen Regierung, gegen den Irak in den Krieg zu ziehen. Der Hauptvorwurf lautete, dass der Irak in geheimen Fabriken Massenvernichtungswaffen produziere und Vorräte anlege. Die Beweise für diese Behauptung waren recht dürftig. Der amerikanische Offizier Scott Ritter, nach dem Golfkrieg 1991 als UN-Waffeninspekteur im Irak tätig, hatte zuvor schlüssig dargelegt, warum der Irak über keine funktionsfähigen atomaren, chemischen oder biologischen Massenvernichtungswaffen verfügen konnte.61 Diese Aussagen hätten eigentlich Gewicht haben müssen, denn schließlich war Ritter Experte auf diesem Gebiet und hatte von 1991 bis 1998 an nichts anderem gearbeitet, als den Irak zu entwaffnen und dafür zu sorgen, dass dieser keine neuen Waffen herstellt. Doch die Meinung des Experten zählte nicht. Nach der öffentlichkeitswirksamen Präsentation Powells sprach sich eine Mehrheit der Bevölkerung in den USA für den Irak-Krieg aus. Die Massenvernichtungswaffen im Irak wurden – wie die bereits erwähnte Behauptung der Zusammenarbeit von Saddam Hussein und Osama bin Laden bei den Anschlägen am 11. September – zu einer sozialen Realität – zumindest für einen Teil der amerikanischen Bevölkerung. Mit Fakten hatte dies nicht viel zu tun. Die Massenvernichtungswaffen wurden bis heute nicht gefunden. Allerdings wurden mit dem Krieg ganz andere, schrecklich reale Fakten geschaffen.
Diese Überlegungen und Beispiele sollen zeigen, dass es so etwas wie anerkannte und nicht-anerkannte Verschwörungstheorien gibt. Darüber, ob bestimmte Ereignisse im Allgemeinen als Ergebnis einer Verschwörung betrachtet werden oder nicht, entscheiden nicht nur Fakten, sondern auch Prozesse der Erzeugung sozialer Wirklichkeit. Aus der Kombination der beiden Wahrheitsebenen von faktischer Realität und sozialer Wirklichkeit ergeben sich vier mögliche Modi, in die Verschwörungstheorien bzw. Verschwörungen eingeteilt werden können: Verschwörungstheorien sind faktisch richtig oder falsch sowie sozial anerkannt oder nicht anerkannt. Die folgende Tabelle bildet diese vier Möglichkeiten anhand von konkreten Beispielen ab.
sozial anerkannt | sozial nicht anerkannt | |
faktisch richtig | Watergate-Affäre | NSA-Überwachung(vor Snowden) |
faktisch falsch | Massenvernichtungswaffen im Irak (2003) | Chemtrails |
Im Fall der Watergate-Affäre sprechen die historisch dokumentierten Fakten eindeutig für eine Regierungsverschwörung, die innerhalb der amerikanischen Öffentlichkeit, aber auch weltweit anerkannt ist. Damit ist in diesem Fall nicht mehr von einer Verschwörungstheorie, sondern von einer Verschwörung die Rede.
Bereits vor den Enthüllungen Edward Snowdens gab es immer wieder Hinweise und Spekulationen bezüglich des gigantischen Ausmaßes der Überwachungsmaßnahmen der NSA. Diese erzeugten aber keine besondere Aufmerksamkeit. Erst durch die von Snowden veröffentlichten Dokumente wurde der Weltöffentlichkeit bewusst, in welchem Umfang die NSA Überwachungs- und Spionagemaßnahmen durchführt.
2003 verfügte der Irak über keine Massenvernichtungswaffen. Die Mehrheit der amerikanischen Bevölkerung glaubte jedoch der Bush-Regierung und war vom Gegenteil überzeugt.
Dafür, dass Passagier- oder Militärflugzeuge großflächig giftige Chemikalien in der Erdatmosphäre versprühen, spricht nur sehr wenig. Die Anhänger von Chemtrail-Verschwörungstheorien bilden eine kleine Minderheit.
Natürlich lassen sich viele Verschwörungstheorien und reale Verschwörungen nicht eindeutig einem der Felder zuordnen. Was an einer Verschwörungstheorie faktisch richtig ist und was nicht, ist in der Regel Gegenstand heftiger Kontroversen und lässt sich oftmals erst mit einem gewissen zeitlichen Abstand klären – wenn überhaupt. Der Status von Verschwörungstheorien ist dynamisch. Sowohl die Daten- und Faktenlage als auch die soziale Deutung und Bewertung können sich ändern. Was gestern noch als krude Verschwörungstheorie galt, kann morgen eine anerkannte Verschwörung sein – und gelegentlich auch umgekehrt.