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1. Verschwörungs­theorien in der wissenschaftlichen Diskussion Verschwörungstheorien überall

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Am 17. Mai 2019 wurde im Kloster Dalheim bei Lichtenau eine Ausstellung mit dem Titel Verschwörungstheorien früher und heute eröffnet. Die Ausstellung stand unter der Schirmherrschaft des Bundespräsidenten Frank-Walter Steinmeier, der zur Eröffnung eine Rede hielt, bei der er den Kampf gegen Desinformation und Verschwörungstheorien als eine der großen Herausforderungen für die liberale Demokratie bezeichnete. Dieser Kampf gehe jeden etwas an und müsse in Familien, Schulen, Büros und Betrieben ebenso ausgetragen werden wie in Zeitungsredaktionen, sozialen Netzwerken und Parlamenten. Denn trotz allen Fortschritts in Wissenschaft und Gesellschaft und trotz aller Aufgeklärtheit und Rationalität, würden bis heute viele Menschen daran glauben, dass sich Verschwörer im Geheimen zusammentun, um dunkle, verbrecherische Komplotte zu schmieden, so Steinmeier.1 Der Bundespräsident bezog sich in seiner Rede auf eine kurz zuvor veröffentlichte Studie der Friedrich-Ebert-Stiftung zu rechtsextremen Einstellungen in Deutschland.2 Sie erschien im Rahmen der sogenannten Mitte-Studien, die seit 2006 regelmäßig antidemokratische Einstellungen in der deutschen Bevölkerung messen. 2019 wurde erstmals auch explizit die Zustimmung zu Verschwörungstheorien erfasst. Das Ergebnis: Fast die Hälfte der für die Studie befragten Personen stimmte der Aussage zu, es gäbe geheime Organisationen, die Einfluss auf politische Entscheidungen haben, und fast ein Viertel der Befragten meinte, Medien und Politik steckten unter einer Decke.3

Steinmeier erwähnte in seiner Rede auch das im Jahr zuvor erschienene Buch »Nichts ist, wie es scheint«. Über Verschwörungstheorien des Tübinger Amerikanistik-Professors Michael Butter. Das Buch erfuhr eine erhebliche mediale Aufmerksamkeit. Für einen Rezensenten der Welt stellte es gar »womöglich (…) das Buch des Jahrzehnts«4 dar. Butters Kernthese in dem Buch lautet, dass die hitzigen Diskussionen über Verschwörungstheorien Symptom einer tiefer liegenden Krise demokratischer Gesellschaften seien: »Wenn Gesellschaften sich nicht mehr darauf verständigen können, was wahr ist, können sie auch die drängenden Probleme des 21. Jahrhunderts nicht meistern.«5 Zu diesem Zeitpunkt war Butter in leitender Position im Rahmen des groß angelegten, von der EU finanzierten Forschungsprojektes COMPACT (Comparative Analysis of Conspiracy Theories) zur Erforschung von Verschwörungstheorien tätig, an dem über 150 Wissenschaftler aus über 30 Ländern beteiligt waren. Eines der Ziele des Projektes bestand darin, Leitlinien für den sozialen und politischen Umgang mit Verschwörungstheorien zu entwickeln.

Das alles war vor Corona. Die SARS-CoV-2-Krise hat die gesellschaftlichen Diskussionen rund um das Thema Verschwörungstheorien noch einmal erheblich angeheizt und zugespitzt. Folgte man den Einschätzungen unzähliger alarmierender Presseartikel während der Corona-Krise, aber auch einiger Politiker und Experten, so hätten sich neben den gefährlichen Corona-Viren mindestens ebenso epidemisch gefährliche Fake News und Verschwörungstheorien zum Thema Corona ausgebreitet. Viele Beobachter sahen hierin einen weiteren Beleg dafür, dass Verschwörungstheorien die Gesellschaft spalten und eine Gefahr für die Demokratie darstellen. Mitte Mai 2020, also mitten in der COVID-19-Pandemie, erschien das Buch Fake Facts: Wie Verschwörungstheorien unser Denken bestimmen der Politikwissenschaftlerin und Netzaktivistin Katharina Nocun und der Sozialpsychologin Pia Lamberty. Das Buch erzielte einen ähnlichen, wenn nicht größeren Erfolg wie das zwei Jahre zuvor erschienene Nichts ist, wie es scheint von Michael Butter. Es schaffte es in die Spiegel-Bestellerliste und wurde von Ralf Dörwang für die Redaktion der ARD-Kultursendung titel, thesen, temperamente zum »Buch zur Stunde«6 gekürt.

Diese Beispiele verdeutlichen zweierlei: Es gab in den letzten Jahren nicht nur eine intensive gesellschaftliche und politische Debatte rund um Verschwörungstheorien. Das Thema hat sich darüber hinaus trotz oder gerade wegen seines verruchten Charakters zu einem anerkannten und populären akademischen Forschungsfeld entwickelt. Letzteres war über lange Zeit völlig anders. Verschwörungstheorien waren über Jahrzehnte kaum Thema wissenschaftlicher Forschung. Dies hing sicher nicht damit zusammen, dass Verschwörungstheorien früher weniger gesellschaftliche Relevanz gehabt hätten, sondern eher damit, dass das Thema als randständig, unseriös und fragwürdig galt – jedenfalls nicht als Thema, auf dem man eine akademische Karriere aufbaut. Seit Mitte der 1990er-Jahre hat sich die Situation grundlegend geändert. Seither ist eine kaum noch zu überblickende Flut an wissenschaftlichen Arbeiten unterschiedlicher Fachrichtungen zum Thema entstanden. Verschwörungstheorien sind gewissermaßen von einem akademischen ›Schmuddelthema‹ zu einem legitimen Forschungsgegenstand avanciert. Befeuert wurde diese Entwicklung unter anderem durch die intensiven gesellschaftlichen und politischen Diskussionen rund um die Themen ›Fake News‹, ›alternative Fakten‹, ›Filterblasen‹ oder das ›postfaktische Zeitalter‹. Doch wie so oft, wenn sich Wissenschaftler auf ein neues Thema stürzen, beginnt der Streit schon bei der Definition des Forschungsgegenstandes. Was genau sind Verschwörungstheorien?

Der Kampf um die Wahrheit

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