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Verschwörungstheorien im Wandel

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»Verschwörungstheorien haben Hochkonjunktur«, ist seit einigen Jahren mit zunehmender Häufigkeit in Medienberichten über Verschwörungstheorien zu lesen. Auch in der Wissenschaft wird das Bild der aktuellen Hochkonjunktur von Verschwörungstheorien oft und gerne bemüht.60 Als Hauptursache für die derzeitige Popularität wird in der Regel das Internet bzw. der Einfluss von sozialen Medien identifiziert. Entspricht diese Wahrnehmung den Tatsachen? Glauben heute mehr Menschen an Verschwörungstheorien als früher? Die Beantwortung dieser Frage ist alles andere als trivial und hängt davon ab, welchen Vergleichszeitraum man wählt. Sozialwissenschaftliche Umfragen über die Verbreitung von Verschwörungstheorien gibt es noch nicht lange. Will man wissen, welche Rolle Verschwörungstheorien davor gespielt haben, muss man dies auf anderem Wege herausfinden, etwa über historische Analysen, die ihre Relevanz in verschiedenen Medienformaten, in öffentlichen Debatten und politischen Strömungen untersuchen.

Eine solche Analyse hat Michael Butter für die Entwicklung von Verschwörungstheorien in den USA vorgelegt. Butter argumentiert, dass in den USA bereits sehr früh eine besondere Mischung aus speziellen religiösen (Puritanismus) und politischen (Republikanismus) Strömungen in der Bevölkerung eine besondere Neigung zu Verschwörungstheorien entstehen ließ, die bis heute nachwirkt.61 Verschwörungstheorien hatten bis Mitte des 20. Jahrhunderts in den USA eine hohe gesellschaftliche Akzeptanz und waren im öffentlichen Diskurs ein wichtiger, einflussreicher und vor allem völlig legitimer Faktor. »Von George Washington bis Dwight D. Eisenhower«, schreibt Butter, »gibt es vermutlich keinen amerikanischen Präsidenten, der nicht an Verschwörungstheorien glaubte.«62 Es handelte sich dabei vor allem um Verschwörungstheorien, in denen es um mutmaßliche Komplotte gegen den amerikanischen Staat ging. Nach dem Zweiten Weltkrieg änderte sich die Situation grundlegend. Für die McCarthy-Ära in den 1950er-Jahren in den USA waren antikommunistische Verschwörungstheorien prägend, doch der allgemeine Bedeutungsverlust von Verschwörungstheorien war bereits im Gange. Sie wurden zunehmend vom Zentrum an die Ränder der Gesellschaft gedrängt.63

Ein Hauptgrund für diese Marginalisierung besteht darin, dass sich zunehmend Kritik aus dem Feld der Sozialwissenschaften an Verschwörungstheorien formierte. Geprägt von den Erfahrungen des Zweiten Weltkrieges, beschäftigen sich die ins amerikanische Exil geflüchteten deutschen Soziologen Theodor W. Adorno und Leo Löwenthal mit den Ursachen des Totalitarismus und in diesem Zusammenhang auch mit Verschwörungstheorien. In ähnlicher Weise kritisierte, wie bereits erwähnt, Karl Popper Verschwörungstheorien als Bestandteil totalitären Denkens. Diese Überlegungen wurden in den 50er-Jahren von einer neuen Generation Forscher aufgegriffen, weiterentwickelt und im Zuge der öffentlichen Kritik an den Maßnahmen der McCarthy-Ära einem breiten Publikum bekannt. Von nun an waren Verschwörungstheorien in zunehmendem Maße mit politischen Extremen assoziiert, was schließlich auch in dem Essay The Paranoid Style in American Politics von Richard Hofstadter aus dem Jahr 1964 zum Ausdruck kam.64

Es spricht einiges dafür, dass diese Entwicklung in ähnlicher Form auch außerhalb der USA stattfand. Auch in Europa waren Verschwörungstheorien über lange Zeit in öffentlichen Debatten etwas völlig Normales und Akzeptiertes. Hierzu noch einmal Michael Butter: »Als integraler Bestandteil des politischen Diskurses waren Verschwörungstheorien in der Frühen Neuzeit, wie schon zuvor in der Antike, vollkommen legitimes Wissen. Sie wurden von Eliten ebenso wie von der breiten Masse der Bevölkerung geglaubt und verbreitet; ihre Grundannahmen wurden nicht angezweifelt. Daran änderte auch die mit der beginnenden Aufklärung einhergehende Säkularisierung nichts.«65 Auch in Europa wurden Verschwörungstheorien, ganz ähnlich wie in den USA, erst ab der Mitte des 20. Jahrhunderts delegitimiert und schließlich auch stigmatisiert. Das bedeutet natürlich nicht, dass sie seither jemals ganz verschwunden wären. Sie waren immer da. Lediglich ihr gesellschaftlicher Status hat sich geändert. Wenn heute also von einer Zunahme, von einer ›Hochkonjunktur‹ von Verschwörungstheorien die Rede ist, kann dies höchstens im Vergleich zu den letzten Jahrzehnten gelten. Zuvor hatten Verschwörungstheorien eine wesentlich größere Bedeutung als heute. Insgesamt kann gelten: Verschwörungstheorien sind historisch gesehen der Normalfall, nicht die Ausnahme. Ihre historische Kontinuität lässt sich nicht nur, aber auch mit der historischen Kontinuität von Verschwörungen erklären.

1 Jehne 1998, S. 41

2 Vgl. Vankin und Whalen 2004 sowie Schultz 1998

3 Pipes 1997, S. 43–44

4 Machiavelli 2007, S. 296

5 Vgl. Hepfer 2015, S. 98

6 Machiavelli 2007, S. 304

7 Vgl. Schultz 1998, S. 8

8 Vgl. Alt und Schiffer, S. 40

9 Vgl. Caumanns 2020, S. 263

10 Vgl. Delumeau 1985, S. 511–512

11 Vgl. Tschacher 2001, S. 62

12 Vgl. Delumeau 1985, S. 513

13 Vgl. Groh 1999, S. 285

14 Vgl. Delumeau 1985, S. 516

15 Vgl. Tschacher 2001, S. 49

16 Groh 1999, S. 287

17 Tschacher 2020, S. 39

18 Tschacher 2020, S. 44

19 Tschacher 2001, S. 62

20 Butter 2018, S. 146

21 Tschacher 2020, S. 52

22 Vgl. Lengeling 2020 sowie Roisman 2006

23 Vgl. Hummel 2018, S. 189

24 Groh 1999, S. 304

25 Pfahl-Traughber 2002, S. 33

26 Zitiert nach Stein 1996, S. 36

27 Vgl. von Bieberstein 2008, S. 165 sowie Jaecker 2005, S. 42

28 Vgl. Bieberstein 2008, S. 167

29 Vgl. Waibl-Stockner 2009, S. 42 sowie Jaecker 2005, S. 43

30 Vgl. Jaecker 2005, S 43

31 Vgl. Hagemeister 2004, S. 94

32 Vgl. Jaecker 2005, S. 46

33 Nocun und Lamberty 2020, S. 111

34 Pfahl-Traughber 2003, S. 214

35 Vgl. Butter 2018, S. 166

36 Jaecker 2003, S. 52

37 vgl. Hagemeister 2004, S. 91 sowie Stein 1996, S. 41–42

38 vgl. Jaecker 2005, S. 53 sowie Gugenberger et al. 1998, S. 123–131

39 Vgl. Butter 2018, S. 168

40 Vgl. Jaecker 2005

41 Nocun und Lamberty 2020, S. 112

42 Jaecker 2005, S. 182

43 Vgl. Hasselmann 2002

44 Vgl. Pfahl-Traughber 2004, S. 34–35

45 Vgl. Wendling 2002, S. 42–44

46 Vgl. Reinalter 2004, S. 61

47 Groh 1999, S. 292

48 Vgl. Pfahl-Traughber 2004, S. 37 sowie von Bieberstein 2002, S. 18–19

49 Vgl. Pfahl-Traughber 2004, S. 37–39

50 Arendt 2017, S. 704–707

51 Vgl. Pfahl-Traughber 2004 S. 41–42

52 Vgl. Westerbarkey 1998, S. 143

53 Vgl. Pfahl-Traughber 2004, S 46

54 Verfassungsschutzbericht 2004, S. 109

55 Vgl. Pfahl-Traughber 2004

56 Westerbarkey 1998, S. 141

57 Vgl. Westerbarkey 1998, S. 146

58 Igel 2014, S. 83

59 Vgl. Igel 2014, S. 83–89

60 Siehe etwa Seidler 2013, S. 22

61 Vgl. Butter 2014, S. 260–267

62 Butter 2018, S. 149

63 Butter 2014, S. 268

64 Vgl. Butter 2018. S. 153–156 sowie Thalmann 2019

65 Butter 2018, S. 147

Der Kampf um die Wahrheit

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