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2.5

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Es waren die letzten Minuten vor Schulschluss. Auf Bastian wartend, stand Lucas wie abgesprochen am Baum und rauchte eine Zigarette. Er befand sich seit einer geschlagenen Ewigkeit dort. Der Gong ertönte und Lucas sah die ersten Schüler an sich vorbeirennen. Mit Adleraugen hielt er Ausschau nach Bastian.

Bastian war total aufgeregt und freute sich enorm auf die Zeit mit Lucas. Als er ihn sah, wurde ihm wohlig warm ums Herz. „Hey!“, grüßte er.

„Wieso rennen die denn alle so?“, rätselte Lucas.

„Du rauchst auf dem Schulhof?“ Bastian war baff.

„Hab doch Schluss.“

„Verstehe.“ Dass Lucas so cool und locker blieb, begeisterte Bastian. „Um deine Frage von eben zu beantworten: Die meisten versuchen den Bus um Viertel nach zu erwischen, was ganz gut für mich ist. Nun ja, sofern ich mit diesem Bus fahre. Der nächste ist dann immer so schön leer.“

Langsam setzten die beiden Teenager sich im perfekten Einklang in Bewegung.

Warum sagte Lucas nichts? „Was ist?“, wunderte Bastian sich, als er in dieses spitzbübische Gesicht sah.

„Nichts“, meinte Lucas. „Ich musste gerade nur an etwas denken.“

„Okay, und an was?“

„Wenn ich dir das sagen würde“, sagte er und hob mit einem ahnungslosen Ausdruck auf seinem Gesicht die Schultern an.

„Jetzt bin ich genau so schlau wie vorher.“

„Schwuchtel!“, hörten sie auf einmal ein Weib verächtlich brüllen, was Bastian hochzucken ließ.

Verwundert wandte Lucas sich um. „Galt das jetzt dir oder mir?“

Bastian erblickte Miranda. „Mir“, antwortete er Augen rollend.

Fragend zeigte Lucas zu dem Mädchen, während er zu Bastian schaute. „Kennst du die?“

„Das Miststück geht in meine Klasse.“

Lucas schmunzelte, denn mit dieser Wortwahl hatte er nicht im Entferntesten gerechnet.

„Was ist?“

„Ach, nichts. Aber sag, redet die immer so mit dir?“

„Ja, leider.“

„Ey, Alter! Das ist ein Mädchen.“

„Und?“

„Na, sie ist ein Mädchen!“, stellte er klar, wobei die Betonung eindeutig auf „Mädchen“ lag.

„Da wäre ich mir bei der nicht so sicher.“

„Mädchen, Dämon, laufende Tonne“, meinte er entgeistert, „spielt keine Rolle.“

„Und was willst du mir damit sagen?“

„Dass du dir das auf keinen Fall von so einer hässlichen Ziege gefallen lassen solltest.“

„Und was sollte ich deiner Meinung nach tun? Soll ich sie etwa schlagen?“

„Wäre ein Anfang.“

„Glaub mir: Wenn ich es könnte, dann hätte ich es längst schon getan.“ Er setzte sich auf einen der zwei kleinen Steinpfosten, die auf dem Parkplatz standen.

„Was hält dich davon ab?“ Lucas legte den Rucksack auf den Platz und ließ sich nieder.

„Sie hat Freunde.“

„Verstehe.“

„Die ganze Schule ist sozusagen ihr Freund.“

„Und jetzt hast du auch einen.“

„Einen was?“

„Freund.“

„Ach, habe ich das?“, fragte Bastian ungläubig.

„Auf mich kannste dich verlassen“, versprach er hoch und heilig.

„Abwarten“, murmelte Bastian und sah auf sein Handy.

„Hey“, sagte Lucas liebevoll.

„Hm?“

„Alles gut?“

„Jetzt hör auf, mich das andauernd zu fragen“, wünschte Bastian lächelnd.

„Okay. Ich halte schon meine Klappe.“

„Nein, so meinte ich das nicht. Nur auf diese Frage …“

„Ja?“

„Ich kann dir darauf einfach keine ehrliche Antwort geben und ich möchte dich nur ungern anlügen.“

„Okay, ich verstehe.“

„Entschuldige.“

„Nein-nein. Ich verstehe schon. Wir kennen uns ja erst seit heute. Nicht der Rede wert. Abgesehen davon vertraue ich auch niemandem.“

„Wie kommst du darauf, dass ich niemandem vertrauen würde?“

Lucas warf ihm einen vielsagenden Blick zu.

„Ja“, gestand Bastian sodann. „Ich vertraue niemandem.“

„Ich weiß.“

Bastian konnte sich nicht helfen, aber der Drang, Lucas zu berühren, war enorm. Sanft schlug er gegen dessen Oberarm. „Und was machst du heute so nach der Schule?“

„Die da bereits zu Ende ist“, bemerkte Lucas schmunzelnd.

Richtig zusammenreißen musste Bastian sich, um dem Hübschen nicht erneut gegen den Arm zu schlagen. Wobei das Schlagen an sich mehr ein sanftes Stupsen war.

„Oh, Mann“, seufzte Lucas beschwerlich.

„Was denn?“

„Ich werde heute Abend bestimmt total heiser sein.“

„Wieso das?“

„Na, in der Regel rede ich eigentlich nicht so viel, weißt du?“

„Ach, und morgen gibst du mir dann die Schuld, wenn du Halsschmerzen hast?“

„Nein, keine Sorge.“

„Weniger rauchen“, schlug Bastian vor.

„Bei dem, was mir heute bevorsteht, müsste ich eigentlich eine nach der anderen qualmen.“

„Wieso? Was steht dir denn bevor?“

„Ach, ähm …“ Lucas hielt einen Moment inne. Seine Sorgen wollte er dem Knuffigen nun wirklich nicht aufzwingen – zumindest nicht gleich am ersten Tag des Kennens. „Ich mache heute Bekanntschaft mit jemanden und darauf könnte ich echt verzichten.“

„Du sprichst in Rätseln.“

„Ja, ich weiß. Sorry. Irgendwann sage ich es dir vielleicht mal.“

„Schon gut. Ich erwarte keine Erklärung.“

„Ach, nicht?“

„Nein, wenn man nicht reden will, dann will man halt nicht.“

„Wollen schon, nur …“

„Man weiß nicht, wie und wo man anfangen soll“, vollendete Bastian den Satz.

„Du hast es erfasst“, stimmte Lucas ihm zu und atmete tief durch. Er versuchte wieder fröhlicher zu wirken. „Und, Basti?“

„Hm?“

„Erzähl.“

„Und was?“

„Kein Plan, Mann. Leck mich ab.“

„Leck mich ab?“, wiederholte Bastian langsam fragend. Herzhaft lachte er.

Peinlich berührt kniff Lucas die Augen zusammen und verzog die Mundwinkel. „Lenk mich ab, meinte ich.“ Doch seinen Worten wurde kein Gehör geschenkt, denn Bastian kriegte sich nicht mehr ein.

„Leck mich ab“, gackerte er. Den Sound seiner Stimme, sobald er laut lachte, war ihm fast schon fremd. „So geil.“

„Das ist nicht lustig“, meinte Lucas mit ernster Miene, bekam beim Anblick auf Bastian, wie er sich vor Lachen krümmte, aber ein Grinsen im Gesicht.

„Huhu …“, kicherte Bastian, der versuchte, sich wieder zu beruhigen. Nach einigen Versuchen hatte er es endlich geschafft. Er wischte sich Lachtränen aus den Augenwinkeln.

„Ist der Herr jetzt fertig, ja?“

„Ja, der Herr ist fertig. Entschuldige. Der war einfach zu gut.“ Er räusperte sich. „Dann lenk ich dich mal ab.“

„Du kannst mich natürlich auch ablecken“, entfuhr es Lucas. „Aber bitte nicht die Füße, bin da nämlich sehr kitzelig.“ Die großen Augen, die ihn anstarrten, brachten ihn unwillkürlich zum Kichern. „Nur Spaß, Mann. Nur Spaß.“

„Ähm … okay.“

„Also, lenk mich fürs Erste ab.“

„Ähm, wie war der Sportunterricht?“

„Der Pisser hat mich natürlich nicht mitmachen lassen.“

„War klar.“

„Dennoch durfte ich wie so ein beschissener Sklave seine verfickte Arbeit machen. Turngeräte aufbauen, Matratzen schleppen, Bälle einsammeln. Irgendwann hatte ich die Schnauze halt voll und ihn angebrüllt.“

„Du hast dich echt mit ihm angelegt?“

„Vor diesem Pisser habe ich doch keinen Schiss, Mann.“

„Respekt.“

„Naja … meine große Klappe sorgte dafür, dass er mich der Turnhalle verwies.“

„Bei dem musst du echt vorsichtig sein“, warnte Bastian ihn vor.

„Wieso sollte ich? Wer mir doof kommt, der sollte sich nicht wundern, wenn ich ihm eine passende Antwort um die Ohren kloppe.“

„Ja, mag sein, aber der ist echt hinterhältig. Letztes Jahr zum Beispiel, es war Elternabend, und meine Mutter kam mit ihrem damaligen Freund“, er erinnerte sich widerwillig zurück. „Wir gingen zum Bröller, setzten uns vor ihn und er redete nur Schwachsinn.“

„Und was sagte er zu deinen Eltern?“

„Mutter“, korrigierte Bastian ihn. „Er ist … er war nicht mein Vater. Sind auch nicht mehr zusammen.“

„Tut mir leid.“

„Muss es kein bisschen. War ein totales Arschloch.“

„Wieso, was hat er getan?“

„Ach, ähm, war halt so ein Spinner. Meine Mutter kannte ihn irgendwie schon länger, gesehen hatte ich ihn jedoch nie. Die waren so an die zwei oder drei Wochen zusammen und am Tag, als es Zeugnisse gab, trat er mir entkleidet im Wohnzimmer gegenüber.“

„Unbekleidet?“, fragte Lucas verblüfft.

„Ja, komplett nackt“, bestätigte Bastian. „Zugegeben, er hatte keinen schlechten Body, aber …“

„Ach“, horchte Lucas auf, „hatte er nicht?“

„Im Vergleich zu den Typen davor nicht.“

„Also nach deinem Geschmack?“

„Was?“, fragte Bastian erschrocken. „Nein, nein!“

„Nur Spaß, Mann.“

„Du bist gemein, Mann.“

„Entschuldige. Was geschah dann?“

„Nun ja. Ich wollte gerade Hallo sagen, da verlangte er prompt mein Zeugnis.“

„Was ist’n das für’n Spasti?“

„Genau das Gleiche hatte ich auch gedacht. Nun ja – fast zumindest. Ich überreiche ihm also mein Zeugnis und das Erste, was er zu mir sagte, war: ‚Ganz schön viele Dreien. Streng dich mal gefälligst mehr an‘.“ Ungläubig wurde er angeguckt. „Ernsthaft“, schwor Bastian. „Kein Hallo, nur: ‚Lern gefälligst mehr!‘ “ Er drehte sich um und verschwand wieder im Schlafzimmer.“

„Klingt, als wärste froh darüber, dass deine Mutter nicht mehr mit dem Spinner zusammen ist.“

„Total. Auf jeden Fall sagte der Bröller zu meiner Mom am Elternsprechtag, dass ich gestört sei und psychiatrische Hilfe benötige, da ich ja nie Sport mitmache und so’n Scheiß.“

Lucas lachte vor Entsetzen. „Na, dem hätte ich es gegeben.“

„Ich saß da nur wie so ein schlapper Sack und starrte zu Boden. Das war mir so peinlich, das glaubst du gar nicht.“

„Du lässt dir zuviel gefallen“, bemerkte Lucas, woraufhin keine Antwort folgte. „Ich meine das nicht böse, Basti. Wirklich nicht.“

„Ja, ich weiß.“

„Dir scheinen echt ein paar Leute zu fehlen, die dich aufbauen und dir Selbstbewußtsein schenken.“

„Selbstbewusstsein?“, fragte Bastian leise.

„Deins ist gerade auf einem sehr niedrigen Level. Und das sage ich dir und wir kennen uns kaum. Überleg mal, wie andere dich dann sehen, die sich nicht mit dir unterhalten.“

Bastian wurde es richtig unwohl bei diesen Worten.

„Hey“, sagte Lucas sanft. Er legte seine Hand auf Bastians Oberschenkel und sah ihm tief in die Augen. „Wir kriegen das schon hin. Okay?“

Bastian hatte sichtlich damit zu kämpfen, nicht in Tränen auszubrechen. Lucas war der erste Mensch auf Erden, der sich wirklich um ihn zu sorgen schien. Doch warum?

Lucas zwinkerte und ließ von ihm ab. „Du, sag mal, wie findeste mein Haar?“

„Hm?“

„Ich habe mir heute schon einige dumme Sprüche deswegen anhören dürfen.“

„Was glaubst du, was ich mir anhören durfte, als ich mir mal blonde Strähnchen gemacht hatte?“

„Hatteste schon immer längere Haare?“

„So lang sind die doch gar nicht“, meinte er nachdenklich und fasste sich ins Haar. „Okay, hinten gehen sie bis zum Nacken, aber …“

„Sollte kein Angriff sein, Mann.“

„Nicht?“

„Nein“, versprach Lucas. „Und jetzt sag mir ehrlich, was du von meinem Haar denkst.“

„Es ist blond.“

„Und?“

„Es ist kurz.“

„Und?“

„Du hast einen Ansatz. Was aber irgendwie ziemlich gut aussieht.“

„Und?“

„Du liebst Komplimente, nicht?“, erkannte er schmunzelnd.

„Und wie“, gestand Lucas. „Nein, jetzt aber mal ohne Scheiß.“

„Ohne Scheiß“, schwor Bastian.

Gespannt wartete Lucas auf die Antwort. „Jetzt sag schon.“

„Es sieht gut aus.“

„Wirklich?“

„Ja“, sagte Bastian zum gefühlten zehnten Mal. „Wir haben hier auf der Schule noch einen Blonden. Wobei … der schaut mehr wie so eine leuchtende Orange aus, die es mit einer Zitrone getrieben hat.“

Lucas konnte es sich bildlich vorstellen und kicherte.

„Ist doch wahr. Den musst du mal sehen.“ Lästern, so fand Bastian, fühlte sich verdammt gut an. Am liebsten hätte er gleich noch über andere Leute gespottet.

„Kann ja auch nichts dafür, dass die alle so verwahrlost herumgeistern.“

„Sie geistern herum?“

„Du weißt, was ich meine.“

„Ach, tu ich das?“

Lucas sah ihn bedeutungsvoll an.

„Ja, du hast ja recht. Viele laufen herum, als kämen ihre Sachen vom Sperrmüll.“

„Du solltest mal die Tussen in meiner Klasse sehen“, meinte Lucas abschätzig.

„Keine dabei, die dein Herz zum Schmelzen bringt?“

„Da mach ich’s mir doch lieber selbst“, erwiderte Lucas angewidert. „Pfui!“ Er schüttelte sich theatralisch.

„Keine Freundin, die daheim auf dich wartet?“ Er musste es einfach wissen.

„Nein, ich bin ganz allein auf der Welt“, meinte er gespielt traurig. Dabei waren diese Worte keineswegs gelogen.

„Och“, machte Bastian und streichelte ihm mehrmals sanft über den Rücken.

„Ja, bemitleide mich“, forderte Lucas weiterhin trügerisch schluchzend, musste dann aber anfangen zu lachen.

Verrückt!, dachte Bastian.

„Nein, jetzt aber mal Spaß bei Seite“, sagte Lucas ernster. „Du bist also nicht der Meinung, dass ich mir die Haare dunkler machen soll?“

„Ich finde es cool. Hat etwas von Spike aus Buffy. Kennst du sicherlich.“

„Ja, wer kennt Buffy nicht? Mir geht diese Sommerpause gerade nur aufn Sack. Andauernd zeigen sie Charmed.“

„Finde Charmed zwar nicht schlecht, aber Buffy ist bei Weitem besser.“

„Recht hast du. Also?“

„Hm?“

„Lassen?“

Bastian nickte nach kurzer Betrachtung.

„Gut. Wenn du sagst, dass es mir steht, dann lasse ich es so.“

„Und wenn ich was anderes sagen würde?“

Planlos zuckte Lucas die Achseln. „Keine Ahnung. Entweder würd‘ ich es ändern oder, was wahrscheinlicher wäre, ich würd‘ dich für deine Frechheit, mir zu sagen, dass ich scheiße aussehe, hauen.“

„Sorry, steh nicht so auf Schläge.“

„Es wäre ja auch kein richtiges Hauen.“

„Ach, nicht?“

„Nein, eher so eine Art des Auskitzelns.“

„Verstehe.“ Bastian wäre nur zu gern ein weiteres Mal von Lucas berührt worden, was ihn beinahe dazu verleitet hätte, etwas Falsches über dessen Aussehen zu sagen. Doch dazu sollte es nicht kommen, denn Frau Pan überraschte die beiden mit ihrer Anwesenheit.

„Bastian!“, sagte Frau Pan, die ihre Aktentasche in den Händen hielt.

Bastian schaute ein Stückchen auf. Im Sitzen war er nahezu genau so groß wie die Lehrerin im Stehen. „Hallo.“

„Was machst du denn noch hier?“, wunderte sie sich und sah kritisch zu Lucas hin. War der junge Mann wirklich der passende Umgang für Bastian? „Und wer bist du, wenn ich fragen darf?“

„Oh“, machte Lucas, wischte sich schnell die Hände am Oberteil ab und reichte ihr daraufhin die Hand. „Lucas.“

„Lucas also, hm?“ Nachdenklich guckte sie ihn an. Hatte sie ihn schon einmal je zuvor gesehen? „Bist du von dieser Schule?“

„Oh, ähm, ja. Ich bin heute erst hierhergekommen.“

„Und in welche Klasse gehst du, wenn ich fragen darf?“

„Ich gehe in die Zehnte. Bröller ist mein Lehrer.“

„Und ihr kennt euch schon lange?“, fragte sie neugierig, wie sie nun einmal war.

„Yep“, schwindelte Lucas mit einem Nicken.

„Na, das freut mich doch“, sagte sie mit einem Lächeln zu Bastian. „Wird ja auch mal Zeit, dass du jemanden hast, der zu dir hält und zu dir steht.“

Diese Worte brachten Bastian in Verlegenheit, Lucas hingegen zum Schmunzeln.

„Es kann nämlich nicht angehen, dass du dir ständig alles von diesem, verzeih die Wortwahl, aber von diesem Miststück gefallen lässt.“

Leise kicherten die beiden Jungs auf.

„Ist doch wahr!“, regte Frau Pan sich auf. „Haben ständig große Klappe und denken, sie seien die Göttinnen unserer Schule. Das kann so nicht weitergehen.“

„Ja, ich weiß ja“, murmelte Bastian mit gesenktem Blick.

„Nur weil du eventuell schwul sein könntest …“, fuhr die Lehrerin fort.

Worte, die Bastians Gesicht zum Glühen brachten.

„Haben die dich noch lange nicht so zu behandeln!“

„Sehe ich genau so“, stimmte Lucas ihr zu.

„Ständig“, sagte sie zu dem Neuen, „haben diese verwöhnten Tussen ihn auf dem Kieker.“

„Nee, das kann nicht angehen“, gab er ihr recht.

„Wenn man am frühen Morgen schon hört, wie sie ihn wieder und wieder beleidigen, dann krieg ich so einen Hals!“, sagte sie mit einer bedeutsamen Geste. „Und dann besitzen diese dummen Hühner auch noch die Frechheit, mich blöd anzumachen. Da könnt ich denen manchmal eine überziehen, das glaubst du gar nicht!“

„Gebe Ihnen vollkommen recht.“

Bastian fühlte sich bei diesem Gespräch irgendwie außen vor, wusste aber auch nicht, was er dazu hätte sagen sollen.

„Bastian!“ Unabsichtlich erschreckte Frau Pan ihn mit dieser Anrede.

„Ja?“

„Du konntest es doch heute auch. Warum also nicht schon früher? Wieso erst seit heute?“

„War so eine Art Reflex.“

„Diesen Reflex solltest du definitiv öfter haben, denn es wird mal Zeit, dass du diesen Gören die Stirn bietest.“

Bastians Blick schweifte kurz zu Lucas, der ihn ununterbrochen eindringlich ansah. „Ähm“, er musste aus Verlegenheit grinsen. „Ich werde es versuchen.“

„Nicht versuchen“, verneinte Frau Pan, „machen! Und jetzt entschuldigt ihr beiden Turteltauben mich, aber ich habe Feierabend und will nur noch in mein trautes Heim.“ Mit einem Lächeln wandte sie sich um und stieg in ihren Wagen.

Lucas verkniff sich mühsam das Lachen. „Scheiße, was hast du denn für eine coole Lehrerin?“, fragte er, während sie Frau Pan in ihrem kleinen schwarzen Smart davonbrausen sahen, ein Anblick, den beide urkomisch fanden. „Aber sie hat vollkommen recht mit dem, was sie gesagt hat.“

„Ja, mag sein.“

„Nein, ist so. Du darfst dir das nicht gefallen lassen. Wie ich schon sagte, das sind Tussen.“

„Aus deinem Mund klingt das immer so, als seiest du voll der Frauenhasser.“

„Ich hasse keine Frauen“, stellte Lucas betont klar. „Ich hasse nur diese Art von Tussen. Wenn es nach mir gehen würde, was ja leider nicht so ist, dann würden solche Gestalten auf dem Scheiterhaufen landen und elendiglich verbrennen.“

„Ich besorg dann schon mal die Streichhölzer“, scherzte Bastian nüchtern.

„Ach, und ich darf das Gesindel einfangen und fesseln?“

„Du bist doch der Stärkere von uns beiden.“

„Dann musst du mir aber Handschuhe besorgen, denn anfassen tu ich diese Dinger sicherlich nicht.“ Übertrieben schüttelte er sich, was Bastian abermals zum Kichern brachte. „Ist doch wahr, Mann. Ham doch alle einen an der Klatsche, diese Pisser.“

„Wie wahr, wie wahr.“

„Was sagen die Kühe denn immer so zu dir?“

„Das Übliche halt“, meinte Bastian mit einem Schulterzucken.

„Und das da wäre? Schwuchtel oder was?“

„Ja, meistens.“

„Und was noch?“

Tief atmete Bastian durch, ehe er aufzählte: „Schwuchtel, Arschficker, Schwanzlutscher, Penisgesicht, Bratze, dumme Schwuchtel, hässliche Schwuchtel, ekelige Schwuchtel, bescheuerte Schwuchtel, halt vieles, wo Schwuchtel drin vorkommt.“

„Ey, Alter, ohne Scheiß! Wenn die das nur ein einziges Mal zu mir sagen würden, ich würde die umnieten – ohne zu zögern.“

„Würdest du nicht“, war sich Bastian sicher.

„Türlich würde ich, Mann. Das sind Frauen! Wenn du mich fragst, dann erlaubt sich dieses Gesocks einfach zu viel. Manche sind ja ganz okay, aber viele von ihnen nehmen das mit der Emanzipation ein wenig zu ernst. Die verwechseln das Dasein einer Frau mit asozialem Verhalten. Geht mal voll nicht, Mann.“ Lucas bemerkte, dass sich sein Gegenüber ein bisschen unwohl bei diesem Thema fühlte. „Du brauchst vor diesem Gesindel absolut keinen Schiss ham, Alter.“

„Können wir vielleicht das Thema wechseln?“, fragte Bastian angesäuert. „Mir reicht es schon, dass ich diese Ziegen jeden Tag sehen muss.“

„Ich mein ja nur“, sagte Lucas und zündete sich eine Zigarette an. „Ich meine ja nur. Lass dir das einfach nicht gefallen.“

„Jetzt mal ehrlich, was würdest du denn machen, wenn du ich wärst?“

„Sagte ich dir schon.“

„Ach, hör doch auf.“

„Nein, wirklich. Beim ersten Mal würde ich ihr einen passenden Spruch zurückkloppen. Einen Spruch, an dem sie erst Mal den ganzen Tag zu nagen hat. Beim zweiten Mal würde ich sie vorwarnen und beim dritten Mal würd’ sie eine verpasst kriegen, ganz einfach, Mann.“

„Und dann würden all ihre Freundinnen inklusive Macker kommen und dich totprügeln.“

Gleichgültig zuckte Lucas die Achseln. „Und? Die würde ich alle umnieten.“

„Was du nicht könntest.“

„Sagt wer?“

„Zehn Leute um dich herum“, meinte Bastian nur.

„Und wenn es zwanzig wären, Mann. Hab nicht umsonst zweimal die Woche die Karateschule besucht.“

„Du kannst Karate?“ Bastian staunte nicht schlecht. „Welchen Gürtel hast du denn?“

„Ich bin Träger des 1. Dan“, verkündete er voller Stolz.

„Erster Dan?“, rätselte Bastian. „Was heißt das? Weißer Gürtel oder wie?“

„N-Nein“, widersprach Lucas schmunzelnd. „Der Schwarze.“

„Warum sagst du dann Dan? Ist das so eine Art Geheimsprache?“

„Nein. Es gibt halt verschiedene Dan-Grade. Hab den 1. Dan auch erst vor kurzem erreicht. Eigentlich ist es üblich, hier zumindest, dass man mindestens achtzehn Jahre alt sein muss, um die Prüfung zu absolvieren, aber mein Lehrer hatte bei mir eine Ausnahme gemacht, da er wusste, dass ich wegziehen würde. Für den 2. Dan müsste ich bei ihm zwanzig Jahre alt sein und für den 3. dreißig.“

„Also gibt es drei Stufen?“

„Zehn.“

„Höh? Wenn man alle zehn Jahre nur eine Stufe erreichen kann, dann müsstest du ja einhundert Jahre alt werden.“

„Weltweit gesehen gibt es kaum Menschen, die den zehnten Dan erreicht haben. Ist halt so ’ne Sache. Der erste Dan, also der Shodan, ist der Grad des Suchenden. Ich werde auf jeden Fall weitermachen, denn wer sich auf dem ersten Grad ausruht, der hat eigentlich schon verloren.“

„Verstehe nur Bahnhof.“

„Erzähl ich dir vielleicht mal in aller Ruhe. Man muss sich auch ein wenig dafür interessieren.“

„Ich liebe Kämpfen“, gestand Bastian. „Nun ja“, fügte er kleinlaut hinzu, „so lange ich nur der Zuschauer bin.“

„Könntest du übrigens auch machen.“

„Karate?“

„Klar, warum denn nicht, Mann?“

„Hm, weiß nicht.“

„Ist gar nicht so teuer. Außerdem fühlst du dich fitter und lebendiger.“

„Hmmm“, machte Bastian nachdenklich. „Ich kann das bestimmt nicht.“

„Quatsch, kann jeder lernen – fast jeder zumindest.“

„Siehst du!“

„Was’n?“

„Du sagtest fast jeder. Ich gehöre somit nicht dazu.“

„Unsinn. Ich meinte damit jetzt zum Beispiel Menschen ohne Beine.“

„Ich hab keine“, behauptete Bastian.

Lucas lachte. „Soso, du hast also keine Beine.“

„Nein, das was du siehst, sind Stelzen.“

„Ach, und Stelzen sind demnach keine Beine?“

„Stelzen sind Stelzen. Und Beine sind Beine.“

„Eine sehr logische Erklärung“, meinte Lucas amüsiert.

Bastian spielte mit dem Gedanken, Lucas als Blondi zu betiteln, damit der Hübsche ihn durch die Gegend jagen und anschließend auskitzeln würde. Sollte er es wagen? Grinsend biss er sich auf die Unterlippe und flüsterte: „Blondi.“

„Hm, was?“

„Nichts“, meinte Bastian und murmelte es abermals: „Blondi.“

„Hast du mich gerade Blondi genannt?“, fragte Lucas, der bereit war, Bastian zu packen und auszukitzeln.

„Du blondierte Birne“, traute sich Bastian zu sagen und sprang im gleichen Moment auf, um das Weite zu suchen.

„Na warte!“, rief Lucas scherzend und rannte hinter ihm her. „Wenn ich dich kriege, dann kannste was erleben, Mann!“

Bastian lachte und hastete hinter eins der wenigen Autos, die noch auf dem Parkplatz standen. „Du wirst mich niemals kriegen“, meinte er mit einem hochnäsigen Ausdruck auf dem frech grinsenden Gesicht.

„Sicher?“, fragte Lucas, während sie ums Auto herumgingen.

„Total“, sagte Bastian, als er an der Haube stand. „Blonde Menschen neigen nämlich oftmals dazu, sich im passenden Moment auf die Schnauze zu legen.“

„Ganz schön frech“, erkannte Lucas, was ihn nur noch mehr dazu anspornte, den Zierlichen in die Finger zu kriegen.

Fast schon gelangweilt hob Bastian nichtssagend die Schultern an. Mit dem, was dann kam, hatte er jedoch nicht gerechnet. Lucas sprang mit einem Satz über die Motorhaube. Beinahe wäre er von ihm geschnappt worden.

„Du entkommst mir nicht!“

Eigentlich war sich Bastian sicher, dass er schneller als Lucas war, aber da hatte er sich getäuscht. Mit einem Mal hatte Lucas ihn von hinten gepackt und an sich gedrückt. „Ah, Scheiße!“

„Blondi also, ja?“, spaßte Lucas und begann ihn freudig auszukitzeln.

Kaum konnte sich Bastian vor Lachen auf seinen Beinen halten.

Dass der Knuffige mit dem Hinterteil so wild von links nach rechts vor seinem Schritt wackelte, erregte den Auskitzler ein wenig. Dennoch wollte er noch nicht damit aufhören, ihn zu berühren. Er ertastete dessen Oberkörper regelrecht, während er kitzelte und es gefiel ihm, dass Bastian schlank gebaut war. Nirgends schien auch nur ein bisschen Speck vorhanden zu sein.

„Ich kann nicht mehr“, lachte Bastian, der kaum noch Luft bekam.

Als Lucas bemerkte, dass sein bestes Stück langsam, aber sicher in die Höhe ragte, ließ er von dem Süßen ab.

Bastian wandte sich zu ihm um. „Alter, wieso bist du so schnell?“

„Gegenfrage: Warum biste so lahm?“

Bastian streckte ihm die Zunge raus und ging zurück zum Pfosten. „Bin nicht lahm.“

„Ja, du magst flott sein, aber für mich eindeutig nicht schnell genug.“ Lucas griff nach seinen Zigaretten.

Das konnte Bastian nicht auf sich sitzen lassen. Er riss Lucas die Packung aus den Händen und rannte lachend davon.

„Jetzt bist du aber so was von fällig!“ Lucas düste ihm hinterher. Schneller als gedacht, hatte er ihn zu fassen bekommen.

Bastian hielt die Packung Zigaretten so nah an seinen Bauch, damit Lucas auch ja tief genug hätte greifen müssen, um sie zurück zu erlangen.

„Her damit“, forderte Lucas lachend und versuchte die Zigaretten zu erwischen. Allerdings drehte Bastian sich stets von ihm weg, so dass er keine andere Wahl hatte, als sich von hinten gegen ihn zu pressen. „Her damit, du Schlingel!“

„Niemals!“ Bastian lachte sich schlapp, als er erneut ausgekitzelt wurde. Und dann, völlig unverhofft, hatte Lucas ihm unter die Achseln gegriffen und fest an sich gedrückt.

„Und was machste jetzt?“, fragte Lucas triumphierend. Dieses Gefühl, den grazilen Körper an seinem zu spüren, empfand er hervorragend.

Hochrot war Bastian angelaufen. Kein Wort brachte er mehr über die Lippen. Als er allerdings spürte, dass sich etwas in seiner Hose regte, musste er aufgeben, bevor es noch peinlich geworden wäre. „Ich gebe auf.“

„Ganz sicher?“

So sicher war sich Bastian gar nicht. War Lucas schwul? Wenn nicht, wie hätte er auf diese Beule reagiert? Mit der Faust? „Ich gebe auf.“

„Okay.“ Lucas ließ zwar nur ungern von ihm ab, dennoch wollte er es auch nicht übertreiben. Er konnte seine Kraft manchmal nämlich nicht bewusst kontrollieren und hatte die Befürchtung, dem Süßen bereits eventuell wehgetan zu haben.

„Oh, Mann“, seufzte Bastian und drückte Lucas beim Umdrehen die Schachtel in die Hand. „Rauch dir eine.“ Er ging zurück zum Balken.

„Hab ich dir weh getan?“, fragte Lucas bedenklich.

„Was? Nein, hast du nicht. Wie kommst du drauf?“

„Falls doch, dann tut es mir leid. Wollte ich nicht.“

„Hast du nicht.“

„Ganz sicher nicht?“

„Nein“, versicherte Bastian ihm. „Wenn, dann hätte ich schon was gesagt.“

„Gut. Will dir nämlich nicht wehtun.“

„Schön zu wissen.“

Plötzlich wurden die beiden Jungs von dem Hupen eines Autos erschreckt.

„Gott!“, fluchte Bastian und fasste sich erschrocken an die Brust.

„Da scheiß mir doch jemand aufs Auge.“

„Häh? Dir soll jemand aufs Auge scheißen?“

„Yo“, sagte er und warf sich den Rucksack um. „Ich muss jetzt.“

Menno, jammerte Bastian im Geiste. „Dann sehen wir uns morgen?“

„Versprochen“, sagte Lucas und zwinkerte. „Komm her.“

Niemals hätte Bastian damit gerechnet, aber der Schönling drückte ihn für einen Moment an sich. Dieses Gefühl war ihm völlig fremd. Es war schön, keine Frage, aber irgendwie auch seltsam.

„Pass auf dich auf, Kleiner“, bat Lucas und rieb ihm kurz über den Rücken, ehe er von ihm abließ und sich mit einem Lächeln zum Gehen umwandte.

„Danke, du auch“, flüsterte Bastian und sah ihm nach. Wer dort im Auto hockte, konnte er nicht erkennen.

Lucas öffnete die Beifahrertür und stieg ein.

„Na!“, grüßte Elke ihn. „Wie war dein erster Tag?“

Lucas schenkte ihr einen fröhlichen Blick und schnallte sich an.

„Doch so gut, ja?“

„Naja … Die Lehrer hier haben gehörig einen an der Waffel, aber passt schon.“

„Dann hoffe ich mal, dass das in Zukunft auch so bleiben wird.“

Verwundert schaute Lucas sie an. „Dass die Lehrer einen an der Waffel haben?“

„Nein, dass du auch in Zukunft ein sorgenfreies Gesicht machst.“

„Sorgenfrei“, wiederholte Lucas flüsternd.

„Und, wie heißt sie?“, forschte Elke neugierig nach und schielte unauffällig zu dieser Person, mit der Lucas zusammen gewesen war.

„Häh?“

„Na, du hast doch nicht dieses Grinsen im Gesicht, weil wir jetzt wo hinfahren.“

„Nein, sicherlich nicht.“

„Also? Wie heißt sie? Wie sieht sie aus?“

„Wieso denkst du, dass ich wegen eines Mädchens gut gelaunt bin?“

Das war doch ein Mädchen, dachte sie. „Oder Junge“, sagte sie leiser und hüstelte grinsend.

Darauf wollte Lucas nichts erwidern.

„Ist ja auch egal“, meinte sie und startete den Motor. „Bereit?“

Lucas machte eine wegwerfende Geste.

„Wird schon“, versprach sie. „Nur tue mir bitte einen Gefallen und versuch dich bei diesem wichtigen Termin zu beherrschen, sonst könnte es nach hinten losgehen und das wollen wir ja nicht.“

„Jaja“, murmelte Lucas sichtlich genervt. „Werde mich schon zu benehmen wissen.“

Bastian lief an der Sporthalle entlang und dachte auf dem Heimweg unentwegt an Lucas. Er ließ alles wieder und wieder Revue passieren und fragte sich, ob der attraktive Junge eventuell auch schwul war. Immerhin hatte Lucas behauptet, er würde ihn küssen. Oder war das nur ein Scherz gewesen? Abgesehen davon hatte der Attraktive ihn in seine Arme geschlossen. So etwas taten heterosexuelle Männer doch nicht, oder? Bastian war gänzlich durcheinander.

CHAOS

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