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Erster Band
X
Seelengemeinschaft
ОглавлениеDer ausdrucksvolle Blick, den Herr Sarranti dem Abbé Dominique zugeworfen, und die paar Worte, die er im Augenblicke seiner Verhaftung gesprochen, geboten dem armen Mönche eine völlige Zurückhaltung, eine äußerste Discretion.
Von seinem Vater getrennt, lief Dominique rasch in der aufsteigenden Richtung der Rue de Rivoli fort. Hier fand er wieder eine aufgeregte, stürmische Gruppe, und er begriff, daß diese Gruppe, welche auf die Tuilerien zueilte, Herrn Sarranti zum Mittelpunkte hatte. Er folgte daher, doch von fern, und wie er es kluger Weise wegen seiner so leicht erkennbaren Tracht thun mußte.
Dominique war wirklich damals vielleicht der einzige Dominicaner, der in Paris wohnte.
An der Ecke der Rue Saint-Nicaise hielt die Gruppe an, und von der Ecke der Place des Pyramides, wohin er gelangt war, sah Dominique denjenigen, welcher der Chef der Agenten zu sein schien, einen Fiacre rufen, und in diesen Fiacre, der auf seinen Ruf herbeikam, Herrn Sarranti einsteigen.
Er folgte dem Fiacre, schritt über den Carrouselplatz so rasch als es ihm seine Kleidung erlaubte, und erreichte den Einlaß des Quai des Tuileries in dem Momente, wo der Fiacre sich um den Pont-Neuf wandte.
Der Wagen fuhr offenbar nach der Polizeipräfectur.
Der Abbé Dominique, als er den Fiacre an der Ecke des Quai des Lunettes verschwinden sah, fühlte alles Blut seiner Adern nach seinem Herzen fließen und tausend traurige Gedanken ihm zu Gehirne steigen.
Er kehrte ganz vernichtet, den Leib gebrochen, die Seele voll tödtlicher Bangigkeit, nach Hause zurück.
Zwei Tage und zwei Nächte in der Diligence zugebracht, die Gemüthsbewegungen aller Art des Tages, die Ungewißheit hinsichtlich der Ursachen, welche die Verhaftung seines Vaters motivierten, das war mehr als es brauchte, um den kräftigsten Körper zu beugen, um die muthigste Seele zu zähmen.
Als er in sein Zimmer kam, war es schon Nacht. Er warf sich auf sein Bett, ohne Nahrung zu sich zu nehmen, und versuchte es, ein wenig zu ruhen. Aber es setzten sich tausend Gespenster zu Häupten seines Bettes, und nach einer Viertelstunde war er wieder auf und ging hastig in seinem Zimmer umher, als müßte er, um zu schlafen, den Rest von Kraft oder von Fieber, der in ihm brannte, brechen.
Die Unruhe trieb ihn hinaus. Da es Nacht geworden war, so bezeichnete ihn sein, in der Dunkelheit verlorenen Rock nicht mehr der allgemeinen Aufmerksamkeit. Er ging nach der Polizeipräfectur, in der sein Vater gewisser Maßen verschlungen worden war; – ein Schlund dem ähnlich, in welchen sich der Taucher von Schiller versenkt, und aus welchem man, wie der Taucher, erschrocken über die Ungeheuer aller Art, die man darin gesehen, hervorkommt.
Er wagte es indessen nicht, einzutreten. Wußte man, daß Sarranti sein Vater war, so war sein Name eine Denunciation.
War Herr Sarranti nicht unter dem Namen Dubreuil verhaftet worden? war es nicht besser, ihn unter der Wohlthat dieses falschen Namens einsperren zu lassen, der den gefährlichen, hartnäckigen Verschwörer nicht verrieth?
Dominique wußte noch nicht, aus welchem Grunde sein Vater nach Frankreich zurückkam, doch er errieth wohl, es geschehe wegen der Sache, der er sein ganzes Leben geweiht hatte: wegen der Sache des Kaisers, oder, vielmehr da der Kaiser todt war, wegen der des Herzogs von Reichstadt.
Zwei Stunden lang irrte der Sohn wie ein Schatten um das Grab seines Vaters, und er ging von der Rue Dauphine nach der Place du Harlay, vom Quai des Lunettes nach der Place du Palais-de-Justice, ohne Hoffnung, denjenigen wiederzusehen, welchen er suchte, denn es wäre ein Wunder gewesen, wäre er mit dem Wagen zusammengetroffen, der ihn vom Depot nach einem andern Gefängnisse führte; doch dieses Wunder, Gott konnte es machen, und, gut, einfach und groß, hoffte Dominique instinctartig auf Gott.
Diesmal sah er sich in seiner Hoffnung getäuscht.
Um Mitternacht ging er wieder nach Hause, legte sich zu Bette, schloß die Augen und entschlummerte endlich erschöpft vor Müdigkeit.
Doch kaum war er eingeschlafen, als die peinlichsten Träume ihn bestürmten. Der Alp schwebte, wie eine Riesenfledermaus, die ganze Nacht über seinem Kopfe, und als der Tag kann erwachte er; statt seine Kräfte wiederherzustellen, hatte der Schlaf seine Müdigkeit nur vermehrt.
Er stand auf und suchte wach die Eindrücke des Schlafes wiederzufinden; es schien ihm, als wäre mitten unter diesem stürmischen Chaos ein Engel leuchtend und rein vorübergezogen.
Ein junger Mann war zu ihm gekommen mit sanftem, ehrlichem Gesichte, hatte ihm die Hand gereicht und in einer unbekannten Sprache, die er jedoch verstanden, zu ihm gesagt: »Stütze Dich auf mich , und ich werde Dir beistehen.«
Dieses Gesicht war ihm bekannt. Nur fragte es sich, wo, um welche Zeit, unter welchen Umständen hatte er es gesehen? War diese Person reell, oder war es nur eine von den unbestimmten Erinnerungen, die man von einem früheren Leben zu bewahren scheint, welches sich dem unseren nur in dem Blitze eines Traumes offenbart? war er nicht die Inkarnation der Hoffnung, dieser Traum des wachen Menschen?
Dominique, indem er klar in der Finsternis seines Gehirnes zu sehen suchte, setzte sich ganz nachdenkend ans Fenster, auf denselben Stuhl, auf dem er am Abend vorher saß, um das Bild vom heiligen Hyacinth anzuschauen, das heute abwesend. Da kehrte das Andenken an Carmelite und Colombau in sein Herz zurück, und dieser zwei Freunde sich erinnernd, erinnerte er sich auch Salvators.
Salvator war der Engel seiner Nacht, es war der schöne junge Mann mit dem sanften, ehrlichen Gesichte, der während seines Schlafes zu seinen Häupten stehend von seinem Bette das Gespenst der Verzweiflung vertrieben hatte.
Da zog die schmerzliche Scene, unter der Salvator ihm erschienen war, wieder ganz vor seinen Augen vorüber. Er sah sich noch, wie er im Pavillon von Colombau im Bas-Meudon saß und langsam die Todtengebete sprach, während Thränen seinen zum Himmel emporgehobenen Augen entfielen.
Plötzlich waren zwei junge Leute mit entblößtem und geneigtem Haupte in’s Sterbezimmer eingetreten; diese zwei jungen Leute waren Jean Robert und Salvator.
Salvator, als er ihn erblickte, hatte eine Art von Freudengeschrei von sich gegeben, dessen Sinn er nie hätte begreifen können, hätte Salvator, sich ihm nähernd, nicht mit einer zugleich festen und bewegten Stimme zu ihm gesagt: »Mein Vater, ohne es zu vermuthen, haben Sie das Leben dem Manne gerettet, der vor Ihnen steht ; und dieser Mann, der Sie seitdem nie gesehen hat, der Ihnen seitdem nie begegnet ist, hat Ihnen eine tiefe Dankbarkeit geweiht . . . Ich weiß nicht, ob Sie meiner eines Tags bedürfen werden; doch bei dem Heiligsten, was je existiert hat, bei dem Leibe des Ehrenmannes, der so eben verschieden ist, schwöre ich Ihnen, daß das Leben, welches ich Ihnen verdanke, Ihnen gehört.« Und er, Dominique, hatte geantwortet: »Mein Herr, ich nehme dies an, obschon ich nicht weiß, wann und wie ich Ihnen den Dienst habe leisten können, von dem Sie sprechen; doch die Menschen sind Brüder und in die Welt gestellt, um einander zu helfen. Bedarf ich also Ihrer, so werde ich zu Ihnen kommen. Ihr Name und Ihre Adresse?«
Man erinnert sich, daß Salvator an den Schreibtisch von Colombau gegangen war, seinen Namen und seine Adresse auf ein Papier, das er sodann Sarranti übergab, geschrieben hatte, und daß der Mönch das Papier zusammengefaltet in sein Gebetbuch gelegt hatte.
Dominique ging rasch in seine Bibliothek, nahm das Buch vom zweiten Fache, und fand das Papier bei dem Blatte, wo er es niedergelegt hatte.
Sodann, als hätte sich die Sache an demselben Tage zugetragen, erinnerte er sich der Kleidung, der Stimme, der kleinsten Einzelheiten der Person von Salvator, und er erkannte in ihm den jungen Mann mit der sanften Stirne und dem sympathetischen Lächeln, den er in seinem Traume wiedergesehen hatte.
»Auf!« sagte er, »es ist nicht zu zögern, und das ist eine Eingebung Gottes. Dieser junge Mann erschien wohl, ich weiß nicht unter welchem Titel, mit einem der höheren Agenten der Polizei, mit demselben, mit dem ich ihn gestern in der Himmelfahrts-Kirche sprechen sah; durch diesen Agenten kann er erfahren, aus welchem Grunde mein Vater verhaftet worden ist. Kein Augenblick ist zu verlieren, laufen wir zu Herrn Salvator.«
Er vollendete in Eile seine mönchische Toilette.
In dem Momente, wo er weggehen wollte, trat die Concierge, in einer Hand eine Tasse Milch, in der andern ein Journal haltend, ein; aber Dominique hatte weder Zeit, sein Journal zu lesen, noch zu frühstücken. Er hieß die Concierge Alles auf die Console legen; sagte ihr, er werde wohl in ein paar Stunden zurückkommen, einstweilen jedoch müsse er ausgehen.
Er stieg rasch die Treppe hinab und kam nach zehn Minuten in die Rue Macon, vor das Haus, wo Salvator wohnte.
Vergebens suchte er den Klopfer oder die Klingel.
Die Thüre öffnete sich, am Tage mittelst einer Art von Kette, welche eine Klinke zog; bei Nacht nahm man die Kette herein, und die Thüre war geschlossen.
Mochte noch Niemand ausgegangen sein, war die Kette durch einen Zufall nach innen gefallen, es war nicht möglich, die Thüre zu öffnen.
Ohne Zweifel würde er lange geklopft haben, hätte nicht die Stimme von Roland Salvator und Fragola verkündigt, es komme ein unerwarteter Besuch.
»Das ist ein Freundesbesuch!« sagte Salvator.
»Woran erkennst Du dies?«
»Am munteren, einschmeichelnden Bellen des Hundes. Oeffne das Fenster-, Fragola, und sieh, wer dieser befreundete Besuch ist.«
Fragola öffnete das Fenster und erkannte den Abbé Dominique, den sie am Tage des Todes von Colombau gesehen hatte.
»Es ist der Mönch,« sagte sie.
»Welcher Mönch? . . . der Abbé Dominique?«
»Ja.«
»Ah! ich sagte wohl, es sei ein Freund!« rief Salvator.
Und er stieg rasch die Treppe hinab, Roland voran, der sich die Stufen hinabgestürzt hatte, sobald er die Thüre offen gesehen.