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Zweiter Band
I
Assisenhof der Seine
Sitzung vom 29. April
Affaire Sarranti
ОглавлениеDer Leser, als er aus dem Munde von Salvator erfuhr, dieser begebe sich in den Justizpalast, um dort den letzten Debatten der Affaire Sarranti beizuwohnen, mußte begreifen, es brauche nicht weniger, als die absolute Nothwendigkeit, in der wir uns befinden, Herrn von Marande in das Zimmer seiner Frau zu folgen, daß wir ihn nicht auf der Stelle in den großen, erschrecklichen Saal des Justizpalastes führten, wo das Verbrechen seine Strafe holt, und leider auch zuweilen durch einen unseligen Irrtum die Unschuld ihre Verurtheilung.
Drei Statuen müßten in drei Winkel dieses großen Saales gestellt werden, in Erwartung einer vierten, welche vielleicht ewig abwesend bliebe: die von Calas, von la Barre und von Lesurques!
Gegen elf Uhr Abends, in dem Augenblicke, wo Karl X. seinen Conceil hielt, in dem Momente, wo Hunderte von Equipagen das Pflaster der Rue d’Artois erschallen machten, boten die Zugänge des Justizpalastes ein Schauspiel, welches noch viel interessanter, als das des Boulevard des Italiens.
In der That, von der Place du Chatelet, – wenn man von Norden nach Süden bis zur Place du Pont-Saint-Michel ging, – waren der Pont du Change, die Rue de la Barillerie, der Pont Saint Michel und alle benachbarte Straßen: und, – wenn man von Westen nach Osten ging, von der Place Dauphine bis zum Pont de la Cité, – die Quais de l’Horloge, Desaix, de la Cité, de l’Archevêché, des Orfévres bedeckt von einer so compacten, so gedrängten, so unruhigen Menge, daß man hätte glauben sollen, die alte Insel des Palastes schwanke, schwimmend geworden, mitten in der Seine und mache eine äußerste Anstrengung, um dem Orkane, der sie gegen das Meer treibe, zu widerstehen. Was viel dazu beitrug, dieser Menge eine große Aehnlichkeit mit einem stürmischen Ocean zu geben, das war das dumpfe, tiefe, monotone Tosen, von dem sie alle Straßen der Umgegend wiederhallen machte, und das wie eine wüthende Fluth bis zu den Gewölben des alten Palastes vom heiligen Ludwig emporstieg.
An diesem Abend oder vielmehr in dieser Nacht, denn der Abend war schon weit vorgerückt, sollten sich die Debatten des Processes Sarranti schließen, der sehr mit Recht in einem so hohen Grade die öffentliche Aufmerksamkeit seit dem Tage, wo der Moniteur die Anklageacte veröffentlicht hatte, in Anspruch nahm.
Die Leser werden sich also nicht wundern, daß ein Proceß, der in den Annalen der Criminaljustiz Epoche zu machen bestimmt war, in die Umgebung des Palastes einen so großen Volkszusammenlaus und in den Saal eine viel beträchtlichere Menge zog, als der Saal fassen konnte. Um die Verwirrung, die Unruhe und, wer weiß? die Unordnungen zu vermeiden, welche ein solcher Zustrom hätte veranlassen können, hatte es der Herr Präsident für nöthig erachtet, zum Voraus Eintrittskarten an die Personen, oder wenigstens an einen Theil der Personen, die darum nachgesucht, auszutheilen. Selbst die Advocaten hatten eine gewisse Anzahl für jeden Sitzungstag erhalten.
Es war unmöglich gewesen, den zahlreichen Gesuchen der Einen und der Andern zu entsprechen: mehr als zehntausend Bitten um Billets waren an den Herrn Präsidenten seit dem Tage, an welchem man die Anklageacte veröffentlicht hatte, gerichtet worden. Die Diplomatie, die beiden Legislaturen, der Adel, der Richterstand, die Armee und der reiche Handelstand hatten sich um diese Gunst beworben: wenige von diesen Bewerbungen waren erhört worden.
In Folge hiervon waren alle Plätze dergestalt besetzt, daß man hätte glauben sollen, die Zuschauer seien an einander gelöthet und bilden nur noch einen einzigen Körper: man hörte auch von Zeit zu Zeit vor der Thüre und in den Gängen die Stimme eines Unglücklichen, den man erstickte. Der Schweif der Zuschauer verlängerte sich nicht nur bis ans Ende der Galerie und versperrte die zahlreichen Treppen, welche nach den verschiedenen Eingangsthüren mündeten, sondern diese ungeheure Reihe von Zuschauern hatte sogar, – wie eine Riesenschlange, – ihren Schweif aus der Place du Pont-Saint-Michel und ihren Kopf aus der Place du Châtelet.
Mehrere Bänke waren speciell für die Advocatenzunft vorbehalten worden, doch bald hatte sich derselben eine große Anzahl von Damen bemächtigt, welche nicht Platz aus den Bänken hatten finden können , die für sie in der inneren Umschließung, der Advocatenbank gegenüber, bereit standen.
Die Debatten waren erst seit zwei Tagen eröffnet, und obschon man bis jetzt keinen Beweis für das Verbrechen hatte, dessen Herr Sarranti angeklagt war, sagte man doch im Justizpalaste, und man wiederholte in der Menge, der Wahrspruch sollte noch an demselben Tage gegeben werden.
Man erwartete jeden Augenblick ihn bekannt machen zu hören: wir reden wenigstens von denjenigen, welche von fern der Sitzung beiwohnten: und, obschon es elf Uhr geschlagen hatte, obschon in der Menge ein, wahres oder falsches, Gerücht im Umlaufe, nach welchem der förmliche Befehl zugeschickt worden war, daß noch im Verlaufe der Sitzung das Verbrechen abgeurtheilt und der Spruch erlassen sein müsse, kam keine Nachricht nach außen, und die Ungeduldigsten fingen an die energischen Schreie auszustoßen, welche die da und dort unter der Menge zerstreuten Gendarmen nicht ganz zurückzuhalten vermochten.
Für diejenigen, welche den Debatten beiwohnten, nahm im Gegentheile das Interesse immer mehr zu, und dreizehn Stunden Audienz an einem Tage, – die Sitzung hatte um zehn Uhr Morgens begonnen, – hatten die Aufmerksamkeit der Einen nicht vermindert, die Neugierde der Andern nicht geschwächt.
Uebrigens waren, außer der Theilnahme, die der Angeklagte im Herzen von Jedem erregte, diese schon so ergreifenden Debatten noch viel interessanter durch das merkwürdige Talent, mit welchem denselben präsidiert wurde, und zugleich durch die Energie und den guten Tact des Advocaten, der Herrn Sarranti vertheidigte, gemacht worden.
Was das Talent des Präsidenten betrifft, es war unvergleichlich. Es ließ sich unmöglich, bei so ernsten und so peinlichen Functionen, ein schärferer, präciserer Geist der Analyse, ein eleganterer und leichterer Vortrag, ein erhabeneres Gefühl für den Wohlanstand und eine ängstlichere Unparteilichkeit zur Anwendung bringen. Denn, sagen wir es beiläufig, da wir eine Gelegenheit hierzu finden, wir, die wir uns etwas auf diese ängstliche Unparteilichkeit, die wir an dem Herrn Präsidenten des Assisenhofes loben, zu Gute thun, das Talent des Präsidenten, seine Gewandtheit und seine Billigkeit üben auf den Gang der Debatten und sogar auf die Haltung des Publikums einen außerordentlichen Einfluß; man kann nicht glauben, wie sehr sie ihnen Größe und Würde einflößt und den Sitzungen der Gerichtshöfe den ihnen eigenthümlichen imposanten Charakter gibt.
Die ’Feierlichkeit dieses Abends hatte gerade zugleich den imposanten Charakter, von dem wir sprechen, und einen düsteren, traurig fantastischen Charakter, den man hinreichend begreifen wird, wenn wir mit ein paar Worten die Inscenirung dieser Sitzung gemacht haben.
Jedermann oder beinahe Jedermann kennt den Sitzungssaal des Assisenhofes von Paris. Es ist ein ungeheures Rechteck, mehr lang, als breit, düster, tief und hoch wie eine Kirche.
Wir sagen düster, obschon dieser Saal das Licht durch fünf ungeheure Fenster und zwei Glasthüren empfängt, welche alle auf einer Seite des Saales, der linken vom Eintritte aus, angebracht sind; aber, mag nun die rechte Seite, durch welche kein Licht eindringt, außer wenn sich die kleine Thüre öffnet, durch die der Angeklagte aus und eingeht, – mag nun, sagen wir, diese düstere Wand, welche vergebens Füllungen von blauem Papier aufzuhellen suchen, an die Wand, die sie anschaut, ihre Dunkelheit werfen , oder mag der Tempel der Gerechtigkeit einen Reflex von dem häßlichen Kothe bewahren, mit welchem das Verbrechen sein Pflaster befleckt hat, man wird plötzlich, in den Saal des Assisenhofes eintretend, von einer schwarzen Traurigkeit, von einem Schauer des Ekels, von einem Eindrucke ähnlich dem erfaßt, welchen man empfände, setzte man in den Wald eintretend den Fuß auf ein Schlangennest.
Doch an diesem Abend, – statt der düsteren Tinte, in die er sich gewöhnlich kleidet, – glänzte der Assisenhof von Lichtern, welche vielleicht noch trauriger als seine Dunkelheit.
Man denke sich diese ganze Menge seltsam beleuchtet durch die schwankenden Scheine von hundert Lichtern, durch den Reflex von Lampen, welche, mit Dämpfern bedeckt, den Geschworenen ein sonderbares Aussehen, eine traurige Blässe verliehen, wie sie den von den spanischen Meistern gemalten Inquisitoren eigenthümlich ist.
Trat man in den Saal ein, so wurde man durch dieses leuchtende Halbdunkel oder, besser gesagt, diese düstere Halbhelle unwillkürlich an die geheimnisvollen Sitzungen des Rathes der Zehn oder der Inquisition erinnert. Alle Geheimen und Torturen des Mittelalters fielen einem ein, und man suchte im finstersten Winkel des Saales die leichenbleiche Maske des Folterers.
In dem Augenblicke, wo wir in das Innere eindringen, schickt sich der Herr Staatsanwalt an, sein Requisitorium zu sprechen.
Er steht.
Es ist ein Mann von hoher Gestalt, bleich von Gesicht, knochig und dürr wie ein altes Pergament, ein lebendiger Leichnam, der vom Leben nur noch die Stimme und den Blick hat: denn von Geberde, von Bewegung ist keine Rede, und auch diese Stimme ist schwach wie ein Hauch: auch dieser Blick ist unbestimmt, ohne entschiedenen Ausdruck. Dieser Mensch, um Alles zu sagen, scheint die Verkörperung der Criminalprocedur zu sein: es ist ein Requisitorium in Fleisch und Knochen: in Knochen besonders!
Ehe wir aber die Hauptpersonen dieses Dramas hörbar machen, sagen wir, welchen Platz sie im Sitzungssaale einnahmen.
Im Fond des Saales, am Mittelpunkte des kreisförmigen Bureau, ist der Präsident, assistiert von den Richtern, welche den Hof bilden.
Zur Rechten vom Eintretenden oder zur Linken vom Präsidenten, unter zwei von den hohen Fenstern, sind die vierzehn Geschworenen. Wir sagen vierzehn statt zwölf, der Herr Staatsanwalt hat, in Betracht der muthmaßlichen Länge der Debatten, die Beifügung von zwei Supplementargeschworenen und einem Ersatzrichter verlangt.
In der kreisförmigen Einfriedung, welche das Bureau des Hofes begrenzt, ist der ehrliche Herr Gérard als Civilpartie.
Es war wohl derselbe Mann, beinahe kahl, mit grauen, kleinen, tiefliegenden, trüben Augen, mit dichten, ergrauenden Augenbrauen, aus deren Mitte, wie starre Wildschweinborsten, lange Haare hervorstanden, welche sich in der Linie einer geierschnabelartig gebogenen Nase verbindend über den Augen einen Bogen von einer übertriebenen, ganz unverhältnißmäßigen Krümmung bildeten: es war endlich diese feige, gemeine Physiognomie, welche einen so seltsamen Eindruck aus den Abbé Dominique bei seinem Eintritte in das Schlafzimmer des Sterbenden gemacht hatte.
Das Gesicht eines Mannes, der von der Gerechtigkeit verlangt, daß sie ihn an einem Mörder räche, ist in der Regel, was auch seine gewöhnliche Häßlichkeit sein mag, rührend, im höchsten Grade interessant, während das Gesicht des Angeklagten Verachtung und Ekel erregt: hier aber war es das Gegentheil, und hätte man das Publikum, das die Versammlung bildete, gefragt, so würde es, – rechts das schöne, redliche Gesicht von Herrn Sarranti und das unschuldvolle, rechtschaffene Antlitz des Abbé Dominique sehend, – das Publikum würde einstimmig gesagt haben, die Rollen seien verkehrt, der Mörder sei das Opfer, und derjenige, welcher für das Opfer gelte, sei der Mörder. Ohne einen andern Grund, ohne einen andern Beweis, als die rasche Beschauung der zwei Männer, war es unmöglich, sich hierin zu täuschen.
Haben wir noch bemerkt, daß Herr Sarranti, escortirt von zwei Gendarmen, von Zeit zu Zeit, auf das Geländer gestützt, mit seinem Sohne und seinem Advocaten sprach, so werden wir in allen ihren Details die Scenirung dieser traurigen Feierlichkeit auseinandergesetzt haben.
Wir haben gesagt, die Debatten seien seit zwei Tagen eröffnet gewesen. Die Sitzung, der wir den Leser beiwohnen lassen, war also die dritte und wahrscheinlich die letzte Sitzung.
Sagen wir rasch, was in den zwei ersten Sitzungen vorgefallen war.
Nach den präliminaren Förmlichkeiten verlas man die Anklageacte, welche wir nicht mittheilen werden, die aber Personen, die sich für dergleichen Stücke besonders interessieren, in den Journalen jener Zeit finden können.
Aus dieser Acte ging hervor, daß Herr Gaëtano Sarranti, ehemaliger Militär, geboren in Ajaccio, auf Corsica, achtundvierzig Jahre alt, Officier der Ehrenlegion, angeklagt war, am Abend des 20. August 1820 mit Einbruch eine Summe von dreimalhunderttausend Franken aus dem Secretär von Herrn Gérard gestohlen, eine Frau im Dienste von Herrn Gérard ermordet, und die zwei Neffen von Herrn Gérard entführt oder getödtet zu haben, ohne daß man je die Spur ihrer Person oder ihrer Leichname hätte ausfinden können.
Verbrechen vorhergesehen durch die Artikel 293, 296, 302, 304, 345 und 354 des Strafcodex.
Nach Verlesung der Anklageacte befragte man, in der gewöhnlichen Form, den Angeklagten: er antwortete Nein aus alle Fragen, die man an ihn machte, ohne andere Zeichen einer Gemüthsbewegung von sich zu geben als den Schmerz, den er zu fühlen schien, als er den Tod oder das Verschwinden der zwei Kinder erfuhr.
Der Advocat von Herrn Gérard glaubte Herrn Sarranti ungeheuer dadurch in Verlegenheit zu bringen, daß er ihn fragte, warum er so plötzlich das Haus verlassen habe, wo er mit so viel Wohlwollen ausgenommen worden sei: doch Herr Sarranti antwortete einfach, da die Verschwörung, deren Hauptchef er einer gewesen, der Polizei denunziert worden sei, so habe er sich nach den Instructionen des Kaisers zu Herrn Lebastard de Prémont, französischem General im Dienste von Rundschit Sing, begeben.
Dann erzählte er, wie er, um seinem Projecte Folge zu geben, in Begleitung des Generals nach Europa zurückgekehrt sei und in Genossenschaft mit ihm den König von Rom aus dem Palaste von Schönbrunn zu entführen versucht habe, ein Versuch, der, wie er seit seiner Verhaftung erfahren, zu seinem großen Bedauern, – gestand er, – gescheitert sei.
So, während er die Bezichtigung des Diebstahls und des Mordes zurückwies, nahm er die des Majestätsverbrechens in Anspruch und verwarf nur das bürgerliche Schaffot, um mit laute r Stimme das politische zu reclamiren.
Das war aber nicht die Sache derjenigen, welche ihn verurtheilen wollten. Was man in Herrn Sarranti zu finden wünschte, das war der gemeine Dieb, der abscheuliche Mörder, der sich das blutige Vermögen von zwei unglücklichen Kindern anzueignen trachtet und nicht der politische Verschwörer, der, mit Gefahr seines Lebens, eine Dynastie an die Stelle einer andern setzen und mit gewaffneter Hand die Form einer Regierung ändern will.
Der Präsident war genöthigt, Herrn Sarranti mitten unter den von ihm gegebenen Erklärungen zurückzuhalten.
Bei diesen Erklärungen durchlief das ganze Auditorium ein sympathetischer Schauer, der auch ihn, den Beamten, unwillkürlich und wie die Andern ergriff.
Dann kam die Angabe von Herrn Gérard.
Unsere Leser erinnern sich seiner vor dem Maire von Viry gemachten ersten Angabe am Tage, nachdem das Verbrechen begangen worden. Die zweite war identisch dieselbe. Es ist also unnöthig, daß wir sie hier mittheilen, da sie der Leser schon kennt.
Das Ende der ersten Sitzung nahm die Zeugenaussage ein. Diese Aussage war, ganz wider Sarranti, ein langer Panegyrims von Herrn Gérard, gegen den, wenn man den Zeugen glauben durfte, der heilige Vincenz de Paula nur ein elender Egoist war.
Diese Zeugen waren keine andere, als der Maire von Viry. Der Leser kennt schon den guten Mann. Bethört durch die Unruhe, durch die an Verwirrung grenzende Befangenheit, in der sich Herr Gérard in dem Augenblicke befand, wo er die Katastrophe dem Maire anzeigte, hatte dieser die Betäubung des Verbrechers für den Schrecken des Opfers genommen. Man hörte auch das Zeugniß von fünf bis sechs Bauern, Pächtern und Grundeigenthümern von Viry, welche, da sie zu Herrn Gérard nur in landwirthlichen Beziehungen, bei Gelegenheit von Ankäufen und Verkäufen von Gütern, gestanden hatten, erklärten, bei allen diesen Verträgen habe sich Herr Gérard als ein Mann von einer strengen Pünktlichkeit und Redlichkeit gezeigt.
Man hörte noch zwanzig bis fünfundzwanzig Zeugen von Vanvres und vom Bas-Meudon, das heißt alle diejenigen, welche von Herrn Gérard, seitdem er unter ihnen wohnte, zahlreiche Zeichen seiner Wohlthätigkeit und seines Edelmuths empfangen hatten.
Diejenigen von unseren Lesern, die sich des Kapitels betitelt: »Ein Dorfphilantrop,« erinnern, werden begreifen, welche Wirkung auf die Jury die Erzählung der guten Handlungen des redlichen Herrn Gérard und vorzüglich die Erzählung der letzten, das heißt der, welche ihm beinahe das Leben gekostet hätte, hervorbringen mußte.
Selbst über Herrn Gérard befragt, antwortete Herr Sarranti mit seiner ganz militärischen Treuherzigkeit, er halte ihn für einen vollkommen redlichen Mann, und er müsse durch sehr ernste Anscheine getäuscht worden sein, um gegen ihn, Herrn Sarranti, eine so grausame Anklage zu erheben.
Worauf ihn der Präsident fragte:
»Was sagen Sie aber zu Ihrer Rechtfertigung, und wie erklären Sie sich den Diebstahl der hunderttausend Thaler, den Tod von Madame Gérard und das Verschwinden der Kinder?«
»Die hunderttausend Thaler gehörte mir,« erwiderte Herr Sarranti, »oder, besser gesagt, es war ein Depot, das mir der Kaiser Napoleon anvertraut hatte. Sie sind mir von der Hand von Herrn Gérard selbst wiedergegeben worden. Was die Ermordung von Madame Gérard und das Verschwinden der Kinder betrifft, so kann ich nichts hierüber bemerken, da Madame Gérard vollkommen gesund war, und die Kinder in dem Augenblicke, wo ich das Schloß verließ, nämlich Nachmittags um drei Uhr, auf der Wiese spielten.«
Alles dies war so wenig wahrscheinlich, daß der Präsident die Geschworenen anschaute, – und diese schüttelten den Kopf mit einer höchst bezeichnenden Miene.
Was Dominique betrifft, so blieb sein Anblick während des Laufes der Debatten der eines Menschen, welcher von einem bis zum Delirium gehenden Fieber befallen ist. Er stand auf, er setzte sich wieder, zog seinen Vater am Schooße seines Ueberrocks, öffnete den Mund, als ob er sprechen wollte, stieß dann plötzlich einen Seufzer aus, zog sein Sacktuch aus der Tasche, wischte seine schweißbedeckte Stirne ab, ließ seinen Kopf in seine Hände fallen und blieb Stunden lang wie vernichtet.
Etwas Aehnliches ging übrigens aus Seiten von Herrn Gérard vor: denn, – für die Anwesenden unerklärliche Befangenheit, – es war nicht Herr Sarranti, sondern vielmehr Dominique, dem Herr Gérard mit den Augen folgte.
Stand Dominique aus, so stand er, wie durch eine Feder emporgehoben, auch aus: öffnete Dominique den Mund, um zu sprechen, so floß der Schweiß von der Stirne des Anklägers, der einer Ohnmacht nahe zu sein schien.
Diese zwei Bläßen rangen mit einander, welche zuerst die Leichenfarbe erreichen würde.
Mitten unter diesen mysteriösen Scenen, deren Geheimniß nur die zwei Schauspieler besaßen, warf ein unerwarteter Zwischenfall sein heiseres, mißstimmiges Geschrei in das Concert von Lobeserhebungen, das sich um Herrn Gérard erhob.
Ein achtzigjähriger Greis, bleich, abgezehrt, mager wie der aufgeweckte Lazarus, antwortete aus den Ruf, der an ihn erging, und trat mit langsamem, aber gleichmäßigem, wie der der Statue des Gouverneurs, festem und sonorem Schritte vor.
Es war jener alte Gärtner von Viry, Vater und Großvater einer ganzen Welt von Kindern, der die Gärten des Schlosses seit dreißig bis vierzig Jahren kultivierte, als sich das Ereigniß zutrug: es war jener treue Diener, dessen Entlassung, wie man sich erinnert, Orsola verlangt hatte, um sich ihrer Herrschaft über Herrn Gérard zu versichern.
»Ich weiß nicht, wer den Mord begangen hat,« sagte er: »doch ich weiß, daß die ermordete Frau eine böse Frau war: sie hatte sich des Geistes von diesem Manne bemächtigt, der nicht ihr Gatte war, und dessen Frau sie werden wollte, (und er deutete aus Herrn, Gérard). Sie hatte ihn behext, und sie übte eine grenzenlose Gewalt über ihn. Meine Ueberzeugung ist, daß sie die Kinder haßte, und daß sie mit diesem Manne Alles machen konnte, was sie wollte.«
»Habt Ihr eine Thatsache zu erzählen?« fragte der Präsident.
»Nein,« antwortete der Greis; »nur habe ich so eben vom Charakter von Herrn Gérard reden hören, und ich halte es für die Pflicht von mir, der ich seit achtzig Jahren so viele Menschen gesehen, zu sagen, was ich von diesem denke. Die Magd wollte Herrin werden; vielleicht thaten ihr die Kinder hierbei Zwang an. Ich war ihr wohl ein Hinderniß!«
Während der Greis sprach, schien Dominique zu triumphieren, indeß im Gegentheile Herr Gérard bleich war wie ein Todter. Seine zitternden Kinnbacken machten seine Zähne an einander klappern.
Diese Erklärung brachte eine tiefe Erregung im Publikum hervor.
Der Präsident war genöthigt, zur Stille aufzufordern, und als er den Greis entließ, sagte er zu ihm:
»Geht, mein Freund; die Herren Geschworenen werden Eurer Angabe Rechnung tragen.«
Der Advocat von Herrn Gérard wand nun ein, man habe den Gärtner, dessen Dienste wegen seines hohen Alters beinahe unnütz geworden seien, entlassen wollen, und in diesem Augenblicke habe Orsola, welche dieser Mensch anzugreifen so undankbar sei, seine Begnadigung erbeten.
Der Greis, der mit einer Hand auf seinen Stab, mit der andern auf einen seiner Söhne gestützt, nach seiner Bank zurückkehrte, blieb plötzlich stehen, als ob ihn, durch das hohe Gras des Parkes gehend, eine Schlange in die Ferse gebissen hätte.
Dann kehrte er um und sprach mit fester Stimme:
»Was dieser Herr so eben gesagt hat, ist, abgesehen vom Undanke, dessen er mich beschuldigt, die reine Wahrheit. Orsola hatte Anfangs meine Entlassung verlangt, und Herr Gérard hatte ihr dieselbe bewilligt: sodann verlangte sie meine Begnadigung, und Herr Gérard bewilligte sie ihr auch. Die Magd wollte ihre Gewalt über den Herrn versuchen, vielleicht um sich dessen zu versichern, was sie bei einem wichtigeren Umstande thun könnte. Fragen Sie Herrn Gérard, ob das wahr ist.«
»Ist das, was. dieser Mensch sagt, wahr, mein Herr?« fragte der Präsident Herrn Gérard.
Gérard wollte antworten, es sei falsch: doch emporschauend begegnete er den Augen des Gärtners, welche die seinigen suchten.
Geblendet durch sie wie durch Blitze seines Gewissens, hatte er nicht den Muth zu leugnen, und er stammelte:
»Es ist wahr!«
Dieser Zwischenfall ausgenommen waren, wie gesagt, alle Zeugnisse zu Gunsten von Herrn Gérard.
Was die Zeugnisse zu Gunsten von Herrn Sarranti betrifft, – der Angeklagte hatte nicht um ein einziges angesucht: er wähnte sich bonapartistischer Verschwörung beschuldigt, und da er die ganze Verantwortlichkeit aus sich zu nehmen gedachte, so hatte er keine Entlastungszeugen nöthig zu haben geglaubt.
So hatte sich die Anklage wie aus einem Zapfen gedreht, und Herr Sarranti befand sich einem Diebstahle, einer doppelten Entführung und einem Morde gegenüber. Die Anschuldigung dünkte ihm alsdann so wahnsinnig, daß er sich auf die Instruction selbst verließ, sie werde seine Unschuld zur Kenntniß bringen.
Nur zu spät bemerkte er, in welche Falle er gerathen war, und bei diesem Factum des Diebstahls, der Entführung und des Mordes widerstrebte es ihm, ein Zeugniß anzurufen. Seiner Ansicht nach mußte sein Ableugnen genügen.
Doch allmählich drang durch diese Bresche, die er offen gelassen, der Verdacht, dann die Wahrscheinlichkeit, dann, wenn nicht in den Geist des Publikums, wenigstens in den der Geschworenen eine Beinahe-Gewißheit ein.
Herr Sarranti war wie ein Mensch, der von einem zu raschen Laufe gegen einen Abgrund fortgerissen wird: er sah den Abgrund, er ermaß ihn; doch es war zu spät! keine Stütze schien sich zu bieten, an der er sich hätte zurückhalten können. Er mußte unfehlbar hinabstürzen. Der Abgrund war tief, erschrecklich, häßlich: er sollte dabei nicht nur das Leben, sondern auch die Ehre verlieren.
Und dennoch sagte ihm Dominique unablässig leise:
»Haben Sie Muth, mein Vater! ich weiß, daß Sie unschuldig sind!«
Man war zu dem Punkte der Debatten gelangt, wo, da die Sache hinreichend durch das Anhören der Zeugen erhellt war, die gesetzliche Discussion den Advocaten zukommt.
Der Advocat der Civilpartei nahm das Wort.
Ich weiß nicht, ob die Gesetzgebung, als sie bestimmte, die Parteien sollten, statt selbst zu plaidiren, durch das Organ eines Dritten plaidiren, sah, begriff, errieth, – abgesehen von den Vortheilen, die sie bei der Anklage oder der Vertheidigung durch Procuration fand, – ich weiß nicht, ob sie sah, begriff, errieth, zu welchen Stufen der Treulosigkeit, der Unverschämtheit und der Spitzfindigkeit sie den Menschen hinabzusteigen zwinge.
Es gibt auch im Justizpalaste Advocaten der schlimmen Sachen. Diese Menschen wissen vollkommen, daß die Sache, die sie verteidigen, eine schlechte ist: schaut sie aber an, hört sie, studiert sie: würdet Ihr nach ihrer Stimme, nach ihren Geberden, nach ihrem Accente nicht sagen, sie seien überzeugt?
Was ist nun der Zweck dieser falschen Ueberzeugung, die sie heucheln? Ich setze die Frage des Geldes, der Belohnung, des Salaire ganz beiseit: was ist der Zweck dieser falschen Ueberzeugung, die sie heucheln und die Anderen wollen theilen machen?
Nicht der, einen Schuldigen zu retten und einen Unschuldigen zur Verurtheilung zu bringen?’
Sollte das Gesetz, statt diese seltsame Abirrung des Geistes zu beschützen, dieselbe nicht vielmehr bestrafen?
Man wird mir vielleicht sagen, es sei mit dem Advocaten wie mit dem Arzte. Der Arzt wird gerufen, um einen Mörder zu behandeln, der, in der Ausübung seiner Functionen, einen Messerstich oder eine Pistolenkugel bekommen hat: um ins Leben einen Verurtheilten zurückzurufen, der nach seiner Verurteilung, in Folge eines wohl erwiesenen Verbrechens, sich zu entleiben versucht hat; der Arzt kommt und findet den Verwundeten fast im Zustande einer Leiche; er braucht die Wunde nur machen zu lassen: sie wird ganz sachte und von selbst den Menschen zum Tode führen. Der Arzt glaubt eine völlig entgegengesetzte Mission empfangen zu haben; der Arzt ist der Kämpfer für das Leben, der Gegner des Todes.
Ueberall, wo er das Leben trifft, unterstützt er es, überall, wo er den Tod trifft, bekämpft er ihn.
Er kommt in dem Augenblicke an, wo das Leben des Mörders oder wenigstens des Verurtheilten verscheidet, wo der Tod die Hand ausstreckt, um sich des Verurtheilten oder des Mörders zu bemächtigen; wer auch der Sterbende sein mag, der Arzt ist sein Secundant, er wirft den Handschuh der Wissenschaft dem Tode hin und spricht: »Nun ist es an uns Beiden!«
Von diesem Augenblicke an beginnt der Kampf zwischen dem Arzte und dem Tode. Schritt für Schritt weicht der Tod vor dem Arzte zurück. Der Tod tritt am Ende aus dem Kreise hinaus, der Arzt bleibt Herr des Schlachtfeldes; der Verurtheilte, der sich entleiben wollte, der Mörder, der eine Wunde bekommen hat, sind gerettet; ja, doch gerettet, um den Händen der menschlichen Gerechtigkeit übergeben zu werden, die an ihnen ihr Zerstörungswerk übt, wie der Arzt sein Rettungswerk geübt hat.
So ist es mit dem Advocaten, wird man sagen: man gibt ihm einen Schuldigen, das heißt einen schwer verwundeten Menschen; er macht daraus einen Unschuldigen, das heißt einen Menschen, der sich wohl befindet.
Derjenige, welcher mir diese Antwort gibt, vergißt nur Eines: daß der Arzt Niemand das Leben nimmt, welches er dem Kranken wiedergibt, während der Advocat manchmal dem Unschuldigen das Leben nimmt, das er dem Schuldigen gibt.
Es war so bei dem erschrecklichen Ereignisse, wo Herr Gérard und Herr Sarranti einander gegenüberstanden.
Vielleicht glaubte der Advocat von Herrn Gérard an die Unschuld von diesem: sicherlich glaubte er aber nicht an die Schuldhaftigkeit von Herrn Sarranti.
Das hielt diesen Mann nicht ab, die Anderen glauben zu machen, was er selbst nicht glaubte.
Er drängte in einem emphatischen Eingange alle rednerische Gemeinplätze, alle die abgedroschenen Phrasen zusammen, die sich in den Journalen jener Zeit gegen die Bonapartisten herumschleppten: er zog eine Parallele zwischen Karl X. und dem Usurpator: er tischte den Geschworenen alle die Beigerichte aus, die ihren Appetit in Betreff des Hauptstückes reizen sollten. Das Hauptstück war Herr Sarranti, das heißt einer von jenen Ruchlosen, vor denen die Schöpfung einen Abscheu hat: eines von jenen Ungeheuern, welche die Gesellschaft zurückstößt, einer von jenen Verbrechern, fähig zu den schwärzesten Attentaten, deren Tod als ein Beispiel von ihren Zeitgenossen verlangt wird, welche entrüstet sind, daß sie dieselbe Lust mit ihnen athmen sollen.
Er schloß also, ohne das erschreckliche Wort auszusprechen, aus die Todesstrafe.
Doch, wir müssen es sagen, er nahm zugleich seinen Platz unter einem eisigen Stillschweigen wieder ein.
Dieses Stillschweigen des Auditoriums, eine augenscheinliche Mißbilligung der Masse, mußte im Herzen des Advocaten des redlichen Herrn Gérard ein schmerzliches Gefühl der Wuth und der Scham zurücklassen. Keine Stirne lächelte ihm zu, kein Mund beglückwünschte ihn, keine Hand streckte sich gegen seine Hand aus, und als das Plaidoyer beendigt war, bildete sich ein leerer Raum um ihn.
Er wischte seine in Schweiß gebadete Stirne ab und erwartete mit Bangigkeit das Plaidoyer seines Gegners.
Derjenige, welcher für Herrn Sarranti plaidirte, war ein der republikanischen Partei angehörender junger Advocat; er hatte kaum vor einem Jahre auf der Laufbahn des Advocatenstandes debutirt, und sein Debut war ein äußerst glänzendes gewesen.
Er war der Sohn von einem unserer berühmtesten Gelehrten und hieß Emanuel Richard.
Herr Sarranti hatte mit seinem Vater in Verbindung gestanden; der junge Mann hatte sich im Namen seines Vaters angeboten; Herr Sarranti hatte angenommen.
Der junge Mann stand auf, legte seine Toque auf die Bank, warf seine langen schwarzen Haare zurück und begann bleich vor innerer Erregung.
Ein tiefes Stillschweigen herrschte im Auditorium von dem Augenblicke, wo es bemerkte, er werde sogleich anfangen zu reden.
»Meine Herren,« sprach er, den Geschworenen ins Gesicht schauend, »erstaunen Sie nicht, daß mein erstes Wort ein Schrei der Entrüstung und des Schmerzes ist. Seit dem Augenblicke, wo ich die monstruose Anklage habe hervortreten sehen, welche hoffentlich auf eine Fehlgeburt auslaufen wird, und aus die zu antworten mir Herr Sarranti in jedem Falle verbietet, bewältige ich mich nur mit großer Mühe, und mein verwundetes Herz blutet und seufzt tief in meinem Innern.
»Ich wohne in der Thal einer erschrecklichen Sache bei.
»Ein ehrenwerther und geehrter Mann, ein alter Soldat, dessen Blut aus allen unsern großen Schlachtfeldern für denjenigen geflossen ist, der zugleich sein Landsmann, sein Herr und sein Freund war: ein Mann, dessen Herz nie ein böser Gedanke beschmutzt, dessen Hand nie eine schmähliche Handlung befleckt hat: dieser Mann, der mit hoher Stirne hierher gekommen ist, um aus eine der Anklagen zu antworten, die zuweilen ein Ruhm für diejenigen sind, welche sie treffen: dieser Mann sagt Ihnen: »»Ich habe um meinen Kopf in dem großen Spiele der Verschwörungen gespielt, das die Throne niederwirft, die Dynastien verändert, die Reiche umstürzt: ich habe verloren: nehmen Sie ihn!«« Dieser Mann hört sich zurufen: »»Schweigen Sie! Sie sind kein Verschwörer: Sie sind ein Dieb, Sie sind ein Entführer, Sie sind ein Mörder!««
»Ah! meine Herren, Sie werden zugeben, man muß sehr stark sein, um vor dieser dreifachen Anklage den Kopf hoch tragend zu bleiben. In der That, wir sind stark: denn aus diese dreifache Anklage antworten wir ganz einfach: »»Wären wir das, was Sie sagen, so hätte uns der Mann mit den Adleraugen und den Flammenblicken, der so gut in den Herzen zu lesen wußte, nicht die Hand gedrückt, er hätte uns nicht seine Freunde genannt, er hätte uns nicht gesagt: Geh!! . . . ««
»Entschuldigen Sie, Maitre Emanuel Richard,« fragte der Präsident, »von welchem Manne sprechen Sie denn so?«
»Ich spreche von Seiner Majestät Napoleon I., gesalbt 1804 in Paris zum Kaiser der Franzosen; gekrönt 1805 in Mailand zum König von Italien, und gestorben als Gefangener auf St. Helena, am 5.Mai 1821,« antwortete der junge Mann mit lauter, verständlicher Stimme.
Es läßt sich nicht sagen, welch ein seltsamer Schauer die Versammlung durchlief.
Damals nannte man Napoleon den Usurpator, den Tyrannen, den Wehrwolf von Corsica, und seit dreizehn Jahren, das heißt seit dem Tage seines Sturzes, hatte sicherlich Niemand vor seinem besten, vertrautesten Freunde ausgesprochen, was Emanuel Richard im Angesichte des Gerichtshofes, der Geschworenen und des Auditoriums ausgesprochen.
Die Gendarmen, welche zur Rechten und zur Linken von Herrn Sarranti saßen, standen auf und befragten mit den Augen und mit den Geberden den Präsidenten, was zu thun sei, und ob sie nicht noch im Laufe der Sitzung den vermessenen Advocaten in Verhaft nehmen sollten.
Gerade das Uebermaß seiner Kühnheit rettete ihn; das Tribunal blieb niedergeschmettert.
Herr Sarranti ergriff die Hand des jungen Mannes und sprach zu ihm:
»Genug! genug! im Namen Ihres Vaters, gefährden Sie sich nicht!«
»Im Namen Ihres Vaters und des meinigen, fahren Sie fort!« rief Dominique.
»Meine Herren,« fuhr Emanuel fort, »Sie haben Processe gesehen, bei welchen die Angeklagten die Zeugen Lügen straften, die augenscheinlichsten Beweise leugneten, dem Staatsanwalte ihr Leben streitig machten, Sie haben Alles dies zuweilen, oft, fast immer gesehen . . . Nun wohl, meine Herren, wir, wir behalten Ihnen ein viel interessanteres Schauspiel vor.
»Wir sagen Ihnen:
»»Ja, wir sind schuldig, und hier sind die Beweise: ja, wir haben gegen die innere Sicherheit des Staats konspiriert, und hier sind die Beweise: ja, wir wollten die Form der Regierung ändern, und hier sind die Beweise: ja, wir haben ein Complott gegen den König und seine Familie angezettelt, und hier sind die Beweise: ja, wir sind Majestätsverbrecher, und hier sind die Beweise: ja, ja, wir haben die Strafe der Vatermörder verdient, und hier ist der Beweis: ja, wir verlangen barfuß und den schwarzen Schleier auf dem Kopfe nach dem Schaffot zu gehen, wie es unser Recht ist, wie es unser Wunsch ist, wie es unser Wille ist . . . «
Ein Schreckensschrei drang aus Aller Munde hervor.
»Schweigen Sie! schweigen Sie!« rief man von allen Seiten dem jungen Fanatiker zu, »Sie stürzen ihn ins Verderben.«
»Reden Sie, reden Sie!« rief Sarranti, »so will ich vertheidigt sein.«
Beifallklatschen erscholl aus allen Punkten des Auditoriums.
»Gendarmen, räumen Sie den Saal!« rief der Präsident.
Dann wandte er sich gegen den Advocaten und sagte zu ihm:
»Maitre Emanuel Richard, ich entziehe Ihnen das Wort.«
»Wenig liegt mir zu dieser Stunde hieran,« antwortete der Advocat, »ich habe das Mandat, mit dem ich betraut worden bin, erfüllt, ich habe Alles gesagt, was ich zu sagen hatte.«
Sodann sich gegen Herrn Sarranti umdrehend:
»Sind Sie zufrieden, mein Herr, und sind es wirklich Ihre Worte, die ich wiederholt habe?«
Statt jeder Antwort warf sich Herr Sarranti in die Arme seines Vertheidigers.
Die Gendarmen hielten sich bereit, den Befehl des Präsidenten zu vollziehen: doch es durchlief sogleich ein solches Gebrüll die Menge, daß der Präsident einsah, er unternehme ein nicht nur schwieriges, sondern sogar gefährliches Werk. Ein Aufruhr konnte zum Ausbruche kommen, und während des Aufruhrs konnte Herr Sarranti entführt werden.
Einer von den Richtern neigte sich gegen den Präsidenten und sprach ihm leise ein paar Worte ins Ohr.
»Gendarmen,« sagte dieser, »nehmen Sie Ihre Plätze wieder ein. Der Gerichtshof appelliert an die Würde des Auditoriums.«
»Stille!« rief eine Stimme mitten aus der Menge.
Und die Menge, als wäre sie gewohnt, dieser Stimme zu gehorchen, schwieg.
Von da an war die Frage scharf herausgestellt’: einerseits die Verschwörung, die sich, in ihren kaiserlichen Glauben, in die Religion ihres Eides verschanzt, nicht einen Schild, sondern eine Palme aus ihrem Verbrechen machte: andererseits die öffentliche Behörde10 entschlossen, in Herrn Sarranti nicht den Verbrecher des Hochverrates, den Schuldigen der Majestätsbeleidigung, sondern den Dieb von hunderttausend Thalern, den Entführer der Kinder, den Mörder von Orsola zu verfolgen.
Sieh wegen dieser Anklagen vertheidigen hieß sie zugeben: sie Schritt für Schritt, eine um die andere, zurückweisen hieß ihre Existenz zugeben.
Aus Befehl von Herrn Sarranti hatte sich also Emanuel Richard nicht einen Augenblick der dreifachen Anklage, die der Staatsanwalt verfolgte, entgegengestellt: er ließ das Publikum Richter dieser seltsamen Lage eines Angeklagten sein, der ein Verbrechen gestand, welches man ihn nicht wollte gestehen machen, und das nicht eine Erleichterung, sondern eine Erschwerung der Strafe für das, dessen er angeklagt war, nach sich zog.
Das Urtheil war auch im Publikum gesprochen. Bei jedem anderen Umstande wäre nach dem Plaidoyer des Advocaten vom Angeklagten die Sitzung unterbrochen worden, um den Richtern und den Geschworenen einen Augenblick Ruhe zu gewähren; doch nach dem, was im Auditorium vorgegangen, war jeder Halt auf dem Abhange, den man hinabstieg, gefährlich, und die öffentliche Behörde dachte, es sei besser ein Ende zu machen, und müßte man auch unter einem Sturme endigen.
Der Herr Staatsanwalt erhob sich also; unter der tiefen Stille, die sich über das Meer zwischen zwei Sturmwinden verbreitet, nahm er das Wort.
Von den ersten Worten an begriff das ganze Publikum, daß man von den poetischen, blitzenden Höhen eines politischen Sinai wieder in die Niederungen einer Criminalchicane hinabgefallen war.
Als ob der erschreckliche Ausfall des Advocaten von Herrn Sarranti nicht stattgefunden hätte; als ob dieser halb niedergeschmetterte Titan nicht auf seinem Throne den Jupiter der Tuilerien wanken gemacht hätte; als ob der Blick nicht noch geblendet wäre von den Blitzen, die der kaiserliche Adler, durch den höchsten Aether hinziehend, über der Menge flammen gemacht hatte, drückte sich der Herr Staatsanwalt also aus:
»Meine Herren, seit einigen Monaten haben mehrere Verbrechen die öffentliche Aufmerksamkeit auf sich gezogen, während sie zugleich die thätige Sorgfalt und die Ueberwachung der Behörden rege machten. Aus der Anhäufung einer stets zunehmender Bevölkerung, vielleicht auch aus der Unterbrechung einer Arbeit oder aus der Theurung der Lebensmittel entstehend, waren diese Verbrechen sicherlich nicht zahlreicher, als die, über welche wir gewöhnlich zu seufzen haben, und die der kretische Tribut sind, den die Gesellschaft jedes Jahr dem Müßiggang und den Lastern bezahlt, welche, wie der Minotaurus des Alterthums, eine gewisse Anzahl von Opfern haben wollen.«
Offenbar hegte der Staatsanwalt eine Werthschätzung für diese Periode, denn er machte eine Pause und schaute im Kreise aus dieser Menge umher, welche in ihren Abgründen vielleicht um so mehr aufgeregt, als sie an ihrer Oberfläche stumm war.
Das Publikum blieb unempfindlich.
»Meine Herren,« fuhr der Staatsanwalt fort, »es hatte sich indessen die Frechheit mehrerer Schuldigen eine neue Laufbahn eröffnet, auf welcher sie zu treffen und zu verfolgen man weniger gewohnt war, und sie beunruhigte mehr durch die Neuheit und die Vermessenheit ihrer Attentate: doch ich sage es mit Freude, meine Herren, das Uebel, über das wir zu seufzen haben, ist nicht so groß, als man glauben will: man hat sich nur darin gefallen, zu übertreiben. Tausend lügenhafte Gerüchte sind absichtlich verbreitet worden: die Böswilligkeit schuf sie selbst: kaum von ihr geschaffen, empfing man sie mit Gierde, und jeden Tag brachte die Erzählung von den angeblichen Verbrechen der Nacht den Schrecken in die einfältigen Gemüther, die Bestürzung in die leichtgläubigen Geister . . . «
Das Auditorium schaute sich an, da es nicht wußte, worauf der Staatsanwalt abzielte . . . Nur die Stammgäste der Assisenhöfe, diejenigen, welche hier holen, was ihnen im Winter fehlt, nämlich eine warme Atmosphäre und ein Schauspiel, welches wegen der Gewohnheit für sie neu und erregend zu sein aufhört, das aber gerade der Gewohnheit wegen für dieselben nothwendig ist; diese Stammgäste allein, gewohnt an die Phraseologien der Herren Berard und Marchangy, bekümmerten sich wenig darum, welchen Weg der Staatsanwalt einschlug, da sie wußten, daß man, wie man im Volksstyle sagt: »Jeder Weg führt nach Rom,« unter gewissen Regierungen und in gewissen Epochen im Style des Justizpalastes sagen kann: »Jeder Weg führt zur Todesstrafe!«
Hatte man nicht diesen Weg Didien in Grenoble; Pleignies, Cotteron und Carbonea in Paris, Bérton in Saumur, Raoulx, Bories, Goubin und Pommier in la Rochelle geführt?«
Der Staatsanwalt fuhr mit einer majestätischen Miene und einer erhabenen Protection fort:
»Beruhigen Sie sich, meine Herren, die gerichtliche Polizei hat die hundert Augen des Argus; sie wachte, sie holte die modernen Cacus aus ihren verborgensten Zufluchtsorten, aus ihren tiefsten Höhlen; denn nichts ist für sie undurchdringlich, und die Behörden antworteten auf das lügnerische Geschrei, das im Umlaufe war, dadurch, daß sie ihre Pflicht strenger als je übten.
»Ja, – wir sind weit davon entfernt, es zu leugnen, große Verbrechen sind begangen worden, und, das unbeugsame Organ des Gesetzes, haben wir gegen diese verschiedenen Verbrechen die verschiedenen Strafen gefordert, die sie verdient hatten; denn Niemand, meine Herren, seien sie hiervon überzeugt, entgeht dem rächenden Schwerte des Gesetzes. Es beruhige sich also fortan die Gesellschaft: die verwegensten Ruhestörer sind schon in den Händen der Justiz, und diejenigen, welche sie noch nicht festhält, werden bald vor ihr die Strafe ihrer Attentate finden.
»So versuchen es diejenigen, welche, in der Gegend des Saint-Martin-Canals verborgen, seine öden User zum Schauplatze ihrer nächtlichen Angriffe gemacht hatten, zu dieser Stunde in die Kerker geworfen, vergebens die Beweise zu entkräften, die die Untersuchung gegen sie gesammelt hat.
»Der Sieux Ferrantes, ein Spanier: der Sieux Aristolos, ein Grieche: der Sieux Walter, ein Baier: der Sieux Coquerillat, ein Auvergnat, sind vorgestern in der Dunkelheit der Nacht verhaftet worden. Es offenbarte indessen keine Spur ihre Gegenwart: doch kein Obdach konnte sie vor den wachsamen Augen der Justiz schützen, und die Macht der Wahrheit hat diesen erschrockenen Gewissen schon Geständnisse entrissen . . . «
Die Zuhörer schauten sich fortwährend an und fragten sich leise, was der Sieux Ferrantes, der Sieux Aristolos, der Sieux Walter und der Sieux Coquerillat mit Herrn Sarranti gemein haben.
Die Stammgäste aber schüttelten fortwährend den Kopf mit einer Miene des Vertrauens, welche bedeutete: »Ihr werdet sehen! Ihr werdet sehen!«
Der Staatsanwalt fuhr fort:
»Drei von noch strafbareren Händen ausgegangene Verbrechen haben den Abscheu und die öffentliche Entrüstung erregt. Ein Leichnam wurde bei der Briche gefunden: es war der eines unglücklichen Soldaten, der seinen Abschied erhalten hatte. Zur selben Zeit fiel ein armer Arbeiter unter mörderischen Streichen auf den Feldern von la Villette. Ein Fuhrmann von Poissy endlich wurde ein paar Tage nachher auf der Landstraße von Paris nach Saint-Germain getödtet.
»In kurzer Zeit, meine Herren, hat der Arm der Gerechtigkeit die Urheber dieser letzten Attentate an den äußersten Grenzen Frankreichs erreicht.
»Doch man hat sich nicht auf diese Geschichten beschränkt; man hat hundert andere Verbrechen erzählt; man hat von einem Unglücklichen gesprochen, der in der Rue Charles X. den Streichen der Mörder erlag; ein Kutscher wurde, der Sage nach, in seinem Blute gebadet hinter dem Luxembourg gefunden; ein schändliches Attentat war an einer unglücklichen Frau in der Rue du Cadran verübt worden; ein königlicher Postwagen soll vor zwei Tagen mit bewaffneter Hand von dem nur zu berühmten Gibassier geplündert worden sein, dessen Name, mehr als einmal in diesem Saale ausgesprochen, sicherlich bis zu Ihnen gelangt ist.
»Nun wohl, meine Herren, während man die Bürger so zu beunruhigen sich bestrebte, constatirte die gerichtliche Polizei, daß der in der Rue Charles X. aufgefundene Unglückliche an einer Blutergießung in der Lunge gestorben war; daß der Kutscher, sich gegen seine Pferde erhitzend, an einem Schlagflusse gestorben war; und daß die unglückliche Frau, für die man ein so rührendes Interesse in Anspruch nahm, einfach das Opfer von einher jener stürmischen Scenen war, welche die Schwelgerei hervorruft: und was den nur zu berühmten Gibassier betrifft, meine Herren, so will ich, indem ich Ihnen einen unzweideutigen Beweis gebe, daß er das Verbrechen, dessen man ihn beschuldigt, nicht begangen hatte, Ihnen das Maß des Vertrauens geben, das Sie zu solchen verleumderischen Erfindungen haben können.
»Als ich sagen hörte, Gibassier habe den Postwagen zwischen Angoulême und Poitiers angehalten, ließ ich Herrn Jackal kommen.
»Herr Jackal versicherte mir, Gibassier sei in Toulon, wo er seine Strafzeit unter der Nummer 171 ausstehe, und wo seine Reue ein solches Beispiel gebe, daß man in diesem Augenblicke im Begriffe sei, bei Seiner Majestät König Karl X. um Erlassung der sieben bis acht Jahre Bagno, die er noch durchzumachen habe, nachzusuchen.
»Nach diesem unglaublichen Beispiele, das mich der Mühe, andere zu wählen, überhebt, beurtheilen Sie das Uebrige, meine Herren, und sehen Sie, mit welchen plumpen Lügen man die Neugierde, besser gesagt, die öffentliche Böswilligkeit unterhält.
»Seufzen wir, meine Herren, daß wir diese Gerüchte im Umlaufe sehen, und daß die Uebel, über die man sich beklagt, gewisser Maßen aus diejenigen zurückfallen, welche sie verbreitet haben!
»Der öffentliche Friede ist gestört worden, sagt man: man schließt sich in seinem Hause ein und zittert: die Fremden sind aus einer von Verbrechen heimgesuchten Stadt geflohen: der Handel ist ruiniert, zu Grunde gerichtet, vernichtet!
»Meine Herren, was würden Sie sagen, wenn der böswillige Geist der Menschen, die ihre bonapartetische oder republikanische Gesinnung unter dem Titel von Liberalen verbergen, allein diese Mißgeschicke durch Verleumdungen hervorgerufen hätte?
»Sie wären entrüstet, nicht wahr?
»Doch ein anderes Uebel ist durch die unseligen Manoeuvres eben dieser Menschen erzeugt worden, welche die Gesellschaft bedrohen, während sich sich das Ansehen geben, als nähmen sie dieselbe unter ihren Schutz, jeden Tag unbestrafte Frevelthaten verkündigen und wiederholen, unachtsame Behörden lassen das Verbrechen ruhig die Straflosigkeit genießen.
»So konnte sich ein Sarranti, über dessen Loos Sie zu dieser Stunde zu entscheiden haben, seit sieben Jahren schmeicheln, er werde für immer vor den Verfolgungen der Gerichte geschützt sein.
»Meine Herren, die Gerechtigkeit hinkt, sie kommt mit langsamen Schritten, sagt Horaz. Das mag sein! doch sie kommt unfehlbar.
»So begeht ein Mensch! – ich meine den Verbrecher, den Sie vor den Augen haben, – ein Mensch begeht ein dreifaches Verbrechen, Diebstahl, Entführung, Mord. Nachdem das Attentat begangen ist, verläßt er die Stadt, in der er wohnt, er verläßt das Land, wo er geboren worden, er durchschifft die Meere, er flieht ans Ende der Welt, und verlangt von einem andern Continent, von einem jener im Herzen Indiens verlorenen Reiche, ihn wie einen königlichen Gast aufzunehmen; doch jener andere Continent stößt ihn zurück, jenes Reich stößt ihn zurück, und Indien sagt zu ihm: »»Was willst Du unter meinen unschuldigen Kindern, Du Schuldiger? Entferne Dich von hier! fort! Zurück, Dämon! Retro, Satanas! . . . ««
Bis dahin zurückgehalten, kam plötzlich, zum großen Aergernisse der Herren Geschworenen, einiges Gelächter zum Ausbruch.
Der Staatsanwalt aber, mochte er die Heiterkeit der Menge nicht begreifen, mochte er im Gegentheile, sie begreifend, diese Heiterkeit zurückdrängen oder ihr eine Wendung zu seinen Gunsten geben wollen, – der Staatsanwalt rief:
»Meine Herren, der Schauer des Auditoriums ist bezeichnend; es ist ein verächtlicher Tadel von der Menge dem Verbrecher zugeworfen, und die strengste Verurtheilung wird für ihn nicht grausamer sein, als dieses Lächeln der Verachtung . . . «
Ein Gemurre empfing diese Verdrehung der Meinung des Auditoriums.
»Meine Herren,« sprach der Präsident, sich an das Auditorium wendend, »erinnern Sie sich, daß das Stillschweigen die erste Pflicht des Publikums ist.«
Das Publikum, das die größte Ehrfurcht für die unparteiische Stimme des Präsidenten hatte, trug seiner Ermahnung sogleich Rechnung, und die Stille war alsbald wiederhergestellt.
Ein Lächeln auf den Lippen, die Stirne hoch und ruhig, hielt Herr Sarranti seine Hand in der des schönen Mönches; und dieser, der sich frommer Weise schon unter dem Spruche beugte, den sein Vater nicht vermeiden konnte, erinnerte an jene heiligen Sebastian, deren Typus die spanischen Maler uns vermacht haben, und die, den Leib von Pfeilen durchbohrt, die erhabenste Milde, die engelischste Resignation athmen.
Wir werden dem Staatsanwalte nicht weiter in seinem Plaidoyer folgen; wir sagen nur, daß er, sobald einmal der Gegenstand in Angriff genommen war, so lange als er konnte die aus den Anschuldigungen der Zeugen von Herrn Gérard hervorgehenden Ansichten gleichsam ausmalte, und dabei alle abgedroschene Mittel, alle classische Blumen der Rhetorik des Justizpalastes erschöpfte. Er schloß endlich sein Plaidoyer, indem er auf die Anwendung der Artikel 293, 296, 302 und 304 des Strafcodex antrug.
Ein Gemurmel des Schmerzes und ein Schauer des Schreckens durchliefen die ganze Menge; die Erregung hatte den höchsten Grad erreicht.
Der Präsident fragte Herrn Sarranti:
»Angeklagter, haben Sie etwas zu sagen?«
»Nicht einmal, daß ich unschuldig bin, dergestalt verachte ich die gegen mich erhobene Anklage,« antwortete Herr Sarranti.
»Und Sie, Maitre Emanuel Richard, haben Sie etwas zu Gunsten Ihres Clienten vorzubringen?«
»Nein, mein Herr,« antwortete der Advocat.
»Dann sind die Debatten geschlossen,« sagte der Präsident.
Es fand im ganzen Auditorium eine ungeheure Bewegung der Theilnahme, gefolgt von einer tiefen Stille, statt.
Das Resumé des Präsidenten trennte allein den Angeklagten vom Spruche. Es war vier Uhr Morgens. Man begriff, das Resumé werde kurz sein, und an der Art, wie der ehrenwerthe Herr Präsident die Debatten geleitet hatte, erkannte man, er werde unparteiisch sein.
Sobald er den Mund aufthat, hatten die Huissiers auch nicht nöthig, Stillschweigen aufzuerlegen: die Menge schwieg von selbst.
»Meine Herren Geschworenen,« sprach der Präsident mit einer Stimme, aus der er die Aufregung zu verbannen nicht im Stande gewesen war, »ich habe so eben die Debatten geschlossen, deren Länge zugleich peinlich für Ihr Herz, ermüdend für Ihren Geist ist.
»Ermüdend für Ihren Geist: denn sie dauern seit sechzig Stunden.
»Peinlich für Ihr Herz: denn wer wäre nicht bewegt, wenn er als klagende Partei einen Greis sieht, ein Muster der Tugend und der Menschenliebe, die Ehre seiner Mitbürger, und ihm gegenüber, von ihm eines dreifachen Verbrechens angeklagt, einen Mann, den seine Erziehung dazu berief, eine ehrenhafte und sogar glänzende Laufbahn zu verfolgen, und der durch seine Stimme und durch die seines Sohnes, eines würdigen Mönches, gegen die dreifache Anklage, deren Gegenstand er ist, protestiert.
»Mein Herren Geschworenen, Sie sind noch wie ich unter dem Eindrucke der Plaidoyers, die Sie gehört haben. Wir müssen uns also Gewalt anthun, in die Tiefe von uns selbst hinabsteigen, uns mit Ruhe in diesem feierlichen Augenblicke sammeln, und mit kaltem Blute das Ganze dieser langen Debatten wiederaufnehmen.«
Dieser Eingang brachte eine tiefe Bewegung im Gemüthe der Zuhörer hervor, und die Menge folgte, stumm und keuchend, mit einer glühenden Aufmerksamkeit der Analyse des Präsidenten.
Nachdem er mit gewissenhafter Treue alle Mittel der Anklage hatte die Revue passieren lassen, nachdem er hervorgehoben, was der Mangel der Vertheidigung Nachtheiliges für den Angeklagten hatte, schloß der ehrenwerthe Gerichtsbeamte seine Rede mit folgenden Worten:
»Meine Herren Geschworenen, ich habe vor Ihnen so gewissenhaft und so rasch, als es mir möglich war, das Ganze der Sache auseinandergesetzt. Es kommt nun Ihnen, es kommt Ihrem hohen Scharfsinne, Ihrer erhabenen Weisheit zu, das Gerechte vom Ungerechten zu unterscheiden und zu beschließen.
»Während Sie diese Prüfung vollführen, werden Sie jeden Augenblick erschüttert sein durch die tiefen, heftigen Gemüthsbewegungen, welche das Herz des redlichen Mannes in dem Augenblicke ergreifen, wo er ein Urtheil über seines Gleichen fällen und eine entsetzliche Wahrheit verkündigen soll; doch es wird Ihnen weder an der Erleuchtung, noch am Muthe fehlen, und was auch Ihr Urtheil sein mag, es wird der souverainen Gerechtigkeit entfließen, besonders wenn Sie zum Führer den einzigen unfehlbaren Führer nehmen: das Gewissen!
»Im Vertrauen auf dieses Gewissen, an dem sich alle Leidenschaften gebrochen haben, – denn es ist taub für Worte, taub für die Freundschaft, taub für den Haß, – bekleidet Sie das Gesetz mit Ihren furchtbaren Functionen, überträgt Ihnen die Gesellschaft ihre Vollmachten, und beauftragt Sie mit ihren gewichtigsten und theuersten Interessen. Die Familien mögen, Ihnen wie Gott selbst vertrauend, sich unter Ihren Schutz stellen, und die Angeklagten, welche das Gefühl ihrer Unschuld haben, mögen in Ihre Hände ihr Leben mit voller Sicherheit legen und Sie, ohne zu zittern, als Richter annehmen.«
Dieses scharfe, präcise, kurze Resumé, das vom ersten bis zum letzten Worte das Gepräge der gewissenhaftesten Unparteilichkeit an sich trug, wurde beständig mit der religiösesten Stille angehört.
Kaum hatte der Präsident zu sprechen aufgehört, als sich das ganze Auditorium aus innerem Antriebe wie ein einziger Mensch erhob und die lebhaftesten Zeichen von Billigung von sich gab, in die sich der laute Beifall der Advocaten mischte.
Herr Gérard hatte den Präsidenten, die Blässe der Angst auf der Stirne, angehört: er fühlte, daß in der Seele des gerechten Mannes, der gesprochen hatte, nicht die Anklage, sondern der Zweifel war.
Es war beinahe vier Uhr, als sich die Jury in den Berathungssaal zurückzog.
Man führte den Angeklagten weg, und, – unerhörtes Factum in den gerichtlichen Annalen! – nicht eine von den seit dem Morgen anwesenden Personen dachte daran, ihren Platz zu verlassen, welche Zeit auch die Beratschlagung sich verlängern sollte.
Es war also von diesem Augenblicke an im Saale ein ungeheures, äußerst belebtes Gespräch, das sich über die verschiedenen Umstände der Debatten entwickelte, während sich zugleich eine entsetzliche Bangigkeit aller Herzen bemächtigte.
Herr Gérard hatte gefragt, ob er sich entfernen könne. Seine Kraft reichte aus, um die Todesstrafe beantragen zu hören: sie ging aber nicht so weit, daß er diese Strafe aussprechen zu hören vermochte.
Er stand auf, um wegzugehen.
Die Menge war, wie gesagt, sehr gedrängt, und dennoch bildete sich sogleich eine Passage auf seinem Wege: Jeder trat auf die Seite, als wollte er einem unreinen oder garstigen Thiere Platz machen: der Zerlumpteste, der Aermste, der Schmutzigste der Zuhörer hätte sich durch die Berührung dieses Menschen befleckt geglaubt.
Gegen halb fünf Uhr hörte man den Ton einer Klingel.
Vom Inneren des Saales ausgegangen, theilte sich ein Schauer beim Klange dieses Glöckchens nach außen mit. Sogleich, wie eine steigende Fluth, schlug die Woge den Saal, und Jeder beeilte sich, sich niederzusetzen. Doch das war eine vergebliche Aufregung: der Ches der Jury ließ ein Actenstück vom Processe verlangen.
Indessen drangen die ersten Strahlen eines bleichen, grauen Tages durch die Fenster ein und singen an das Licht der Kerzen und der Lampen zu vermischen. Das war die Stunde, wo die stärksten Organisationen die Müdigkeit fühlen: es war die Stunde, wo die heitersten Geister die Traurigkeit begreifen: es war die Stunde, wo man friert.
Gegen sechs Uhr wurde das Glöckchen aufs Neue hörbar.
Diesmal konnte keine Täuschung mehr stattfinden: es war wohl die Freisprechung oder das Todesurtheil, was nach einer zweistündigen Berathung verkündigt werden sollte.
Eine elektrische Bewegung theilte sich der ganzen Versammlung mit, deren Schauer man, so zu sagen, aus der Oberfläche sah. Die Stille trat wie durch einen Zauber bei diesem eine Secunde vorher so geräuschvollen und so bewegten Auditorium wieder ein.
Die Verbindungsthüre zwischen dem Audienzsaale und dem Berathungssaale öffnete sich, die Mitglieder der Jury erschienen, und Jeder strengte sich an, zum Voraus aus ihrem Gesichte den Spruch, der verkündigt werden sollte, zu lesen: die Züge von einigen derselben deuteten die lebhafteste Gemüthsbewegung an.
Der Gerichtshof kam einige Augenblicke nachher.
Der Ches der Jury trat vor, und, die Hand aus der Brust, aber mit schwacher Stimme, begann er die Lesung des Wahrspruches.
Fünf Fragen waren der Entscheidung der Jury unterworfen worden.
Sie waren also abgefaßt:
»1. Ist Herr Sarranti schuldig, mit Vorbedacht einen Mord an Orsola begangen zu haben?
»2. Ist dieses Verbrechen anderen hiernach specificirten Verbrechen vorangegangen?
»3. War der Zweck desselben, die Vollbringung dieser Verbrechen zu erleichtern oder vorzubereiten?
»4. Hat Herr Sarranti am Tage des 19. August oder in der Nacht vom 19. aus den 20. einen Diebstahl mit Einbruch in der Wohnung von Herrn Gérard begangen?
»5. Hat er die zwei Neffen des genannten Herrn Gérard verschwinden gemacht?«
Es trat eine Pause von einem Augenblicke ein.
Keine Feder vermöchte die Bangigkeit dieses Augenblicks wiederzugeben, der, obgleich schnell wie der Gedanke, dem Abbé Dominique, welcher mit dem Advocaten bei der leeren Bank des Angeklagten geblieben war, ein Jahrhundert scheinen mußte.
Der Chef der Jury sprach folgende Worte:
»Bei meiner Ehre und bei meinem Gewissen, vor Gott und vor den Menschen ist die Erklärung der Jury:
»»Ja, mit Stimmenmehrheit bei allen Fragen, der Angeklagte ist schuldig!««
Aller Augen waren auf Dominique geheftet: er stand wie die Anderen.
Durch die graue Atmosphäre des Morgens sah man seine Blässe sich in Leichenfarbe verwandeln; er schloß die Augen und hielt sich am Geländer fest, um nicht zu fallen.
Das ganze Auditorium erstickte einen Seufzer des Schmerzes.
Es wurde der Befehl gegeben, den Angeklagten hereinzuführen.
Aller Augen wandten sich nach der kleinen Thüre.
Herr Sarranti erschien wieder. Dominique reichte ihm die Hand und sprach nur die Worte:
»Mein Vater!«
Doch er hörte den Todesspruch an, wie er die Anklageacte gehört hatte, – ohne ein Zeichen von Aufregung von sich zu geben.
Weniger unempfindlich, stieß Dominique eine Art von Seufzer aus, schaute mit glühendem Auge den Platz an, den Herr Gérard inne gehabt hatte, und zog mit einer krampfhaften Bewegung eine Papierrolle aus seiner Tasche: dann schob er mit einer äußersten Anstrengung diese Rolle wieder in seinen Rock zurück.
Während des kurzen Augenblicks, der so viele verschiedenartige Empfindungen in sich schloß, beantragte der Herr Staatsanwalt mit einer mehr erschütterten Stimme, als man von einem Manne hätte erwarten sollen, der diesen strengen Spruch hervorgerufen hatte, gegen Herrn Sarranti die Anwendung der Artikel 293, 296, 302 und 304 des Strafcodex.
Der Hof begann die Berathung.
Das Gerücht verbreitete sich nun im Saale, wenn Herr Sarranti ein paar Secunden im Saale wiederzuerscheinen gesäumt habe, so sei dies der Fall gewesen, weil er, während man seinen Todesspruch ausgearbeitet, tief eingeschlafen sei. Zugleich sagte man, der Wahrspruch der Schuldhaftigkeit habe nur die streng nothwendige Majorität für sich gehabt.
Nach einer Berathung von fünf Minuten setzte sich der Hof wieder, und der Präsident verkündigte mit tiefer Bewegung und einer erstickten Stimme den Spruch, der Herrn Sarranti zur Todesstrafe verurtheilte.
Dann sagte er, sich an Herrn Sarranti wendend, der ruhig und unempfindlich gehört hatte:
»Angeklagter Sarranti, Sie haben drei Tage, um ein Cassationsgesuch einzureichen.«
Sarranti verbeugte sich.
»Ich danke, Herr Präsident,« erwiderte er; »doch es ist nicht meine Absicht, dies zu thun.«
Dominique schien bei diesen Worten mit Gewalt aus seiner Betäubung gerissen zu werden.
»Doch, doch, meine Herren,« rief er, »mein Vater wird um Cassation nachsuchen, denn er ist unschuldig.«
»Mein Herr,« sagte der Präsident, »das Gesetz verbietet, solche Worte auszusprechen, wenn das Urtheil verkündigt ist.«
»Dem Advocaten des Angeklagten, Herr Präsident, doch nicht seinem Sohne,« rief Emanuel. »Wehe dem Sohne, der nicht immer an die Unschuld seines Vaters glaubt!«
Der Präsident schien einer Ohnmacht nahe.
»Mein Herr,« sagte er zu Sarranti, dem er diesen Titel gegen alle Gewohnheit gab, »haben Sie eine Bitte an den Hof zu richten?«
»Ich bitte, frei meinen Sohn sehen zu dürfen, der sich hoffentlich nicht weigern wird, mir als Priester aus dem Schaffot beizustehen.«
»Oh! mein Vater, mein Vater,« rief Dominique, »Sie werden es nie besteigen, das schwöre ich Ihnen!«
Mit leiser Stimme fügte er dann bei:
»Und wenn es Jemand besteigt, so werde ich es sein.«
10
Der Staatsanwalt.