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Zweiter Band
V
Der Vater und der Sohn

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Alle die Blüthen der Hoffnung, welche langsam im Schooße des Menschen keimen und’ ihre Früchte nur zu gewissen Stunden geben, erschlossen sich im Herzen des Abbé Dominique, so wie er den Fuß auf eine Stufe setzte, die ihn von der königlichen Majestät entfernte und seinen Mitbürgern näherte.

Indem er sich der Schwächen des unglücklichen Monarchen erinnerte, dünkte es ihm unmöglich, daß dieser, unter den Jahren gebeugte, Mann, mit dem guten Herzen, aber dem trägen Geiste, ein ernstes Hinderniß beim Werke der großen Göttin sein sollte, welche vorwärts schreitet, seitdem der menschliche Genius seine Fackel angezündet hat, der Göttin, die man die Freiheit nennt.

Dann kehrte, – seltsamer Weise, und was bewies, daß ohne Zweifel sein Plan für die Zukunft sehr entschieden festgesetzt war, – dann kehrte seine ganze Vergangenheit plötzlich in sein Gedächtniß zurück. Er erinnerte sich der geringsten Einzelheiten seines Priesterlebens, seiner unsäglichen Unschlüssigkeiten in dem Augenblicke, wo er sein Gelübde ablegen sollte, seiner inneren Kämpfe in dem Augenblicke, wo er die Weihe empfangen sollte; Alles war aber besiegt worden durch jene Hoffnung, welche, der Feuersäule von Moses ähnlich, ihm seinen Weg durch die Gesellschaft bezeichnete und ihm sagte, die Laufbahn, auf der er seinem Vaterlande am Nützlichsten sein könne, sei die geistliche Laufbahn.

Wie der Stern der Weisen strahlte sein Gewissen und zeigte ihm die wahre Straße. Einen einzigen Augenblick hatte der Sturm seinen Himmel verdunkelt, und er hatte aufgehört, seinen Weg zu erkennen; doch er sing wieder an darauf zu sehen und er setzte sich wieder in Marsch, wenn nicht mit einem vollen Vertrauen, doch wenigstens mit dem festesten Entschlusse.

Er stieg die letzte Stufe des Palastes mit einem Lächeln auf den Lippen hinab.

Welchem geheimen Gedanken entsprach, in einer solchen Lage, sein Lächeln?

Doch kaum hatte er den Fuß in den Hof der Tuilerien gesetzt, als er das sympathetische Gesicht von Salvator erblickte, der, unruhig über das Resultat des Schrittes des Abbé Dominique, seinen Abgang in einer fieberhaften Angst erwartete.

Salvator begriff, als er nur das Gesicht des armen Mönches sah, den Erfolg des Besuches.

»Gut!« sagte er, »der König hat Ihnen den Aufschub bewilligt, um den Sie ihn gebeten.«

»Ja,« erwiderte der Abbé: »es ist im Grunde ein vortrefflicher Mensch.«

»Nun wohl,« sprach Salvator, »das söhnt mich wieder ein wenig mit ihm aus: das bringt Seine Majestät König Karl X. wieder ein wenig in Gnade bei mir. Ich vergebe ihm seine Schwächen in Erinnerung an seine angeborenen Tugenden. Man muß nachsichtig gegen diejenigen sein, welche nie die Wahrheit hören.«

Dann plötzlich den Ton verändernd, sagte er zum Abbé:

»Nicht wahr, wir kehren in die Conciergerie zurück?«

»Ja,« antwortete einfach Dominique, indem er seinem Freunde die Hand drückte.

Sie nahmen einen Wagen, der leer über den Quai fuhr, und kamen rasch an den Ort ihrer Bestimmung.

Vor der Thüre des düsteren Gefängnißes reichte Salvator Dominique die Hand und fragte ihn, was er, aus demselben weggehend, zu thun gedenke.

»Ich werde auf der Stelle Paris verlassen.«

»Kann ich Ihnen in dem Lande, in das Sie sich begeben, nützlich sein?«

»Können Sie die Förmlichkeiten abkürzen, welche die Ausfertigungen eines Passes begleiten?«

»Ich kann Ihnen einen solchen ohne Förmlichkeit verschaffen.«

»Dann erwarten Sie mich in Ihrer Wohnung: ich werde Sie dort abholen.«

»Ich werde Sie in einer Stunde hier erwarten: Sie werden mich an der Ecke des Quai finden. Sie können im Innern des Gefängnißes nun bis um vier Uhr bleiben, und es ist drei Uhr.«

»In einer Stunde also,« sagte der Abbé Dominique, dem jungen Manne aufs Neue die Hand drückend.

Und er verschwand unter dem düsteren Eingange.

Der Gefangene war in die Zelle gebracht worden, welche Louvel in sich geschlossen hatte und Fieschi in sich schließen sollte. Dominique wurde ohne Schwierigkeit bei ihm eingeführt.

Herr Sarranti, der aus einem Schemel saß, stand aus und ging seinem Sohne entgegen: dieser verbeugte sich vor ihm mit der Ehrfurcht, mit der man die Märtyrer empfängt.

»Ich erwartete Dich, mein Sohn,« sprach Herr Sarranti.

Und es lag in seiner Stimme etwas wie ein Ausdruck von Vorwurf.

»Mein Vater,« erwiderte der Abbé, »es ist nicht meine Schuld, daß ich nicht früher gekommen bin.«

»Ich glaube es,« sagte der Gefangene, seinem Sohne beide Hände drückend.

»Ich komme von den Tuilerien,« fuhr Dominique fort.

»Du kommst von den Tuilerien?«

»Ja, ich bin beim König gewesen.«

»Du bist beim König gewesen?« fragte Herr Sarranti erstaunt, indem er seinen Sohn starr anschaute.

»Ja, mein Vater.«

»Und warum bist Du beim König gewesen? Gewiß nicht, um ihn um meine Begnadigung zu bitten.«

»Nein, mein Vater,« erwiderte rasch der Abbé.

»Was hattest Du denn von ihm zu verlangen?«

»Einen Aufschub.«

»Einen Aufschub! und warum einen Aufschub?«

»Das Gesetz bewilligt Ihnen drei Tage, um ein Cassationsgesuch einzureichen; drängt nichts den Spruch des Hofes, so ist dies eine Sache von vierzig bis zweiundvierzig Tagen.«

»Nun?«

»Ich habe den König um zwei Monate gebeten.«

»Den König?«

»Den König.«

»Und warum zwei Monate?«

»Weil ich zwei Monate nöthig habe, um mir die Beweise Ihrer Unschuld zu verschaffen.«

»Ich werde kein Cassationsgesuch einreichen,« antwortete Herr Sarranti entschlossen.

»Mein Vater!«

»Ich werde es nicht thun, . . . das ist ein fester Entschluß, und ich habe Emanuel verboten, es in meinem Namen zu thun.«

»Mein Vater, was sagen Sie mir?«

»Ich sage, daß ich jede Art von Aufschub ausschlage; ich bin verurtheilt worden, ich will hingerichtet werden; ich habe meine Richter verworfen, nicht den Henker.«

»Mein Vater, hören Sie mich an.«

»Ich will hingerichtet sein . . . es drängt mich, mit den Qualen des Lebens und der Ungerechtigkeit der Menschen ein Ende zu machen.«

»Mein Vater!« murmelte traurig der Abbé.

»Ich weiß, Dominique, was Du mir Alles in dieser Hinsicht sagen kannst, ich kenne die Vorwürfe, die Du mir zu machen berechtigt bist.«

»Oh! mein verehrter Vater!« sagte erröthend der Abbé Dominique, »wenn ich Sie auf den Knieen anflehen würde . . . «

»Dominique!«

»Wenn ich Ihnen sagte, diese Unschuld, die ich Ihnen verspreche, werde ich in den Augen der Menschen so rein hervorstellen, als das Tageslicht Gottes, das durch das Gitter dieses Gefängnisses bis zu uns gelangt . . . «

»Nun wohl, mein Sohn, diese Unschuld wird nach meinem Tode nur um so glänzender und leuchtender hervortreten; ich werde um keinen Aufschub bitten, ich werde keine Gnade annehmen!«

»Mein Vater! mein Vater!« rief Dominique in Verzweiflung, »beharren Sie nicht bei diesem Entschlusse, der Ihr Tod ist, der die Verzweiflung meines Lebens und vielleicht das unnütze Verderben meiner Seele sein wird.«

»Genug!« sprach Sarranti.

»Nein, nicht genug, mein Vater!« entgegnete Dominique, indem er wirklich auf seine Kniee sank, in seinen Händen die Hände seines Vaters preßte und sie mit Thränen und Küssen bedeckte. Sarranti versuchte es, den Kopf abzuwenden, und zog feine Hände zurück.

»Mein Vater!« fuhr Dominique fort, »Sie weigern sich, weil Sie nicht an meine Worte glauben; Sie weigern sich, weil Ihnen der schlimme Gedanke kommt, ich gebrauche eine Ausflucht, um Sie dem Tode streitig zu machen und zwei Monate Ihrem so edlen und so gut ausgefüllten Dasein beizufügen, weil Sie fühlen, Sie können, zu welcher Stunde und in welchem Alter es auch sein möge, sterben, und Sie werden in den Augen des höchsten Richters voll der Tage und der Ehre sterben.«

Ein schwermüthiges Lächeln, das bewies, Dominique habe richtig getroffen, schwebte über die Lippen von Herrn Sarranti.

»Nun wohl, mein Vater,« fuhr Dominique fort, »ich schwöre Ihnen, daß die Worte Ihres Sohnes keine leeren Worte sind; ich schwöre Ihnen, daß ich hier,« Dominique legte die Hand auf seine Brust,– »daß ich hier die Beweise Ihrer Unschuld habe.«

»Und Du hast sie nicht vorgebracht?« rief Herr Sarranti, indem er einen Schritt zurückwich und seinen Sohn mit einem Erstaunen, das an Mißtrauen grenzte, ansah; »und Du hast gegen Deinen Vater ein Urtheil fällen lassen; Du hast Deinen Vater Zu einem entehrenden Tode verurtheilen lassen, während Du hier,« – und Herr Sarranti streckte den Finger gegen die Brust des Mönches aus, – »während Du hier die Beweise der Unschuld Deines Vaters hattest?«

Dominique hob die Hand empor.

»Mein Vater! so wahr als Sie ein Ehrenmann sind; so wahr als ich Ihr Sohn bin, wenn ich von diesen Beweisen Gebrauch gemacht, wenn ich Ihnen das Leben, die Ehre mit Hilfe dieser Beweise gerettet hätte, Sie würden mich verachtet haben, und wären grausamer an Ihrer Verachtung gestorben, als Sie je durch das Eisen des Henkers sterben werden.«

»Wenn Du aber diese Beweise heute nicht geben konntest, wie wirst Du sie eines Tages geben können?«

»Mein Vater, das ist ein zweites Geheimniß, das ich Ihnen nicht enthüllen darf, ein Geheimniß, das zwischen mir und Gott ist.«

»Mein Sohn,« sprach der Verurtheilte mit kurzem Tone, »es ist in Allem dem zu viel Geheimniß für mich. Ich nehme nur an, was ich begreifen kann; ich begreife nicht: folglich schlage ich aus.«

Und einen Schritt zurückweichend, winkte er dem Mönche, aufzustehen.

»Genug, Dominique,« sagte er; »erspare mir jeden Streit, und laß uns die letzten Stunden, die wir noch auf Erden beisammen zu bleiben haben, so sanft als möglich zubringen.«

Der Mönch stieß einen Seufzer aus; er wußte, daß, sobald einmal diese Worte von seinem Vater ausgesprochen waren, sich nichts mehr hoffen ließ.

Und dennoch, während er aufstand, sann er darüber nach, durch welche Wendung er von dem unbeugsamen Manne, den er seinen Vater nannte, eine Aenderung seines Entschlusses erlangen könnte.

Herr Sarranti bezeichnete Dominique einen Schemel, machte mit einem Reste von Aufregung drei bis vier Gänge in der engen Zelle, stellte dann einen Schemel zu seinem Sohne, setzte sich selbst, sammelte sein Gemüth und sprach also zu dem armen Mönche, der ihn mit gesenktem Haupte und gepreßtem Herzen anhörte:

»Bei dem Bedauern, daß wir uns trennen müssen, bleibt mir in dem Augenblicke, wo ich sterben soll, eine Art von Reue, oder vielmehr eine Furcht, ich habe mein Leben schlecht angewandt.«

»Oh! mein Vater!« rief Dominique, indem er das Haupt erhob und die Hände seines Vaters zu nehmen suchte, die dieser zurückzog, weniger in einer Bewegung der Kälte, als im Gegentheile, um seinem Sohne nicht diese magnetische Gewalt über sich zu geben.

Sarranti fuhr fort:

»Und, in der That, höre mich wohl an, mein Sohn, und sprich Dein Urtheil über mich.«

»Mein Vater!«

»Sprich Dein Urtheil über mich, ich wiederhole es . . . Habe ich nach Deiner Ansicht, – denn es macht mir Freude, es zu sagen, mein Sohn, Du bist ein Mann von hoher Moral, – habe ich nach Deiner Ansicht den Verstand, den mir Gott gegeben, um Anderen nützlich zu sein, gut oder schlecht angewendet? . . . Zuweilen zweifle ich . . . höre mich wohl an . . . und mir scheint, dieser Verstand habe ihnen zu nichts gedient. Etwas Anderes ist es, so viel als man vermag zum Werke der Civilisation beizutragen, welches zu fördern wir, die Einen und die Anderen, berufen sind; etwas Anderes, sein Leben einer einzigen Idee zu weihen, oder vielmehr einem einzigen Menschen, so groß Dieser Mensch auch sein mag.«

»Oh! mein Vater!« rief der Mönch, einen glühenden Blick auf Herrn Sarranti heftend.

»Höre mich an, mein Sohn,« wiederholte der Gefangene. » . . . Nun wohl, es ergreift mich, wie ich Dir sagte, ein Augenblick des Zweifels, und ich befürchte, mich im Wege geirrt zu haben. Aus dem Punkte, diese Welt zu verlassen, mache ich meine Gewissensprüfung, und es ist ein Glück für mich, daß ich sie vor Dir mache. Glaubst Du, die Energie, die ich in mir habe, hätte können besser angewendet werden? Habe ich von den Fähigkeiten, mit denen mich Gott begabt, den besten Gebrauch gemacht, den ich davon machen konnte, und wenn ich mir eine Ausgabe vorgesetzt, habe ich sie auch gut vollbracht? Antworte mir, mein Dominique.«

Zum zweiten Male sank Dominique, vor seinem Vater aus die Kniee.

»Mein edler Vater,« sagte er, »ich kenne keinen Menschen unter dem Himmel, der redlicher und edelmüthiger, als Sie es gethan, seine Kräfte im Dienste einer Sache verwendet hat, die ihm gerecht und gut schien; ich kenne keine höhere Rechtlichkeit, als Ihre Rechtlichkeit, keine uneigennützigere Ergebenheit, als Ihre Ergebenheit. Ja, mein edler Vater, Sie haben Ihre Ausgabe aus dem Gesichtspunkte erfüllt, aus dem Sie sich dieselbe auferlegt hatten, und die Zelle, in der wir zu dieser Stunde sind, ist das materielle Zeugniß Ihrer Seelengröße und Ihrer erhabenen. Selbstverleugnung.«

»Meinen Dank, Dominique,« antwortete Sarranti; »und tröstet mich etwas über den Tod, so ist es der Gedanke, daß mein Sohn das Recht hat, stolz aus mein Leben zu sein. Ich werde Dich also, mein einziges Kind, ohne Gewissensbisse, ohne Bedauern verlassen. Und ich hatte doch noch Kräfte im Dienste des Vaterlands; ich war kaum, – mir scheint das wenigstens heute so, – ich war kaum bei der Hälfte meiner Ausgabe, und ich glaubte, – in einer dunklen Ferne, welche zu erreichen mir aber möglich gewesen wäre, – den leuchtenden Strahl eines besseren Lebens, etwas wie die Befreiung meines Vaterlands, und, wer weiß? vielleicht in Folge der Befreiung meines Vaterlands die Befreiung der Nationen zu erschauen!«

»Ah! mein Vater!« rief der Abbé, »ich stehe Sie an, verlieren Sie diesen leuchtenden Strahl nicht aus dem Blicke: denn das ist die Feuersäule, welche Frankreich nach dem gelobten Lande führen soll. Mein Vater, hören Sie mich an, und Gott lege die Ueberredung in den Mund seines demüthigen Dieners.«

Herr Sarranti strich mit der Hand über seine feuchte Stirne, als wollte er sie von den materiellen Wolken befreien, welche seine Gedanken verdunkeln und das Wort seines Sohnes bis in seinen Geist zu gelangen verhindern konnten.

»Hören Sie also nun mich an, mein Vater: Sie haben so eben mit einem einzigen Worte die sociale Frage erleuchtet, der die edlen Menschen, wer sie auch sein mögen, ihr Leben weihen: der Mensch und die Idee

Die Augen aus seinen Sohn geheftet, machte Herr Sarranti ein Zeichen der Beistimmung.

»Der Mensch und die Idee. Alles liegt hierin, mein Vater. Der Mensch, in seiner Hoffart, glaubt der Herr der Ideen zu sein, während im Gegentheile die Idee Gebieterin des Menschen ist. Die Idee, o mein Vater, ist die Tochter Gottes, und Gott hat ihr, um ihr ungeheures Werk zu vollbringen, die Menschen als Werkzeuge gegeben . . . hören Sie das wohl, mein Vater: ich werde manchmal dunkel.

»Durch die Periode der Zeiten strahlt die Idee wie eine Sonne, die Menschen verblendend, die ihren Gott daraus gemacht haben. Sehen Sie dieselbe geboren werden, wo der Tag geboren wird: da, wo die Idee ist, ist das Licht: in allem Uebrigen ist die Nacht.

»Als die Idee über dem Ganges erschien und hinter der Kette des Himalaya ausging, jene Urcivilisation, von der wir nur noch Traditionen bewahrt haben, jene Ahnstädte erleuchtend, von denen wir nur. noch die Trümmer kennen, da strahlten ihre Flammen um sie und beleuchteten zugleich mit Indien alle benachbarten Nationen: nur war die Intensität des Lichtes da, wo die Idee war. Aegypten, Persien, Arabien waren in der Halbtinte: die übrige Welt in der Dunkelheit: Athen, Rom, Carthago, Cordova, Florenz und Paris, diese zukünftigen Herde, diese zukünftigen Leuchtthürme waren noch nicht aus der Erde hervorgegangen, und man wußte noch nicht einmal etwas von ihrem Namen.

»Indien vollbrachte sein Werl der patriarchalischen Civilisation. Diese Mutter des Menschengeschlechts, welche als Symbol die Kuh mit den unversiegbaren Eutern angenommen hatte, reichte den Ecepter Aegypten, seinen dreihundert Namen, seinen dreihundert und dreißig Königen und seinen sechsundzwanzig Dynastien. Man weiß nicht, wie lange Indien gedauert hat: Aegypten dauerte dreitausend Jahre. Es erzeugte Griechenland: nach der patriarchalischen Regierung und der theokratischen Regierung die republikanische Regierung. Die antike Gesellschaft hatte die heidnische Vollkommenheit erreicht.

»Dann kam Rom, Rom, die privilegierte Stadt, wo die Idee Mensch werden und über die Zukunft herrschen sollte . . . – Mein Vater, verbeugen wir uns Beide: ich will den Namen des Gerechten aussprechen, der nicht nur für die Gerechten starb, die man nach ihm opfern sollte, sondern auch für die Schuldigen: mein Vater, ich spreche den Namen Christi aus.«

Sarranti neigte das Haupt: Dominique bekreuzte sich.

»Mein Vater, in dem Augenblicke, wo der Gerechte seinen letzten Ausruf von sich gab, rollte der Donner, zerriß der Vorhang im Tempel, öffnete sich die Erde . . . Dieser Spalt, der von einem Pole zum andern ging, war der Abgrund, der die alte Welt von der neuen trennte. Alles war wiederanzufangen, Alles war neu zu machen: man hätte glauben sollen, Gott, der Unfehlbare, habe sich getäuscht, hätte man nicht, von Stelle zu Stelle, wie an seinem eigenen Lichte angezündete Leuchtthürme, die großen Vorläufer erkannt, die man Moses, Aeschylos, Plato, Sokrates, Virgil und Seneca nennt.

»Die Idee hatte vor Jesus Christus ihren antiken Namen: Civilisation, gehabt: sie hatte nach Jesus Christus ihren modernen Namen: Freiheit. In der heidnischen Welt war die Freiheit nicht nöthig für die Civilisation: sehen Sie Indien, sehen Sie Aegypten, sehen Sie Arabien, sehen Sie Persien, sehen Sie Griechenland, sehen Sie Rom. In der christlichen Welt gibt es keine Civilisation ohne Freiheit; sehen Sie Rom, Carthago, Granada fallen, sehen Sie den Vatican geboren werden . . . «

»Mein Sohn,« fragte Sarranti mit einer Art von Zweifel, »ist der Vatican wirklich der Tempel der Freiheit?«

»Er war es wenigstens bis zu Gregor VII. . . . Ah! mein Vater, hier muß man abermals den Menschen von der Idee trennen! Die Idee, die den Händen des Papstes entwischt, geht in die Hände von König Ludwig dem Dicken über, welcher vollendet, was Gregor VII. begonnen hat. Frankreich wird Rom fortsetzen; in diesem Frankreich, das kaum das Wort Gemeinde stammelt; in diesem Frankreich, dessen Sprache sich bildet, bei welchem die Leibeigenschaft aufgehoben werden wird, in diesem Frankreich werden sich fortan die Geschicke der Welt debattieren. Rom hat nur noch den Leichnam Christi: Frankreich hat sein Wort, seine Seele, – die Idee! . . . Seht sie sich erheben unter dem Namen Gemeinde. Gemeinde, das heißt Volksrechte, Demokratie, Freiheit!

»O mein Vater, die Menschen glauben, sie benützen die Ideen, während im Gegentheile es die Idee ist, welche die Menschen benützt.

»Hören Sie, mein Vater, denn in dem Augenblicke, wo Sie Ihr Leben Ihrem Glauben opfern, muß man Licht machen um diesen Glauben, damit Sie wohl sehen, ob die von Ihnen angezündete Fackel Sie dahin geführt hat, wohin Sie gehen wollten.«

»Ich höre,« erwiderte der Verurteilte, indem er seine Hand an seine Stirne drückte, als wollte er sie verhindern, vor der Minerva zu zerspringen, die er ganz gerüstet unter dem Gewölbe seines Gehirnes sich bewegen fühlte.

»Die Ereignisse sind verschieden,« fuhr der Mönch fort, »doch die Idee ist dieselbe. Nach der Gemeinde kommen die Pastoureaux; nach den Pastoureaux kommt die Jacquerie; nach der Jacquerie kommen die Maillotins; nach den Maillotins kommt der Krieg des öffentlichen Wohls; nach dem Kriege des öffentlichen Wohls die Ligue; nach der Ligue die Fronde; nach der Fronde die französische Revolution. Nun, mein Vater, alle die Empörungen, – mögen sie Gemeinde, Pastoureaux, Jacquerie, Maillotin, Krieg des öffentlichen Wohls, Ligue, Fronde, Revolution heißen, – das ist immer die Idee, die Idee, die sich verwandelt, bei jeder Verwandlung aber wächst.

»Der Blutstropfen, der von der Zunge des ersten Menschen fällt, welcher auf dem öffentlichen Platze von Cambrai: Gemeinde, ruft, und dem man die Zunge als einem Gotteslästerer ausschneidet, ist die Quelle der Demokratie; zuerst Quelle, dann Bach, dann Fluß, dann Strom, dann See, dann Ocean.

»Sehen wir nun, mein Vater, auf diesem Ocean den vom Herrn erwählten Steuermann schiffen, den man Napoleon den Großen nennt . . . «

Der Verurtheilte, der nie solche Worte gehört hatte, sammelte sich und hörte.

Der Mönch fuhr in folgenden Ausdrücken fort:

»Drei Männer waren zu allen Zeiten im Geiste des Herrn erwählt gewesen, um die Werkzeuge der Idee zu sein und das Gebäude der christlichen Welt zu behauen, wie er es verstand. Diese drei Männer sind Cäsar, Karl der Große, Napoleon. Und bemerken Sie wohl, mein Vater, Jeder von diesen drei Männern weiß nicht, was er thut, und scheint gerade das Gegentheil von, dem zu träumen, was er vollbringt: Cäsar, ein Heide, bereitet das Christenthum vor; Karl der Große, ein Barbar, bereitet die Civilisation vor; Napoleon, ein Despot, bereitet die Freiheit vor.

»Diese drei Männer kommen in einer Entfernung von achthundert Jahren von einander. Mein Vater, es sind drei verschiedene menschliche Anblicke, doch es ist dieselbe Seele, die sie belebt, – die Idee.

»Cäsar, ein Heide, vereinigt durch die Eroberung die Völker in einen einzigen Bündel, damit auf dieser Menschengarbe Christus aufstehe, eine befruchtende Sonne der modernen Welt, und damit unter dem Nachfolger Cäsars sich Christus erhebe.

»Karl der Große, ein Barbar, gründet die Feudalherrschaft, diese Mutter der Civilisation, und bricht an den Schranken seines ungeheuren Reiches die Wanderung der Völker, welche noch barbarischer als er.

»Napoleon . . . Erlauben Sie, mein Vater, daß ich in Beziehung auf Napoleon meine Theorie weiter entwickle. Es sind nicht leere Worte, die ich Ihnen sage, und ich hoffe, sie führen mich im Gegentheile zu dem Ziele, nach dem ich strebe.

»Als Napoleon, oder vielmehr Bonaparte, – denn der Riese hat zwei Namen, wie er zwei Gesichter hat, – als Bonaparte erschien, war Frankreich dergestalt durch die Revolution aus den andern Völkern hinausgeschleudert, daß es das Gleichgewicht der Nationen gestört hatte. Dieser Bucephalus brauchte einen Alexander, dieser Löwe einen Androklos. Bonaparte erschien mit seiner doppelten volksthümlichen und aristokratischen Natur im Angesichte dieser wahnsinnigen Freiheit, die man fesseln mußte, um sie zu heilen. Bonaparte war hinter der Idee in Frankreich, aber vor den Ideen anderer Völker.

»Die Könige sahen nicht in ihm, was in ihm war: die Könige sind manchmal blind: die Tollen führten Krieg gegen ihn.

»Da nahm Bonaparte, – der Mann der Idee, – was in Frankreich Reinstes, Verständigstes, Progressivstes unter seinen Kindern war: er bildete Bataillons daraus, heilige Bataillons, die er über Europa verbreitete. – Ueberall bringen diese Bataillons der Idee den Tod den Königen und das Leben den Völkern: überall, wo der Geist Frankreichs durchzieht, macht die Freiheit in seinem Gefolge einen Riesenschritt und wirst die Revolutionen in den Wind, wie ein Säemann das Korn auswirft.

»Napoleon fällt 1815, und schon ist die Ernte, die er vorbereitet hat, auf gewissen Boden gut zu machen. So verlangen im Jahre 1818, – erinnern Sie sich der Data, mein Vater, – das Großherzogthum Baden und das Königreich Baiern eine Constitution und erhalten sie: 1819 verlangt Württemberg eine Constitution und erhält sie: 1820 Revolution und Constitution der Cortes in Spanien: 1821 Empörung der Griechen gegen die Türkei.

»Der Mensch ist Gefangener: der Mensch ist an den Felsen von St. Helena gefesselt: der Mensch ist todt; der Mensch ist begraben; der Mensch ruht unter seinem namenlosen Steine; doch die Idee ist frei, doch die Idee überlebt ihn, doch die Idee ist unsterblich!

»Eine einzige Nation, eine einzige, war durch ihre topographische Lage dem progressiven Einflusse Frankreichs entgangen, weil sie zu weit entfernt war, als daß wir je daran gedacht hätten, den Fuß auf ihr Gebiet zu setzen. Napoleon träumt die Vernichtung der Engländer in Indien durch seine Verbindung mit Rußland . . . Dadurch, daß er die Augen immer auf Moskau geheftet hält, gewöhnt er sich an die Entfernung; die Entfernung verschwindet allmählich durch einen zugleich erhabenen und wahnsinnigen optischen Effect. Einen Vorwand, und wir erobern Rußland, wie wir Italien, Aegypten, Deutschland, Oesterreich und Spanien erobert haben. Der Vorwand wird eben so wenig fehlen, als er zur Zeit der Kreuzzüge fehlte, wo wir die Civilisation vom Orient entlehnten. Gott will es: wir werden die Freiheit dem Norden bringen. Ein englisches Schiff läuft in den Hafen irgend einer Stadt am Baltischen Meere ein, und der Krieg ist von Napoleon dem Manne erklärt, der zwei Jahre vorher, sich vor ihm verbeugend, folgenden Vers vom Voltaire auf sich anwandte:

L’amitié d’un grand homme est un bienfait des dieux! 12

»Und vor Allem scheint es, aus den ersten Blick, die Vorhersehung Gottes scheitere an dem despotischen Instincte eines Menschen. Frankreich dringt in Rußland ein, Rußland weicht aber vor Frankreich zurück: die Freiheit und die Sklaverei werden nicht in Berührung kommen. Kein Samen wird in dieser eisigen Erde keimen: denn vor unseren Heeren werden nicht nur die feindlichen Heere, sondern auch die feindlichen Völkerschaften zurückweichen. Es ist ein wüstes Land, dessen wir uns bemächtigen, es ist eine in Brand gesteckte Hauptstadt, welche in unsere Hände fällt, und wenn wir in Moskau einziehen, ist Moskau leer, steht Moskau in Flammen!

»Da ist die Sendung Napoleons erfüllt, und der Augenblick seines Sturzes ist gekommen: denn der Sturz von Napoleon wird der Freiheit so ersprießlich sein, als es die Erhebung von Napoleon gewesen ist. So klug vor dem siegenden Feinde, wird der Czaar vielleicht unklug vor dem besiegten Feinde sein: er war vor dem Eroberer zurückgewichen, – sehen Sie, mein Vater, sehen Sie, er schickt sich an, dem Flüchtling zu folgen . . .

»Gott zieht seine Hand von Napoleon zurück . . . Ist nicht seit drei Jahren sein guter Genius, Josephine, von ihm entfernt, um Marie Louise, der Inkarnation des Despotismus, Platz zu machen? Gott zieht also seine Hand von Napoleon zurück: und damit das himmlische Dazwischentreten sehr sichtbar sei, sind es diesmal bei den menschlichen Dingen nicht mehr Menschen, welche gegen Menschen kämpfen: die Ordnung der Jahreszeiten ist verkehrt, der Schnee und die Kälte kommen in Eilmärschen: es sind die Elemente, welche eine Armee tödten.

»Und so treffen die von der Weisheit des Herrn vorhergesehenen Dinge ein. Paris konnte seine Civilisation nicht nach Moskau tragen: Moskau kommt und verlangt sie in Paris.

»Zwei Jahre nach dem Brande seiner Hauptstadt wird Alexander in der unsern einziehen: doch sein Aufenthalt hier wird von zu kurzer Dauer sein: seine Soldaten werden kaum den Boden Frankreichs berührt haben: unsere Sonne, die sie erleuchten sollte, hat sie nur geblendet.

»Gott ruft seinen Auserwählten zurück: Napoleon erscheint wieder: der Gladiator betritt wieder die Arena, kämpft, fällt und streckt bei Waterloo den Hals hin.

»Da öffnet Paris dem Czaar und seinem wilden Heere wieder die Thore. Diesmal wird die Occupation drei Jahre an den Usern der Seine diese Menschen von der Newa, von der Wolga und vom Don zurückhalten: ganz angefüllt von neuen und fremden Ideen, die unbekannten Namen Civilisation, Befreiung und Freiheit stammelnd, werden sie in ihr wildes Land zurückkehren, und acht Jahre nachher wird eine republikanische Verschwörung in Petersburg ausbrechen . . . Wenden Sie die Augen gegen Rußland, mein Vater, und Sie werden den Herd dieses Brandes noch rauchend aus dem Senats-Platze sehen.

»Mein Vater, Sie haben Ihr Leben dem Menschen-Idee geweiht: der Mensch ist todt, die Idee lebt. Leben Sie auch für die Idee!«

»Was sagst Du, mein Sohn?« rief Herr Sarranti, seinen Sohn mit Augen anschauend, in denen sich zugleich das Erstaunen und die Freude, die Ueberraschung und der Stolz malten.

»Mein Vater, ich sage, nachdem Sie so muthig gekämpft, werden Sie nicht das Leben verlassen wollen, ehe Sie die Stunden der zukünftigen Unabhängigkeiten haben schlagen hören. Mein Vater, die Welt rührt sich; Frankreich ist in Arbeit wie ein vulcanischer Berg; noch ein paar Jahre, ein paar Monate vielleicht, und die Lava wird aus dem Krater hervorbrechen, auf ihrem Wege, wie verfluchte Städte, alle Knechtschaften, alle Erniedrigungen einer Gesellschaft verschlingend, welche verurtheilt ist, einer neuen Gesellschaft Platz zu machen.«

»Wiederhole die Worte, Dominique!« rief der enthusiastische Corse, dessen Augen vor Freude funkelten, da er aus dem Munde seines Sohnes diese prophetischen und tröstlichen, für ihn wie ein Diamantenthau kostbaren Worte hervorkommen hörte; »wiederhole diese Worte . . . Du gehörst zu einer geheimen Gesellschaft, nicht wahr, und Du kennst das Auflösungswort der Zukunft?«

»Ich gehöre zu keiner geheimen Gesellschaft, mein Vater, und kenne ich das Auflösungswort der Zukunft, so habe ich es in der Vergangenheit gelesen. Ich weiß nicht, ob sich ein Complott in der Dunkelheit anzettelt; doch ich weiß, daß eine allmächtige Verschwörung im Angesichte Aller im vollen Sonnenscheine aufgegangen ist: das ist die Verschwörung des Guten gegen das Böse, und die zwei Streiter stehen einander gegenüber; die Welt wartet . . . Leben Sie, mein Vater, leben Sie!«

»Ja, Dominique,« rief Sarranti, seinem Sohne die Hand reichend, »Du hast Recht: ich wünsche nun zu leben; doch wie leben, da ich verurtheilt bin?«

»Mein Vater, das ist meine Sache.«

»Keine Gnade, hörst Du wohl, Dominique? Ich will nichts von den Menschen empfangen, welche zwanzig Jahre gegen Frankreich gekämpft haben.«

»Nein, mein Vater; verlassen Sie sich auf mich, daß ich die Ehre der Familie wahre. Man verlangt nur Eines von Ihnen: daß Sie ein Cassationsgesuch einreichen; ein Unschuldiger hat keine Gnade zu verlangen.«

»Was ist denn Dein Plan, Dominique?«

»Mein Vater, gegen Sie, wie gegen Andere muß ich ihn verschweigen.«

»Es ist ein Geheimniß?«

»Tief, unverletzlich.«

»Selbst für Deinen Vater, Dominique?«

Dominique nahm die Hand seines Vaters, küßte sie ehrfurchtsvoll und erwiderte:

»Selbst für meinen Vater!«

»Sprechen wir nicht mehr davon, mein Sohn . . . Wann werde ich Dich wiedersehen?«

»In fünfzig Tagen . . . vielleicht früher, doch nicht später.«

»Ich werde Dich fünfzig Tage lang nicht sehen?« rief Herr Sarranti erschrocken.

Er fing an zu befürchten, er werde sterben.

»Ich unternehme zu Fuße eine lange Pilgerfahrt. . . . Empfangen Sie mein Lebewohl. Ich reise schon diesen Abend, in einer Stunde, ab, um bis zu meiner Rückkehr nicht mehr zu rasten. Segnen Sie mich, mein Vater!«

Ein Gefühl erhabener Größe verbreitete sich über das Antlitz von Herrn Sarranti.

»Gott begleite Dich auf Deiner schmerzlichen Pilgerfahrt, edles Herz!« sagte er, die Hände über das Haupt seines Sohnes erhebend; »er bewahre Dich vor Hinterhalten und Verrathen, und führe Dich zurück, um die Thüre meines Gefängnisses zu öffnen, mag diese Thüre auf das Leben oder auf den Tod gehen.«

Dann nahm er zwischen seine zwei Hände den Kopf des knieenden Mönches, schaute ihn mit stolzer Zärtlichkeit an, küßte ihn auf die Stirne, und winkte ihm wegzugehen, ohne Zweifel aus Furcht, es könnte sich seine Gemüthsbewegung in Schluchzen Luft machen.

Der Mönch seinerseits, der seine Kräfte entschwinden fühlte, wandte sich ab, um seinem Vater den Anblick der Thränen zu entziehen, welche aus feinen Augen hervorstürzten, und ging hastig hinaus.

12

Die Freundschaft eines großen Mannes ist eine Wohlthat der Götter.

Salvator

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