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Zweiter Band
II
Die Liebenden der Rue Macon
ОглавлениеWir haben gesagt, welche Wirkung der Urtheilspruch im Inneren des Saales hervorbrachte: die Wirkung war außen nicht minder groß.
Kaum waren die Worte: »Zur Todesstrafe!« von den Lippen des Präsidenten gefallen, da war es wie ein langer Seufzer, wie ein ungeheurer Angstschrei, der, vom Innern des Sitzungssaales ausgegangen, durch die Brust von Tausenden bis aus dem Platze des Chatelet wiederhallte und die Zuschauer schauern machte, als ob die Sturmglocke, welche vor der Revolution die viereckige Tour de l’Horloge enthielt, – wie sie es im Chore mit der Glocke von Saint-Germain-l’Auxerrois in der Nacht vom 24. August 1572 that, – das Signal zu Metzeleien einer neuen St. Bartholomäus-Nacht geben würde.
Diese ganze Menge zog sich düster und traurig zurück: sie verlief sich langsam und niedergeschlagen, das Herz gepreßt von dem entsetzlichen Urtheile, das gesprochen worden war.
Jeder, der unwissend hinsichtlich dessen, was vorging, diese so bestürzte Menge gesehen hätte: Jeder, der diesem stillen Abgange, dieser stummen Desertion beigewohnt hätte, würde kein anderes Motiv für diesen langsamen, düsteren Rückzug gesunden haben, als eine außerordentliche Katastrophe, wie der Ausbruch eines Vulcans, die Ankunft der Pest, oder die ersten Gerüchte von einem Bürgerkrieg.
Doch auch derjenige, welcher, nachdem er die ganze Nacht diesen entsetzlichen Debatten beigewohnt, derjenige, welcher in diesem ungeheuren Saale beim zitternden Scheine der, vor den ersten Strahlen des Tages erbleichenden, Lampen und Kerzen hatte das Todesurtheil aussprechen hören und diese drohende Menge sich verlaufen sehen, plötzlich, ohne Uebergang, in das reizende Nest, das Salvator und Fragola bewohnten, versetzt worden wäre, würde einen sehr süßen Eindruck empfunden haben, ein Gefühl ähnlich dem, das die frische Luft eines Maimorgens dem Liederlichen, der die Nacht bei einer Orgie zugebracht hat, geben muß.
Er hätte vor Allem das kleine Speisezimmer gesehen, dessen vier Füllungen mit Bildern von Pompeji geschmückt waren; sodann Salvator und Fragola auf jeder Seite eines lackierten Tisches sitzend, auf welchem ein Theeservice in weißem Porzellan von glänzender Feinheit, wenn auch nicht von großem Werthe stand.
Mit dem ersten Blicke hätte man sogleich zwei Verliebte, oder zwei Liebende erkannt, – oder vielmehr zwei Geschöpfe, die sich lieben.
Aber, fand nicht etwa ein Streit zwischen ihnen statt, was nach der Art, wie das reizende Kind den jungen Mann anschaute, unmöglich schien, – so würde man begriffen haben, daß eine sorgenvolle, melancholische Träumerei über dem Haupte und dem Herzen von Beiden schwebte.
Und in der That, das unschuldige Gesicht von Fragola, das eine in der Aprilsonne sich öffnende Frühlingsblume zu sein schien, trug unter dem keuschen, zärtlichen aus ihren Geliebten gehefteten Blicke das Gepräge einer Gemüthsbewegung so tief, daß sie beinahe an den Schmerz grenzte, an sich, und dies, während an ihrer Seite Salvator einem so großen Kummer preisgegeben schien, daß es ihm nicht einmal einfiel, das Mädchen zu trösten.
Und diese Traurigkeit war sehr natürlich aus beiden Seiten.
Die ganze Nacht abwesend, war Salvator seit einer halben Stunde nach Hause zurückgekommen, und er hatte Fragola in ihren tief erregenden Einzelheiten alle Abenteuer dieser Nacht erzählt: die Erscheinung von Camille von Rozan bei Frau von Marande, die Ohnmacht von Carmelite, und das Todesurtheil von Herrn Sarranti.
Das Herz von Fragola schauerte mehr als einmal, während sie diese grauenvolle Erzählung hörte, deren Einzelheiten fast eben so traurig in den vergoldeten Salons des Banquier, als im düsteren Saale des Assisenhofes. In der That, war der Leib von Herrn Sarranti durch den Präsidenten des Gerichtes zum Tode verurtheilt worden, war das Herz von Carmelite nicht auch zum Tode verurtheilt durch den Tod von Colombau?
Den Kopf aus die Brust geneigt, träumte sie.
Den Kopf auf seine Hände gestützt, meditierte er: denn es öffnete sich ein ganzer Horizont vor ihm.
Er erinnerte sich jener Nacht, wo er mit Roland über die Mauern des Schlosses Viry gestiegen war: er erinnerte sich des Laufes von Roland durch die Wiesen, durch den Wald, welcher Laus am Fuße der Eiche sein Ziel gesunden hatte: er erinnerte sich endlich der Wuth, mit der der Hund die Erde aufgekratzt hatte, und des entsetzlichen Eindrucks, der ihn, Salvator, ergriffen, als das Ende seiner gekrümmten Finger die seidenen Haare des Kindes berührte.
Welchen Zusammenhang konnte dieser unter einer Eiche begrabene Leichnam mit der Sache von Herrn Sarranti haben? Wäre es, statt ein Beweis zu seinen Gunsten zu sein, vielmehr ein Beweis gegen ihn? . . . Und dann Mina, hieß das nicht sie ins Verderben stürzen?
Oh! wenn Gott die Gnade haben wollte, einen Strahl seines Lichtes in das Gehirn von Salvator herabsteigen zu lassen!
Vielleicht auch durch Rose-de-Noël . . .
Hieß es aber nicht das nervöse Kind tödten, es auf das blutige Kapitel seiner Kindheit zurückbringen?
Welche Mission hatte er übrigens erhalten, in allen diesen finsteren Tiefen zu wühlen?
Und dennoch, – hatte er nicht den Namen Salvator angenommen, und schien nicht Gott in seine Hand den Faden zu legen, mittelst dessen er sich in diesem Labyrinthe von Verbrechen ausfinden konnte?
Er würde Dominique aufsuchen, – war er nicht verbunden gegen diesen Priester, dem er das Leben verdankte? – Er würde zu seiner Verfügung alle diese Halbscheine von Wahrheit stellen, welche wie Blitze blenden müßten.
Sobald dieser Entschluß gefaßt war, stand er auf, um ihn in Ausführung zu bringen, als das Geräusch der Klingel ertönte.
Roland, der, bei seinem Herrn liegend, langsam seinen verständigen Kopf emporgehoben hatte, richtete sich auf seinen Pfoten auf, als er den Ton des Glöckchens hörte.
»Wer kommt, Roland?« fragte Salvator. »Ist es ein Freund?«
Der Hund hörte seinen Herrn, und, als hätte er ihn verstanden, ging er langsam auf die Thüre mit dem Schwanze wedelnd zu, was ein untrügliches Zeichen von Sympathie war.
Salvator lächelte und öffnete die Thüre.
Dominique erschien bleich, traurig und ernst auf der Schwelle.
Salvator gab einen Freudenschrei von sich.
»Seien Sie willkommen in meinem armen Hause! Ich dachte an Sie; ich war im Begriffe, zu Ihnen zu gehen.«
»Ich danke,« sagte der Priester; »Sie sehen, daß ich Ihnen die Mühe des Weges erspart habe.«
Fragola war aufgestanden beim Anblicke dieses schönen Mönches, den sie nur ein einziges Mal, beim Bette von Carmelite, gesehen hatte.
Dominique schickte sich an, zu sprechen. Salvator machte eine Geberde der Bitte, daß der Mönch, statt zu sprechen, höre.
Der Mönch drückte seine halbgeöffneten Lippen wieder zusammen und hörte.
»Fragola,« sagte Salvator, »theures Kind meines Herzens, komm hierher!«
Das Mädchen näherte sich und stützte ihren Arm auf den Arm ihres Geliebten.
»Fragola,« fuhr Salvator fort, »glaubst Du, daß mein Leben seit sieben Jahren von einigem Nutzen für die Menschen gewesen ist, glaubst Du, daß ich einiges Gute auf Erden gethan habe, so kniee vor diesem Märtyrer nieder, küsse den Saum seines Kleides und danke ihm; denn ihm verdanke ich es, daß ich nicht seit sieben Jahren eine Leiche bin!«
»Oh! mein Vater!« rief Fragola, sich auf die Kniee werfend.
Dominique reichte ihr die Hand und sprach:
»Stehen Sie auf, mein Kind; danken Sie Gott: Gott allein gibt und nimmt das Leben.«
»Es war also der Abbé Dominique, der in Saint-Roche an dem Tage predigte, wo Du Dich tödten wolltest?« fragte Fragola.
»Ich hatte die geladene Pistole in meiner Tasche; mein Entschluß war gefaßt; noch eine Stunde, und ich sollte zu existiren aufhören. Das Wort dieses Mannes hat mich vom Rande des Abgrundes zurückgehalten: ich habe gelebt.«
»Und Sie danken Gott, daß Sie leben?«
»Oh! ja, von ganzer Seele!« erwiderte Salvator, Fragola anschauend. »Darum sagte ich Ihnen: »»Mein Vater, welche Sache Sie auch wünschen mögen, und sollte Ihnen diese Sache unmöglich scheinen, zu welcher Stunde des Tages oder der Nacht es sein mag, ehe Sie an eine andere Thüre klopfen, klopfen Sie an die meine!««
»Und Sie sehen, ich bin gekommen!«
»Was wünschen Sie, daß ich thun soll? Befehlen Sie!«
»Halten Sie meinen Vater für unschuldig?«
»Ja, bei meiner Seele, das ist meine Ueberzeugung; und ich kann Ihnen vielleicht den Beweis seiner Unschuld erlangen helfen.«
»Ich habe ihn!« antwortete der Mönch.
»Hoffen Sie Ihren Vater zu retten?«
»Ich bin dessen sicher!«
»Bedürfen Sie der Mitwirkung meines Armes oder meines Verstandes?«
»Niemand außer mir selbst kann mir bei Verfolgung meines Werkes helfen.«
»Was verlangen Sie dann von mir?«
»Etwas, was mir unmöglich scheint, daß ich es durch Ihre Vermittlung erlange; doch Sie hießen mich zu Ihnen kommen, um welcher Sache willen es auch sein möge, und ich hätte nicht kommend zum Verräther an meiner Pflicht zu werden geglaubt.«
»Sagen Sie mir Ihren Wunsch.«
»Ich muß heute, spätestens morgen eine Audienz beim König erhalten . . . Sie sehen, mein Freund, daß das unmöglich ist . . . wenigstens durch Sie.«
Salvator wandte sich lächelnd gegen Fragola um und sagte:
»Taube, fliege aus der Arche und komm nur mit dem Oelzweige zurück.«
Fragola ging, ohne zu antworten, in das Nebenzimmer, setzte einen Hut mit einem Schleier auf, warf auf ihre Schultern eine Mantille von englischem Stoffe, kam wieder zurück, reichte Salvator ihre Stirne zum Kusse und entfernte sich.
»Setzen Sie sich, mein Vater,« sagte der junge Mann. »In einer Stunde werden Sie Ihre Audienz für heute oder für morgen spätestens haben.«
Der Priester setzte sich und schaute Salvator mit einem Erstaunen an, das an die Betäubung grenzte.
»Aber wer sind Sie denn,« fragte er Salvator, »Sie, der Sie unter einem so demüthigen Anscheine über eine so große Macht verfügen?«
»Mein Vater,« antwortete Salvator, »ich bin wie Sie: ich muß allein auf dem Wege gehen, den ich mir vorgezeichnet habe; erzähle ich aber je einem Menschen mein Leben, so verspreche ich Ihnen, daß Sie es sein werden.«