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Erster Band
XVI
Die Romance von der Weide

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Ein langer, dumpfer, peinlicher Seufzer, von drei oder vier Punkten des Salon ausgehend, folgte auf diese Meldung; ein tiefes Stillschweigen herrschte nach diesem Ausrufe des Schmerzes. Man hätte glauben sollen, alle hier gegenwärtige Personen kennen die Geschichte von Carmelite, und der Schrecken habe ihrer Brust diesen schmerzlichen Seufzer entrissen, den sie nicht zurückzuhalten vermocht, als sie diese Meldung gehört, und plötzlich, das Feuer in den Augen, die Freude auf den Lippen, die Sorglosigkeit auf der Stirne, diesen jungen Mann haben erscheinen sehen, den man gewisser Maßen als den Mörder von Colombau betrachten konnte.

Dieser Seufzer war zugleich von Jean Robert, von Petrus, von Regina und von Frau von Marande ausgestoßen worden.

Was Carmelite betrifft, sie hatte nicht nur weder geschrien, noch geseufzt, sondern sie war sogar athemlos, unbeweglich wie eine Bildsäule geblieben.

Herr von Marande allein, der den von ihm vergessenen Namen gehört und wieder erkannt hatte, ging dem ihm von seinem americanischen Correspondenten empfohlenen Paare entgegen und sagte:

»Sie kommen vortrefflich, Herr von Rozan! Wollen Sie sich setzen und lauschen, so werden Sie, wie Frau von Marande versichert, die schönste Stimme hören, die Sie je gehört haben.«

Und Frau von Rozan den Arm bietend, führte er sie zu einem Fauteuil, während Camille in dem Gespenste, das er vor Augen hatte, Carmelite zu erkennen suchte und, sie erkennend, einen schwachen Schrei des Erstaunens von sich gab.

Lydie und Regina waren auf ihre Freundin zugestürzt, denn sie glaubten, sie bedürfe ihrer Hilfe, und erwarteten, sie werde in ihren Armen in Ohnmacht fallen; doch zu ihrer großen Verwunderung war Carmelite, wie gesagt, mit starrem Auge stehen geblieben; nur war ihr Teint von der Blässe zur Leichenfarbe übergegangen.

Dieses starre, unbewegliche Auge, ohne Ausdruck, ohne scheinbares Leben, schien nichts mehr anzublicken; es war, als schlüge das Herz nicht mehr, so schien der Körper plötzlich versteinert zu sein. Die junge Frau war so erschrecklich anzuschauen, – um so erschrecklicher, als, abgesehen von dieser Leichenfarbe, ihr Marmorgesicht keine Spur von Erregung an sich trug.

»Madame,« sagte Herr von Marande, indem er sich seiner Frau näherte, »das sind die zwei Personen, von denen ich mit Ihnen zu sprechen die Ehre gehabt habe.«

»Ich bitte Sie inständig, mein Herr, beschäftigen Sie sich mit ihnen,« erwiderte Frau von Marande; »ich, ich gehöre ganz Carmelite . . . Sehen Sie, in welchem Zustande sie ist.«

Diese Leichenblässe, dieser ausdruckslose Blick, diese bildsäulenartige Unbeweglichkeit fielen Herrn von Marande wirklich auf.

»Oh! mein Gott! mein Fräulein,« fragte er mit dem Tone der lebhaftesten Theilnahme, »was ist Ihnen denn begegnet?«

»Nichts, mein Herr,« erwiderte Carmelite, den Kopf mit jener Bewegung erhebend, welche ein mächtiges Herz macht, um dem Unglück ins Gesicht zu schauen; – »nichts!«

»Singe nicht . . . singe heute Abend nicht!« flüsterte Regina Carmelite zu.

»Und warum sollte ich nicht singen?«

»Der Kampf übersteigt Deine Kräfte,« sagte Lydia.

»Du wirst es sehen!« erwiderte Carmelite.

Und etwas wie der blasse Reflex des Lächelns einer Todten zeichnete sich auf ihren Lippen.

»Du willst es?« fragte Regina« indem sie sich wieder ans Klavier setzte.

»Nicht die Frau wird singen, Regina: die Künstlerin,« antwortete Carmelite.

Und sie machte die drei Schritte, die sie noch vom Klavier trennten.

»Mit Gottes Gnade!« sagte Frau von Marande.

Regina präludirte zum zweiten Male.

Carmelite begann:

Assisa al pié d’un-n salica . . . 6

Die Stimme war fest, sicher geblieben, und ergriff eine tiefe Gemüthsbewegung vom zweiten Verse an die Zuhörer, so rührte diese Gemüthsbewegung viel mehr vom Schmerze von Desdemona, als vom Leiden von Carmelite her.

Es wäre in der That schwer gewesen, einen Gesang zu wählen, der sich mehr für die Lage von Carmelite geeignet hätte; die Todesangst, von der das Herz von Desdemona ergriffen ist, da sie die erste Strophe der africanischen Sclavin, ihrer Amme, singt, war gewisser Maßen die Formel der Bangigkeiten, die ihr eigenes Herz zusammenschnürten; der Sturm, der über dem Palaste der schönen Venezianerin schwebt, der Wind, der eine Füllung vom gothischen Fenster ihres Gemaches zerbrochen hat, der Donner, der geräuschvoll in der Ferne rollt, die finstere Nacht, die traurig flackernde Lampe, Alles bis auf die melancholischen Verse von Dante, welche auf seiner Barke vorüberfahrend ein Gondelier singt:

Nessum maggiore doloro Che rieordarsi del tempo felice,Nella misera . . . 7

Alles bringt an diesem unseligen Abend die arme Desdemona in Verzweiflung, Alles ist schlimmes Vorzeichen, Alles ist unheilvolle Vorbedeutung!

Der Sang der Statue in Don Juan von Mozart und die Verzweiflung der armen Donna Anna, da sie an den Leichnam ihres Vaters stößt, sind vielleicht die einzigen zwei Situationen« die sich mit dieser schmerzlichen Scene der Ahnungen vergleichen lassen.

Keine Musik, wir wiederholen es, war also mehr geeignet, als die des großen italienischen Meister, um die Schmerzen von Carmelite auszudrücken.

Dieser Colombau, brav, redlich und stark, um den sie die Trauer im Herzen trug, war er nicht gewisser Maßen der finstere, redliche, in Desdemona verliebte Africaner? Dieser unselige Jago, dieser falsche Freund, der in das Herz von Othello das Gift der Eifersucht streut, war er nicht, – die Verhältnisse wohl beachtet, – der frivole Americaner, der eben so viel Böses mit seinem Leichtsinne gethan hatte, als Jago mit seinem Hasse hatte thun können?

Nun wohl, diese Lage war die, in welcher sich Carmelite befand, als sie Camille wiedersah, und diese Romanze, die sie mit so viel Festigkeit und zugleich mit so viel Ausdruck sang, diese Romanze war ein beständiges Märtyrerthum, und jede Note drang kalt und schmerzlich wie die Klinge eines Dolches in ihr Herz ein.

Nach der ersten Strophe klatschte alle Welt Beifall mit dem aufrichtigen Enthusiasmus, welchen jedes neue Talent bei dem Publikum erregt, das nicht interessiert ist, ein falsches Urtheil zu fällen.

Die zweite Strophe:

I ruocelletti limpidia caldi suoi sospiri . . .

erfüllte die Zuhörer mit Erstaunen; es war nicht mehr eine Frau, es war nicht mehr eine Sängerin, die aus ihrem Munde diese Cascade von Wehklagen regnen ließ: es war der Schmerz, der sich selbst besang.

Der Refrain besonders:

Laura fra. i rami flebile Ripetiva il suon . . .

wurde mit einer so rührenden Melancholie gesungen, daß das ganze verzweifelte Gedicht von Carmelite in diesem Momente an den Augen von denjenigen, welche sie kannten, vorübergehen mußte, wie es sicherlich vor den ihrigen vorüberzog.

Regina war beinahe so bleich geworden als Carmelite. Lydie weinte.

In der That, nie hatte eine so sympathetische Stimme, – zu jener Zeit, wo so viele große Sängerinnen: die Pasta, die Pizzaroni, die Mainvielle, die Sontag, die Catalani, die Malibran, ihr Auditorium entzückten, – nie hatte ein solcher lebender Timbre das Herz der Dilettanti in dieser schönen italienischen Sprache bewegt, welche selbst eine Musik ist. Doch man erlaube uns, mit ein paar Zeilen für diejenigen, welche die so eben von uns genannten großen Künstlerinnen gekannt haben, zu sagen, worin sich die Stimme unserer Heldin von denen dieser berühmten Sängerinnen unterschied.

Die Stimme von Carmelite hatte von Natur einen außerordentlichen Umfang; sie gab das tiefe G mit derselben Leichtigkeit und mit demselben Wohlklange, mit dem Madame Pasta das A gab, und sie ging bis zum hohen D hinauf. Das Mädchen konnte also, – und das war das Wunder ihrer Stimme, – ebenso gut Altpartien, als Sopranrollen singen.

Es war wirklich keine Sopranstimme reiner, reicher, glänzender, mehr für den Fiorituri, für die Gorgheggi geeignet, wenn es uns erlaubt ist, uns dieses Wortes zu bedienen, das speciell in Neapel angewandt wird, um das Gezwitscher der Kehle zu bezeichnen, von dem jeder Sopran, der debutirt, unserer Ansicht nach übermäßig Mißbrauch macht.

Was die Altstimme betrifft, – sie war einzig.

Jedermann kennt die wunderbaren, so zu sagen magnetischen Wirkungen der Altstimme; sie malt die Liebe mit mehr Kraft, die Traurigkeit mit mehr Ausdruck, den Schmerz mit mehr Energie als die Sopranstimme. Die Soprane singen wie die Vogel: sie gefallen, entzücken, bezaubern; die Altstimmen bewegen, beunruhigen, setzen in Leidenschaft. Die Sopranstimme ist eine reine Frauenstimme: sie hat die Zartheiten und die Süßigkeiten davon; die Altstimme ist eine wahre Männerstimme; sie hat ihren Ernst, ihre Härte, ihre Herbheit, und dennoch ist es eine ganz besondere Stimme, die an dem Einen und dem Andern Theil hat; eine hermaphrodite Stimme. Diese Stimmen bemächtigen sich auch der Seele der Zuschauer mit der Schnelligkeit und der Kraft der Elektricität und des Magnetismus. Die Altstimme ist gewisser Maßen das Echo der Gefühle des Zuhörers: sänge derjenige, welcher zuhört, so möchte er sicherlich gern so singen.

Das war also die auf das Auditorium durch die Stimme von Carmelite hervorgebrachte Wirkung Begabt mit einem ungewöhnlichen, obgleich rein instinktartigen Geschicklichkeit, denn sie kannte nur wenig das Verfahren der großen Sänger in der Mode, vereinigte Carmelite, mit einem erstaunlichen Glücke, die Kopfstimme mit der Bruststimme; die Verbindung dieser zwei Stimmen war augenscheinlich, und ein alter Meister wäre sehr in Verlegenheit gekommen, hätte er sagen sollen, wie viel Studien nothwendig gewesen seien, um die wunderbaren Effecte zweier so entgegengesetzten Stimmen zu kombinieren.

Carmelite, als große Tonkünstlerin, was sie war, hatte unter dem Auge von Colombau so emsig und so fest die Grundprincipien der Musik studiert, daß sie fortan nichts nöthig hatte, als sich gehen zulassen, um zu verführen und zu elektrisieren; und war ihre Stimme schön, so war ihr Geschmack vollkommen. Von den ersten Lectionen an an die Maßhaltung der deutschen Musik gewöhnt, machte sie einen sehr mäßigen Gebrauch von den italienischen Fiorituri und bediente sich derselben nur, um den Ausdruck eines Stückes zu vermehren, oder um einen Satz mit einem andern zu verbinden, nie aber als Annehmlichkeit, nie als Kunststück.

Wir endigen die Analyse des Talentes von Carmelite damit, daß wir sagen, im Gegensatze zu den grüßten Sängerinnen der Zeit und sogar aller Zeiten habe dieselbe Note bei zwei verschiedenen Situationen der Seele bei ihr gleichsam nie denselben Ton gehabt.

Wundert sich nun Einer und beschuldigt uns der Uebertreibung, behauptend, keine Sängerin, und wenn sie zu Meistern Porpora, Mozart, Pergolese oder selbst Rossini gehabt, habe die Vollkommenheiten dieser doppelten Stimme erreicht, so antworten wir, Carmelite habe einen Meister gehabt, der viel ernster gewesen, als die so eben von uns genannten, einen Meister, den man das Unglück nenne!

Am Ende der dritten Strophe war es auch ein einstimmiges Hurrah, eine unaussprechliche Raserei.

Die letzten Noten waren noch nicht erloschen, klagend und seufzend wie der Schrei der Schmerzen selbst, als ein Beifallsdonner, die vergoldete Kuppel dieses weltlichen Salons erschütterte. Jeder stand auf, als wollte er der Erste sein, um der Künstlerin Glück zu wünschen, ihr sein Compliment zu machen; es war ein wahres Fest, eine allgemeine Hinreißung, Alles, was die Furia francese, das Decorum vergessend, gestatten kann. Man stürzte nach dem Klavier, um dieses Mädchen anzuschauen, das schön wie die Schönheit, mächtig wie die Stärke, finster wie die Verzweiflung. Die alten Frauen, die sie um ihre Jugend beneideten, die jungen Frauen, die sie um ihre Schönheit beneideten, alle diejenigen, welche sie um ihr unvergleichliches Talent beneideten, alle diejenigen, welche sich sagten, es wäre beinahe ein Ruhm, von einer solchen Frau geliebt zu sein, näherten sich ihr, nahmen ihre Hand und drückten sie mit Liebe.

Und darum ist die Kunst wahrhaft schön, wahrhaft groß: in einem Augenblicke macht sie einen alten Freund aus einem Bekannten.

Tausend Einladungen fielen, wie die zukünftigen Blumen ihres Rufes, und streuten sich in einem Augenblicke um Carmelite her.

Der alte General, der sich, wie gesagt, darauf verstand, der alte General, der nicht leicht zu bewegen war, fühlte seine Thränen fließen; das war der Sturmregen, der sein Herz, während er das Mädchen singen hörte, angeschwellt hatte.

Jean Robert und Petrus näherten sich einander instinetartig, und in ihrem stummen Händedruck erzählten sie sich stillschweigend ihre schmerzliche Gemüthsbewegung, ihr melancholisches Entzücken; hätte ihnen Carmelite ein Rachezeichen gemacht, sie wären auf diesen sorglosen Camille losgestürzt, der, nicht wissend, was vorgefallen, Alles dies, ein Lächeln auf den Lippen, das Lorgnon im Auge und von seinem Platze aus: Bravo! Bravo! Bravo! Rufend, wie er es auf einem Sperrsitze der italienischen Oper würde gethan haben, angehört hatte.

Regina und Lydie, welche begriffen hatten, was Alles an Schmerz und Ausdruck die Gegenwart des Creolen der Stimme von Carmelite beifügte, – Regina und Lydie, welche während der ganzen Zeit, die der Gesang gedauert, bei jeder Note gezittert hatten, das Herz der Sängerin werde brechen, waren Beide wie niedergeschmettert. Regina wagte es nicht, sich umzudrehen, Lydie wagte es nicht, den Kopf zu erheben.

Plötzlich, auf einen von denjenigen, welche Carmelite umgaben, ausgestoßenen Schreckenschrei, traten die zwei jungen Frauen aus ihrer Erstarrung hervor und wandten sich gleichzeitig gegen ihre Freundin um.

Carmelite hatte nach ihrer letzten geweinten Note den Kopf zurückgeworfen, und, bleich, steif, unbeweglich, wäre sie unfehlbar auf den Boden gefallen, hätten sie nicht zwei Arme unterstützt, und hätte nicht eine befreundete Stimme zu ihr gesagt.

»Muth, Carmelite! und seien Sie stolz: von diesem Abend an haben Sie Niemand mehr nöthigt.«

Ehe sie die Augen schloß, hatte Carmelite Zeit, Ludovic diesen grausamen Freund, der sie ins Leben zurückgerufen zu erkennen.

Sie stieß einen letzten Seufzer aus, schüttelte traurig den Kopf und fiel in Ohnmacht.

Nun erst sah man aus ihren geschlossenen Augen zwei Thränen hervorquellen, welche über ihre eiskalten Wangen rollten.

Die zwei Frauen nahmen sie aus den Händen von Ludovic; dieser war herbeigekommen, während Carmelite sang, und geräuschlos, ohne gemeldet zu werden, eintretend, war er in der Nähe gewesen, um sie in seinen Armen zu empfangen.

»Es ist nichts,« sagte er zu den zwei Freundinnen; »solche Krisen sind mehr wohlthätig als nachtheilig. . . . Sie athme von diesem Flacon ein, und in fünf Minuten wird sie wieder zu sich gekommen sein.«

Vom General unterstützt, trugen Regina und Lydie Carmelite ins Schlafzimmer: nur blieb der General bei der Thüre zurück.

Sobald Carmelite verschwunden und das Auditorinm durch ein paar Worte von Ludovic beruhigt war, brach der, in seinem Laufe gehemmte, Enthusiasmus aufs Neue aus.

Es war nur ein einstimmiger Schrei der Bewunderung.

6

Am Fuße einer Weide sitzend.

7

Es gibt keinen größeren Schmerz, als sich im Elende der glücklichen Zeit zu erinnern.

Salvator

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