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Erster Band
XII
Das Gespenst
ОглавлениеDie Saint-Germain-des-Prés-Kirche, mit ihrer romanischen Vorhalle, ihren massiven Pfeilern, ihren gedrückten Bögen, ihrem Dufte vom achten Jahrhundert, ist eine der düstersten Kirchen von Paris, und folglich eine von denjenigen, wo man am leichtesten die Vereinzelung des Leibes und die Erhebung der Seele finden kann.
Es hatte also nicht ohne Grund Dominique, der nachsichtige Mönch, aber der strenge Mensch, Saint-Germain-des-Prés gewählt, um hier mit Gott von seinem Vater zu reden.
Er betete lange, und es war über fünf Uhr Nachmittags, als er, die Hände in seinen weiten Aermeln verloren, den Kopf auf seine Brust gesenkt, daraus wegging.
Er wandelte langsam nach der Rue du Bot-de-Fer, immer hoffend, – indessen mit einer sehr schüchternen und unbestimmten Hoffnung, – aus dem Gefängnisse abgegangen, werde sein Vater gekommen sein, um nach ihm zu fragen.
Seine erste Frage an die gute Frau, welche beim Abbé die Functionen einer Concierge und einer Löhnerin kumulierte, war auch, daß er sich erkundigte, ob in seiner Abwesenheit Niemand nach ihm gefragt habe.
»Doch, mein Vater,« antwortete die Concierge, »ein Herr . . . «
Dominique bebte.
»Sein Name?« fragte er.
»Er hat ihn mir nicht gesagt.«
»Sie kennen ihn nicht?«
»Nein . . . es ist das erste Mal, daß er kommt.«
»Sie sind sicher, daß es nicht der ist, welcher mir gestern einen Brief gebracht hat?«
»Ah! Nein, diesen hätte ich wohl erkannt: es gibt nicht zwei so finstere Gesichter in Paris.«
»Armer Vater!l« murmelte Dominique.
»Nein,« fuhr die Concierge fort, »die Person, welche zweimal gekommen ist, – denn sie ist zweimal gekommen: einmal um Mittag, und das andere Mal um vier Uhr; – die Person, welche zweimal gekommen ist, ist mager und kahl. Es ist ein Mann von ungefähr sechzig Jahren, mit kleinen, wie die eines Maulwurfs tief im Kopfe liegenden Augen und ganz krankem Aussehen. Sie werden ihn übrigens wahrscheinlich sogleich sehen, denn er hat gesagt, er wolle einen Gang machen und werde dann wiederkommen . . . Soll ich ihn herauflassen?«
»Gewiß,« erwiderte der Abbé zerstreut; denn in diesem Augenblicke war ihm an nichts gelegen, als an dem, was von seinem Vater kam.
Und er nahm seinen Schlüssel und schickte sich an, hinaufzugehen.
»Aber,« sagte die gute Frau, »Herr Abbé . . . «
»Was?«
»Sie haben also auswärts gefrühstückt?«
»Nein,« antwortete der Abbé, den Kopf schüttelnd.
»Als o haben Sie den ganzen Tag nichts gegessen?«
»Ich habe nicht daran gedacht. Sie werden mir etwas beim Restaurateur holen . . . was Ihnen beliebt.«
»Wenn der Herr Abbé wollte,« sagte die gute Frau, indem sie einen Blick auf ihren Ofen warf, »ich habe einmal eine gute Fleischbrühe . . . «
»Wohl!«
»Sodann würde ich ein paar Cotelettes auf den Rost legen; das wäre für den Herrn Abbé viel besser als Fleisch vom Restaurateur.«
»Thun Sie, was Sie wollen.«
»Ja fünf Minuten werden die Fleischbrühe und die Cotelettes bei Ihnen sein.«
Der Abbé nickte beipflichtend mit dem Kopfe und ging die Treppe hinauf. Als er in sein Zimmer eintrat, öffnete er das Fenster. Die letzten Strahlen der untergehenden Sonne glitten golden durch die Zweige der Bäume des Luxembourg, deren Knospen zu schwellen anfingen.
Es war in der Luft der in’s Veilchenblaue spielende kleine Nebel, der das Herannahen des Frühlings verkündigt.
Der Abbé setzte sich, stützte seinen Ellenbogen auf das Fenstergesims, schaute und horchte auf die Schwärme von Sperlingen, welche zwitscherten, ehe sie in ihre Hagebuchen zurückkehrten.
Die Concierge, wie sie es zu thun versprochen, brachte die Fleischbrühe und die zwei Cotelettes herauf; ohne den Mönch in seiner Meditation zu stören, denn sie war gewohnt, ihn so meditieren zu sehen, setzte sie sodann den Tisch vor ihn, und auf den Tisch sein Mittagsbrod.
Der Abbé hatte die Gewohnheit angenommen, Brod auf sein Fenster zu zerkrümeln, und an dieses Bettelgeschenk gewöhnt, eilten die Vögel herbei wie römische Clienten zur Thüre von Lucullus oder von Cäsar.
Einen Monat lang war das Fenster geschlossen geblieben; einen Monat lang hatten die Vögel vergebens ihrem Freunde gerufen; einen Monat lang hatten sie sich vergebens auf den äußeren Rand dieses Fensters gesetzt und neugierig durch die Scheide geschaut.
Das Zimmer war leer: der Abbé Dominique war in Penhoël.
Als aber die Vögel das Fenster offen sahen, da verdoppelte sich ihr Geschwätz. Man hätte glauben sollen, sie verkündigen einander die frohe Neuigkeit. Endlich wagten es einige von ihnen, mit besserem Gedächtnisse, um den Mönch zu flattern.
Das Geräusch der Flügel entzog ihn seiner Träumerei.
»Ah!« sagte er, »arme Kleine, ich vergaß euch, und ihr erinnert euch; ihr seid besser als ich.«
Und er nahm sein Brod, wie er es früher gethan, und zerkrümelte es auf das Fenster.
Sogleich waren es nicht mehr zwei oder drei kühne Sperlinge, die sich zu nähern wagten: es war der ganze Flug seiner alten Pensionäre, der um ihn wirbelte.
»Frei, frei, frei!« murmelte Dominique; »ihr seid frei, reizende Vögel», und mein Vater, er ist Gefangener!«
Und er fiel in seinen Lehnstuhl zurück, wo er einige Augenblicke in eine tiefe Träumerei versenkt blieb.
Dann trank er endlich maschinenmäßig seine Fleischbrühe und aß seine Cotelettes mit der Kruste von dem Brode, von dem er die Krume den Vögeln gegeben hatte.
Die Sonne sank indessen immer tiefer gegen den Horizont; sie vergoldete nur noch das äußerste Ende der Zweige und die Spitzen der Kantine. Die kleinen Vögel waren entflogen, und man hörte in der Ferne, in den Hagebuchen, ihr Geschwätz, das mehr und mehr erlosch.
Immer maschinenmäßig, streckte Dominique die Hand aus und entfaltete sein Journal.
Die zwei ersten Colonnen enthielten die wortreiche Erzählung der Ereignisse des vorhergehenden Tages. Der Abbé Dominique, der wenigstens eben so gut, als ein Journal des Ministeriums wußte, woran er sich in dieser Hinsicht zu halten hatte, übersprang die zwei Colonnen; als er aber zur dritten kam, zog es wie eine Blendung vor seinen Augen vorüber; sein ganzer Leib zitterte, ein Schauer lief in ihm vom Kopfe bis zu den Füßen, ein kalter Schweiß überströmte seine Stirne: er hatte dreimal wiederholt, ehe er etwas gelesen, seinen Namen oder vielmehr den seines Vaters gesehen.
Aus welcher Veranlassung war der Name von Herrn Sarranti dreimal in den Colonnen dieses Journals wiederholt?
Der arme Dominique hatte eine Erschütterung empfunden ähnlich der, welche die Gäste von Balthasar treffen mußte, als die unsichtbare Hand mit Flammenschrift die drei tödtlichen Worte an die Wand schrieb.
Er rieb sich die Augen, als blendete ihn ein Blutbild; er versuchte es, zu lesen, doch die Zeitung zitterte dergestalt in seinen beiden Händen, daß die Linien ihm blendend schillerten wie der Reflex eines Spiegels, den man bewegt.
Endlich breitete er das Blatt auf seinem Schooße aus, befestigte es auf beiden Seiten mit seinen Händen, und las beim letzten Scheine des Tages.
Sie errathen, nicht wahr, was er las? Er las die in die Journale eingerückte entsetzliche Notiz, die wir Ihnen vor Augen gelegt haben; die Notiz, in der sein Vater des Diebstahls und des Mordes eingeklagt war.
Der Blitz hätte nicht so ungeschlacht und so tödtlich einen Menschen niedergeschmettert, als es dieser erschreckliche Artikel that:
Plötzlich aber sprang er von seinem Stuhle an seinen Secretär und rief:
»Ab! Gott sei gelobt! Diese Verleumdung, mein Vater, wird in die Hölle zurückkehren, von der sie ausgegangen ist!«
Und er nahm aus der Schublade das uns bekannte Papier, die geschriebene Beichte von Herrn Gérard.
Er drückte heiße Küsse auf die Rolle, welche das Leben eines Menschen enthielt ; mehr als sein Leben, seine Ehre! – die Ehre seines Vaters!
Er öffnete sie, um sich zu versichern, es sei wirklich die kostbare Rolle, und er täusche sich nicht in seiner Hast; und als er die Handschrift erkannt und den Namen, mit dem sie unterzeichnet war, wieder gelesen hatte, küßte er sie aufs Neue; dann schob er sie unter seinen Rock, preßte sie an seine Brust, verließ das Zimmer, schloß die Thüre und stieg rasch die Treppe hinab.
Ein Mann stieg die Treppe zu gleicher Zeit herauf, da der Abbé Dominique hinabging. Doch der Abbé Dominique schenkte diesem Manne keine Aufmerksamkeit; er ging an ihm vorüber, ohne ihn zu bemerken, beinahe ohne ihn zu sehen, als er sich am Aermel seines Rockes zurückgehalten fühlte.
»Verzeihen Sie, Herr Abbé,« sagte derjenige, welcher ihn zurückhielt, »ich ging zu Ihnen.«
Der Ton dieser Stimme machte Dominique beben; sie war ihm nicht unbekannt.
»Zu mir? . . . Später,« erwiderte Dominique; »ich habe nicht Zeit, wieder hinaufzugehen.«
»Und ich habe keine, wiederzukommen,« sprach der Mann, indem er diesmal den Arm des Mönches mit dem Aermel ergriff.
Dominique fühlte etwas wie einen tiefen Schrecken auf sich niederfallen.
Diese eisernen Hände, die ihm den Arm zusammendrückten, schienen die Hände eines Skelettes zu sein.
Er suchte denjenigen zu sehen, welcher ihn so auf seinem Wege aufhielt; doch die Treppe war in der Finsternis, ein einziger Strahl des Tages drang durch ein Ochsenauge ein und beleuchtete einen schmalen Raum.
»Wer sind Sie, und was weilen Sie von mir?« fragte der Mönch, der seinen Arm vergebens loszumachen suchte.
»Ich bin Herr Gérard,« erwiderte der Mann, »und ich komme wegen des Bewußten.«
Dominique stieß einen Schrei aus.
Doch die Sache schien ihm so unmöglich, daß er, ehe er daran glaubte, dem Zeugnisse seiner Ohren das Zeugniß seiner Augen beifügen wollte.
Er nahm den Mann nun auch bei beiden Armen, und sprang mit ihm bis in den röthlichen Strahl, den einzigen, der die Treppe beleuchtete.
Der Kopf des Gespenstes befand sich im Lichte.
Es war in der That Herr Gérard.
Der Abbé wich, das Auge erschrocken, die Haare zu Berge stehend, seine Kinnbacken an einander klappernd, bis an die Wand zurück.
Hier blieb er in der Haltung eines Mannes, der einen Leichnam in seinem Sarge sich würde erheben sehen, und ließ mit einer dumpfen Stimme das einzige Wort entschlüpfen:
»Lebendig!«
»Allerdings lebendig,« sagte Herr Gérard. »Gott hat Mitleid mit meiner Reue gehabt und mir einen guten, jungen Arzt geschickt, durch den ich geheilt worden bin.«
»Sie?« rief der Abbé, der sich einem entsetzlichen Traume preisgegeben glaubte.
»Nun wohl« ja. Ich begreife, daß Sie mich für todt gehalten haben, doch ich bin es nicht.«
»Sind Sie schon zweimal heute hier gewesen?«
»Und ich komme zum dritten Male . . . Ich wäre zehnmal gekommen; Sie begreifen, es lag mir daran, daß Sie mich nicht fortwährend für todt hielten.«
»Doch warum eher heute, als an einem andern Tage?« fragte maschinenmäßig der Abbé, indem er den Mörder mit starren Augen anschaute.
»Sie haben also die Zeitungen nicht gelesen?« sagte Herr Gérard.
»Doch, ich habe sie gelesen,« antwortete mit dumpfer Stimme der Mönch, der den Abgrund, vor dem er sich fand, zu ermessen anfing.
»Wenn Sie sie gelesen haben, so müssen Sie den Zweck meines Besuches begreifen.«
Dominique begriff in der That, und ein kalter Schweiß floß über seinen ganzen Leib.
»Da ich lebe,« fuhr Herr Gérard, die Stimme dämpfend, fort, »so ist meine Beichte nichtig.«
»Richtig?« wiederholte maschinenmäßig der Mönch.
»Ja, ist es nicht den Priestern bei Strafe ewiger Verdammnis verboten, die Beichte zu offenbaren, ohne die Erlaubnis des Beichtenden erhalten zu haben?«
»Diese Erlaubnis haben Sie mir gegeben,« rief der Mönch.
»Wenn ich todt wäre, ja, allerdings: doch da ich lebe, nehme ich sie zurück.«
»Unglücklicher!« rief der Mönch, »und mein Vater ?«
»Er vertheidige sich, er klage mich an, er beweise; doch Sie Beichtvater, Stille!«
»Es ist gut!« sagte Dominique, einsehend, daß er sich nicht gegen ein Verhängniß sträuben konnte, das sich ihm unter der Form von einem der Grunddogmen der Kirche bot , »es ist gut, Elender! Ich werde schweigen!«
Und mit der Hand Gérard zurückstoßend, machte er eine Bewegung, um wieder in seine Wohnung hinaufzugehen.
Doch Herr Gérard klammerte sich an ihn an.
»Was wollen Sie noch von mir?« fragte der Mönch.
»Was ich will?« sagte der Mörder. »Ich will das Papier, das ich Ihnen in einem Augenblicke des Deliriums gegeben habe.«
Dominique drückte seine beiden Hände an seine Brust.
»Sie haben es,« rief Gérard; »es ist da . . . geben Sie es mir zurück.«
Und der Mönch fühlte aufs Neue an seinem Arme den Druck der eisernen Hand, während der ausgestreckte Finger des Mörders beinahe das Manuscript berührte.
»Ja, es ist da,« sprach der Abbé Dominique; »doch wo es ist, da wird es, ich schwöre es bei meinem Priesterworte, auch bleiben.«
»Sie würden also Ihren Eid brechen? Sie würden also die Beichte offenbaren?«
»Ich habe Ihnen gesagt, ich nehme den Vertrag an, und so lange Sie leben, werde ich schweigen.«
»Warum behalten Sie dann dieses Papier?«
»Weil Gott gerecht ist; weil es, durch Zufall oder durch Gerechtigkeit, sein kann, daß Sie während des Processes meines Vaters sterben, weil ich endlich, ist mein Vater verurtheilt, auf dem Schaffot zu sterben, dieses Papier gegen Gott erheben und sprechen werde: »»Herr, der Du das höchste Wesen und der gerechte Gott bist, schlage den Schuldigen und rette den Unschuldigen!«« Das, Elender, ist mein Menschen- und Priesterrecht, und ich werde von meinem Rechte Gebrauch machen.«
Hierauf schob er Herrn Gérard, der sich vor ihn gestellt hatte, als wollte er ihm den Weg versperren, heftig beiseit, ging die Treppe hinauf, dem Mörder durch eine gebieterische Geberde verbietend, ihm zu folgen, trat in seine Wohnung ein, deren Thüre er schloß, fiel vor einem Crucifix auf die Kniee und sprach:
»Mein Gott und-Herr, Du, der Du Alles siehst, Du, der Du Alles hörst, Du hast so eben gesehen und gehört, was vorgefallen ist; mein Gott und Herr, es wäre eine Ruchlosigkeit, die Hand der Menschen bei Allein dem anzurufen . . . Dir die Gerechtigkeit!«
Dann fügte er mit dumpfem Tone bei:
»Und übst Du nicht Gerechtigkeit, mir die Rache!«