Читать книгу Krimi Koffer September 2021 - 7 Krimis auf 1000 Seiten - Alfred Bekker - Страница 35

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Henry Masson redete über eine halbe Stunde lang. Als er endete, war Hagar Wyngate mehr als verwirrt. Nachdenklich sagte er: „Jetzt verstehe ich einiges!“

„Zum Beispiel?“

„Die Anwesenheit des K’erubyjn hier in diesen Räumen, was nur einen möglichen Schluss zulässt.“

„Und der wäre?“

„Ich kenne Sie, Mister Masson, als einen der engsten Vertrauten des Präsidenten. Ich weiß ferner durch verschiedene Beobachtungen, dass wir uns hier im National Building befinden. Dies zusammengezählt, ergibt die Tatsache, dass sich die Regierung über das Veto der Raumbehörde hinweggesetzt hat und von sich aus in Verhandlungen mit den K’erubyjns getreten ist.“

„Kluger Bursche“, murmelte Edward Carth. „Fast zu klug.“

„Aber das allein ist doch nicht der eigentliche Grund Ihrer Sorge, Sir?“ Fragend blickte Hagar auf Masson.

„Ganz recht, wir befürchten ein Attentat.“

„Ein Attentat auf den Botschafter von Garm?“ Hagar war überrascht. „Das kann ich nicht glauben!“

„Es ist so“, bekräftige Henry Masson voller Sorge. „Und Sie werden sich vorstellen können, was das Gelingen eines solchen Mordanschlages für Auswirkungen auf die zukünftigen Beziehungen der Föderation zum Reich der K’erubyjns haben wird. Deshalb wiederhole ich meine Bitte: Lassen Sie sich mittels einer Droge aushorchen!“

Hagar stützte das Kinn in die rechte Hand. Sein Blick war zu Boden gerichtet, als ob es dort etwas zu sehen gäbe — außer dem Muster des Teppichs.

„Wer“, erkundigte er sich, „könnte ein Interesse an einem Nichtzustandekommen des Friedensvertrages haben?“ Masson warf ihm einen forschenden Blick zu. „Wir wissen es“, sagte er, „aber wir können nichts unternehmen, ehe wir nicht einwandfreie Beweise in den Händen haben. Beweise, die zu liefern nur Sie imstande sind. Mehr dürfen wir im Augenblick nicht sagen.“

„Worauf warten wir also dann noch?“ Für einen Moment schien Masson verwirrt über die plötzliche Zusage, dann schlug seine Hand eine Glocke.

Auf der Glasplatte des Tisches erschien ein weißes Rechteck. Ein Gesicht blickte von der Bildfläche, eine Stimme sagte: „Sir?“

„Mannings! Würden Sie bitte Doktor Randell verständigen. Wir sind in Zimmer 350.“

„Sofort, Sir.“

Kurze Zeit später teilte sich der goldfarbene Samt einer schweren Portiere, hinter der Hagar niemals eine Tür vermutet hätte. Ein Mann in einem Abendanzug der neuesten Mode kam herein; enge, weiße Hosen, die in weichen Stiefeln steckten. Eine altrosafarbene Weste mit einer Doppelreihe von silbernen Knöpfen und darüber eine kurze Torerojacke, ebenfalls in Weiß. Aus den Ärmeln und dem Halsausschnitt quollen gefältelte Spitzen. Das Ganze krönte der purpurne Umhang des Corps Diplomatique.

Randell hatte um die Hüften schon etwas Fett angesetzt. Sein Haar war weiß und straff an den Kopf gekämmt. Um die Augen hatte er eine Unmenge von Fältchen.

„Darf ich bekannt machen?“, erhob sich Masson. „Doktor William Randell — Mister Wyngate.“

„Bleiben Sie sitzen, junger Mann“, rief Randell mit jovialer Bassstimme und ließ sich neben Hagar, der gar nicht daran dachte, aufzustehen, in einen Sessel fallen. Randell reichte ihm eine kräftige, dicht behaarte Hand. Dann wandte er sich an Masson.

„Was gibt es, Henry?“, erkundigte er sich.

„Bill, wir benötigen dich zu einer Sitzung“, gab Masson zur Antwort.

„Sitzung? Ahh, ich verstehe! Wer ist der Auserwählte?“

„Er sitzt neben dir.“

„Ist er einverstanden?“

„Aber ja, Bill.“ Bill Randell wandte sich jetzt an Hagar und fragte:

„Sind Sie bereit?“

Hagar nickte. Sein Mund fühlte sich trocken an, seine Lungen gierten nach einer Zigarette. Seine Stimme klang rau, als er sich erkundigte: „Habe ich etwas Besonderes zu tun?“

„Ich glaube nicht“, erwiderte Randell, „oder?“ Er sah Henry Masson und Carth fragend an.

Masson sagte: „Sie legen sich am besten auf diese Couch hier, mehr ist dazu nicht nötig.“

Als Hagar sich niederlegte, fühlte er sein Herz hart und schwer schlagen. Angst erfüllte ihn. Aber tapfer unterdrückte er den Wunsch, aufzuspringen und wegzulaufen.

Den Einstich merkte er überhaupt nicht; die winzige Injektionspistole, die Doktor Randell ihm gegen den Oberarm drückte, presste das Serum völlig schmerzfrei durch Stoff und Haut.

Hagar wurde gewahr, dass ihn Müdigkeit und Ruhe überkamen. Er spürte Wärme in sich, die sich schnell über seinen ganzen Körper ausbreitete. William Randells halblaute, monotone Stimme versetzte ihn in Trance. — Hagars Augen schlossen sich.

Er erwachte und hörte eine laute Stimme ...

„Es wäre auch zu schön gewesen“, sagte sie mit einem Seufzer, in dem große Enttäuschung lag. „Oder glauben Sie, dass er uns etwas vormacht?“

„Ein Mann in seinem Zustand kann keinem etwas vormachen“, ertönte eine andere Stimme. „Aber still jetzt! Er erwacht.“

Noch etwas benommen setzte sich Hagar auf. Sein Blick fiel auf Henry Masson, dessen Gesicht, wie stets, nichts verriet, dann betrachtete er Carths blutleeres Gesicht. Die dunklen Augen brannten vor Enttäuschung.

„Was ist geschehen?“, fragte Hagar. Seine Stimme schwankte noch etwas. Nur langsam ließ die Wirkung der Droge nach.

„Nichts“, entgegnete Masson.

„Wie?“ Hagar hob erstaunt die rechte Augenbraue.

William Randell legte ihm seine große Hand auf die Schulter und sagte ungewöhnlich ernst: „Mein Sohn fiel ebenfalls auf Helgijor — erst jetzt weiß ich, dass dort wirklich die Hölle war.“

„Sie haben ...“

„Ja, wir haben alles über Helgijor erfahren“, wurde Hagar von Randell unterbrochen. „Und noch einiges mehr.“

„Nur nicht das, was wir wissen wollten“, mischte sich Edward Carth ins Gespräch.

„Was heißt das?“ Fragend blickte Hagar auf Randell.

„Es heißt, dass das Wort Honvath für Sie tatsächlich von so geringer Bedeutung sein muss, dass Sie es gründlicher vergessen haben als manch andere Dinge, die wir aus dieser Zeit herausholen konnten. Dennoch muss dieses vertrackte Wort ein Synonym für etwas sein, das auch Ihnen einmal bekannt war. Weshalb sonst hätte es Jacyna in Zusammenhang mit Ihrem Namen gebracht?“

„Etwas konfus, das Ganze!“ Hagar setzte sich auf und ordnete seine Kleidung. Mit einem dankbaren Blick nahm er ein gefülltes Glas aus Massons Händen; der Alkohol tat gut.

„Nur für Sie“, widersprach Randell. „Für uns ist klar, dass Benn Jacyna mit der Erwähnung dieses Wortes auf etwas hinweisen wollte, das nur Ihnen und ihm bekannt sein muss, sonst hätte er nämlich einen anderen Ausdruck gewählt, denn in dieser Hinsicht war er die Vorsicht in Person. Wie konnte er jemals ahnen, dass gerade Sie diesen versteckten Inhalt vergessen haben!“ Randell lachte bitter auf.

„Was nun?“, erkundigte sich Hagar und legte die Hände auf die Knie.

„Es gibt nur eine Möglichkeit, Ihnen die Bedeutung des Wortes Honvath in Erinnerung zu rufen.“

„Ja?“

„Sie müssten sich in den folgenden Tagen einer wiederholten Befragung unterziehen, damit Stück für Stück der Schleier gelüftet werden kann. Ich bin sicher, dass wir Erfolg haben werden. Ganz sicher“, bekräftigte er, als er den skeptischen Ausdruck auf Hagars Gesicht bemerkte.

„Muss das sein?“, erkundigte sich Hagar.

„Die Zeit drängt, Mister Wyngate“, antwortete Henry Masson. „Wir wissen nicht, wann das Attentat geschieht. Wir kennen den Ort nicht, und außerdem haben wir auch keinerlei Anhaltspunkte, wer der Mörder sein könnte und wann er zuschlägt. Es kann täglich, ja stündlich geschehen.“

„Am besten. Sie behalten mich gleich hier“, sagte Hagar spöttisch.

„Was meinst du, Bill?“, wandte sich Masson an den Psychoanalytiker. „Sollen wir ihn ...“

„Um Himmels willen“, rief Hagar dazwischen. „Bilden Sie sich vielleicht ein, dass ich das im Ernst gemeint habe?“

„Nein?“ Masson war enttäuscht.

„Nein, und nochmals nein“, erklärte Hagar. „Ich bin zwar bereit, jeden Tag einige Stunden meiner kostbaren Zeit für Sie zu opfern — ansonsten aber muss ich meine vier Wände um mich haben.“

„Was meinen Sie, Edward“, wandte sich Masson an Carth. „Können wir es riskieren, ihn frei herumlaufen zu lassen?“

Carth zuckte mit den Schultern. „Weshalb nicht? Es ist alles getan worden, um geheimzuhalten, dass Jacyna noch vor seinem Tod fähig war, eine Nachricht zu schreiben. Solange das den anderen nicht bekannt ist, dürfte Mister Wyngate relativ sicher sein.“

Es gab nichts mehr zu sagen.

*

Der Wind kam von den fernen Bergen. Er heulte durch die steinernen Schluchten und wirbelte Papier und Unrat zusammen.

Noch immer war das sanfte Rauschen zu hören, das der Gleiter verursachte, der Hagar abgesetzt hatte. Hagar warf den Kopf in den Nacken und erblickte den rechteckigen Schatten, der weit über seinem Kopf durch den lichterfüllten Raum der oberen Stadt flog und wenig später verschwunden war.

Hagar stand einige Minuten bewegungslos. Dann senkte er den Kopf. Fröstelnd zog er die breiten Schultern unter dem dünnen Smoking ein und schritt zielstrebig voran. Er hatte Hunger, außerdem spürte er Verlangen nach einer Tasse heißen Kaffees.

Nur wenig später erreichte er eine der schwach glühenden Liftsäulen. Schnell schwebte er in dem Feld empor und schwang sich dann in der dritten Straßenetage geschickt aus dem Sog.

Mit weit ausgreifenden Schritten eilte er zum Expressband. Der Wind zerrte an ihm, während er in schneller Fahrt auf der sich zwischen den Wolkenkratzern dahinschwingenden Hochstraße dem noch fernen Campell Village zustrebte, wo er eine kleine Wohnung hatte.

Edward Carth hatte es für richtig gehalten, ihn, Hagar, nicht zu nahe seiner Wohnung abzusetzen. Weshalb, blieb Hagar unerklärlich.

Auf der rollenden Straße war kaum jemand zu erblicken.

Hagar versank ins Grübeln, und seine Erinnerungen glitten weit zurück in die Vergangenheit.

Hagar war zwanzig Jahre alt und am Anfang einer glänzenden Karriere als Triebwerk-Ingenieur gewesen, als der Krieg zwischen Garm und der terranischen Föderation ausbrach und alle Hoffnungen zerschlug.

Jahre des Grauens folgten; eines Grauens, wie es nur der erbarmungslose Krieg im Raum hervorbrachte.

Während die Männer in voller Kampfausrüstung — stählernen Ungeheuern gleich — aus den Leibern der Schiffe fielen und wie räuberische Insekten den in Agonie liegenden Planeten heimsuchten, hielt der Tod reiche Ernte unter ihnen.

Unzählige dieser Übernahmen von Welten hatte Hagar miterlebt; sein Haar war vorzeitig grau geworden, und jede menschliche Regung war ihm nahezu abhanden gekommen.

Dann, nach neunzehn langen Jahren, bei der Eroberung von Helgijor, kam das Ende des Krieges für Hagar Wyngate.

Helgijor!

Nur ein Name? Nein! Es war mehr, viel mehr.

Es war die Erinnerung an eine Hölle.

Helgijor war eine Welt der Föderation und stellte außerdem noch eine der wichtigsten Schlüsselpositionen im galaktischen Krieg dar. Sie beschützte einen der meist frequentiertesten Transitionspunkte, durch den die Handelsflotte Erzeugnisse der Kolonialwelten ins Innere der Föderation brachte.

Und dieser Schutz bestand hauptsächlich in dem gewaltigen planetaren Fort, das das ganze System einer kleinen, nur mit Katalognummern bezeichneten Sonne mit seinen Interzeptorschiffen unter Kontrolle hatte. Es war eine fast unvorstellbare und nahezu vollautomatische Kriegsmaschine, die tadellos funktionierte — bis sie sich auf einmal gegen die Föderationsschiffe wandte und ein heilloses Durcheinander verursachte.

Den K’erubyjns war es gelungen, mit einem Korps ausgesuchter Spezialisten in einem überraschenden Handstreich in das Fort einzudringen und dessen Verteidigungsmechanismus umzuschalten.

Sechs Raumlandeverbände wurden bei dem Versuch aufgerieben, Helgijor und das Fort unter erneute Kontrolle zu bringen, dem siebten Verband gehörte Hagar an.

Von diesem Verband, der immerhin achthundert ausgebildete Soldaten umfasste, lebten nur noch siebzig Mann, als es ihnen gelang, endlich durch eine Raketenpforte in das Fort einzudringen.

Dann begann ein vierzehntägiger Kampf. Erbittert wurde um jeden Meter Boden gerungen.

Als das Fort sich endlich wieder in den Händen der Raumsoldaten befand und das Feuer gegen die Schilfe der Föderation einstellte, fand man bei einem schnell geführten Landemanöver nur noch achtzehn Mann vor — alle anderen waren tot.

Für die achtzehn Überlebenden veranstaltete man eine große Staatsfeier, bei der sie zu Helden erklärt wurden. Für Hagar aber wog die Tatsache, dass für ihn der Krieg aus war, viel schwerer als alle Ehren. Die Verwundungen, die er erlitten hatte, beendeten seine Laufbahn als Raumsoldat ...

Nur langsam fand Hagar in die Wirklichkeit zurück. Mühsam schüttelte er die Erinnerungen ab. Er spürte, dass er in Schweiß gebadet war und am ganzen Körper zitterte.

Held der Nation! Hagar fühlte Bitterkeit in sich aufsteigen.

Der Ruhm war schnell vergangen, zu schnell. Was blieb, war die Einsamkeit des in der Anonymität der Massen untertauchenden Veteranen, war eine monatliche Zuwendung vom Veteranenverband und eine kleine Wohnung.

Zwei Jahre waren seit der Zeit vergangen.

Was hatte er in den vergangenen Wochen und Monaten nicht alles versucht, um sich wenigstens einige der Annehmlichkeiten leisten zu können, ohne die ein zivilisierter Mensch nun einmal nicht sein mag.

Mit zweiundvierzig Jahren hatte er Arbeiten ausgeführt, die er vor seiner Vereidigung als Raumsoldat entrüstet von sich gewiesen hätte. Zur Zeit arbeitete er für einen Verlag als Zeichner — die Bezahlung war schlecht.

Ein fernes Rumoren riss ihn aus seinen trüben Gedanken. Er blickte nach Süden. Dort, wo der Raumhafen lag, sah er vier blendende Feuerpfeile in den Himmel steigen, und die flammenden Sonnen am Heck der Raumer überfluteten Stadt und Land mit purpurnem Schein.

Im Osten begann es zu tagen.

Die rollende Straße bewegte sich längst nicht mehr in luftiger Höhe, sondern lief einen Hügelkamm hinauf. Hagar sah die gewaltige Stadt unter sich liegen — halb verdeckt von den Morgennebeln.

Vor ihm tauchte Campell Village auf — ein riesiger Wohnsilo.

Müde stolperte Hagar von den Rollbändern, schritt quer über den zerrupften Rasen auf die Eingangshalle zu. Der Portier, ein alter Veteran, der zwei künstliche Arme hatte, schlief mit offenem Mund in seiner Loge. Hagar glitt in seiner Liftsäule schnell nach oben ins dreiundfünfzigste Stockwerk.

Sein Appartement war klein. Es besaß einen kleinen Flur, eine noch kleinere Kochnische, Bad und Toilette, ein Schlafzimmer, in dem man sich gerade noch umdrehen konnte, und ein annehmbares Wohnzimmer mit einem herrlichen Blick auf die fernen Berge vervollständigten Hagars Wohnung.

Er schloss mit schmerzendem Kopf die Tür hinter sich, ging ins Schlafzimmer und entledigte sich des zerknitterten Smokings. Achtlos warf er alles über die Lehne eines rot lackierten Holzstuhles. Dann schritt er zum eingebauten Schrank, nahm einen overallähnlichen Anzug heraus, der aus weichem Leder gefertigt war, und legte ihn aufs Bett. Plötzlich wurde er gewahr, dass er großen Durst hatte.

Er verließ, nur mit einer kurzen Tunika bekleidet, auf unsicheren Beinen das Schlafzimmer.

In dem kleinen Flur war es dunkel. Mit den Händen an der Wand entlangtastend, suchte er die Küche zu erreichen. Dann spürte er links die Pendeltür des Bades. Einer plötzlichen Eingebung folgend, ging er hinein, warf eine Münze in den Automaten und hielt den schmerzenden Kopf unter den Kaltwasserhahn. Das eisige Wasser war wie ein Schock. Das Gefühl der Übelkeit ließ nach.

Hagar trocknete sich mit einem Papierhandtuch ab, knüllte das nasse Tuch zusammen, warf es in den Müllschacht, trat aus dem Bad hinaus und ging zurück ins Schlafzimmer.

Als er den Anzug übergezogen und bequeme Mokassins an den nackten Füßen hatte, ging er in die Küche. Wenig später schritt er ins Wohnzimmer, ein großes Glas Orangensaft in der einen, ein dick belegtes Sandwich in der anderen Hand haltend.

Der im Osten aufziehende Tag erzeugte ein diffuses Licht, das durch das breite Fenster drang. Mit einem sanften Laut schlug die von Hagars Fuß aufgestoßene Tür gegen die Wand.

Einen Augenblick zögerte er. Etwas störte ihn. Er überlegte, versuchte sich zu erinnern, was falsch war an dem Zimmer, während ein Gefühl des Unbehagens sich in ihm ausbreitete.

Zögernd ging er weiter, quer durch das Zimmer hinüber zur Liege. Da erkannte er sie! Aber nun war es zu spät, etwas zu unternehmen.

„Bleiben Sie so stehen“, forderte sie ihn auf, und in ihrer Stimme war nichts von Sanftheit zu spüren. „Lassen Sie Ihre Hände keine Ausflüge unternehmen — wenn Sie möchten, dass Sie Ihr Sandwich noch essen können.“

Sie bewegte sich an der Wand entlang, die Deckenbeleuchtung flammte auf. Hagar blinzelte in dem hellen Licht, während ihn noch immer Verwunderung erfüllte.

Er stand dem Mädchen aus dem Klub gegenüber. Nur dass sie diesmal kein kobaltblaues Kleid trug, sondern einen hautengen Anzug aus dunklem Material, der ihre Figur voll zur Geltung brachte, das offene Haar wurde durch ein Band zusammengehalten.

Ihre rechte Hand hielt einen Nadler direkt auf Hagar gerichtet. Der überlange Lauf garantierte größte Treffsicherheit auch auf weite Entfernungen. Hagar kannte die Waffe aus seiner Soldatenzeit und wusste, wie schnell man mit ihr zu schießen vermochte.

Dann wurde er sich bewusst, dass er noch immer starr inmitten des Raumes stand, mit ausgestreckten Armen, die langsam zu schmerzen anfingen.

„Was soll der Unfug?“, fragte er und machte einen Schritt auf das Mädchen zu.

„Keine Bewegung!“, sagte sie scharf.

„Ach, gehen Sie doch zur Hölle“, murmelte Hagar unfreundlich.

„Ich nicht, aber Sie ...“

„Sie erlauben, dass ich mich setze?“, fragte er höhnisch, aber seine Stimme klang rau und müde.

„Tun Sie sich keinen Zwang an“, entgegnete sie zynisch. „Fühlen Sie sich hier wie zu Hause.“

„Nein!“, rief Hagar entsetzt. „Nicht auch noch witzig werden! Das ist das Letzte, das ich jetzt vertragen könnte.“ Er trat einige Schritte vor und ließ sich in einen Sessel fallen.

Er lehnte sich zurück, blickte suchend im Zimmer umher und fragte schließlich: „Wo ist denn Ihr kleiner Bruder? Ich kann ihn nirgends entdecken. Oder sollten Sie am Ende doch allein gekommen sein?“

Hagar sah, wie sie sich mit der Zunge über die Lippen fuhr. Dann antwortete sie:

„Der dumme Kerl befindet sich zur Zeit in ärztlicher Behandlung. Sie haben ihm den Unterkiefer zerschmettert.“

„Ts, ts“, Hagar wiegte bedauernd den Schädel. „Er musste sich ja in alles einmischen.“

„Ich an Ihrer Stelle würde mir lieber überlegen, welches Gebet zu sprechen wäre, anstatt Witze zu machen.“

Hagar erhob sich halb. Im gleichen Moment warf ihn ein Schlag zurück in den Sessel, sie hatte den Abzug durchgerissen, und der lange Lauf spuckte mit einem scharfen Pflop eine zentimeterlange und elf Millimeter starke Stahlnadel aus, die ihm den Oberarm zu zerreißen schien. Hagar stöhnte auf.

„Haben Sie sich nicht so“, höhnte das Mädchen. „Die Nadel hat nur den Stoff durchfetzt. Das, was Sie spürten, war nichts anderes als die kinetische Energie, die die Nadel beim Durchschlagen entwickelte. Sind alle Männer so empfindlich? Und jetzt muss ich bitten, keine schnellen Bewegungen mehr zu machen! Das nächste Mal halte ich ein wenig mehr nach links. Nur damit wir uns verstehen.“

Hagar fluchte grimmig in sich hinein. Er wusste, dass sie es ernst meinte. Langsam lehnte er sich zurück und legte beide Hände auf die Armlehnen.

„Was also wollen Sie von mir?“

„Ich überlege gerade, ob ich Sie schnell oder langsam sterben lassen soll!“

„Ausgezeichnet! Darf ich Ihnen bei der Auswahl behilflich sein?“

Sie war durch nichts aus der Fassung zu bringen. Sie sagte: „Das ist kein Scherz, Mister Wyngate! Auch kein Spiel, falls Ihnen das noch nicht aufgegangen ist, und diese Waffe hier ist echt.“

„Dann sagen Sie mir endlich, was Sie von mir wollen.“

„Sie haben meinen Vater getötet, deshalb werden auch Sie sterben.“

„Was soll ich?“, fragte Hagar ungläubig.

„Sie haben meinen Vater getötet“, wiederholte sie mit flacher Stimme.

Hagar fragte verwirrt: „Kenne ich ihn überhaupt?“

„Ich denke schon“, antwortete sie, und der Schmerz verdunkelte ihre Augen.

„Wer sind Sie?“

Hagar beugte sich weit vor, während er das Mädchen anstarrte, kam ihm ein ungeheurer Verdacht.

„Ich bin Sayward Jacyna. Bestreiten Sie noch immer, meinen Vater nicht zu kennen? Ihn nicht umgebracht zu haben?“

Ihre Worte trafen Hagar wie Peitschenschläge. „Wie haben Sie davon erfahren?“, murmelte er, während er sich noch immer mit dem Gedanken abzufinden versuchte, dass dieses Mädchen Benns Tochter war.

Sie zögerte nur einen kurzen Moment. Dann sagte sie: „Jemand hat mich angerufen.“

„Wer?“

„Der Bildschirm blieb dabei dunkel, daher konnte ich ihn nicht erkennen.“

„Also eine Männerstimme?“

Sie nickte. Dann kamen wieder Misstrauen und Kälte in ihren Blick. „Hören Sie“, sagte sie, „wenn Sie glauben, mich ablenken zu können, dann irren Sie sich ganz gewaltig. Sie sind der Mörder meines Vaters.“

„Und woher nehmen Sie die Gewissheit, dass ich der Mörder Ihres Vaters bin?“

„Man berichtete mir von einem Namen, den Vater noch vor seinem Ende hatte auf einen Fetzen Papier schreiben können — Ihren Namen, Mister Wyngate.“ Ihre Augen waren jetzt weit geöffnet. Die Hand, die den Nadler hielt, zitterte unmerklich.

„Dann war also das Rauschgift nur Vorwand?“, fragte Hagar. „Sie wussten da schon, dass ich angeblich Ihren Vater ermordet hätte.“

„Ja, es galt nur, Sie so weit abzulenken, dass Frank — übrigens nicht mein Bruder, sondern ein alter Freund des Hauses — unbemerkt an Sie herankam. Wer konnte voraussehen, dass er sich so dumm dabei anstellen würde!“

In Hagar wurde der Zorn übermächtig, der Zorn über jene, die Benn auf dem Gewissen hatten. Sie schreckten nicht davor zurück, einem Mädchen mitzuteilen, dass ihr Vater von seinem Freund umgebracht worden sei. Offensichtlich rechneten sie damit, dass die Tochter sich aufmachen würde, den Tod ihres Vaters zu rächen.

„Hören Sie gut zu“, sagte Hagar verbittert. „Jetzt werde ich Ihnen einmal etwas erzählen ...“

Er sprach mehr als eine Stunde. Er berichtete über seine Beziehung zu ihrem Vater, berichtete von ihren gemeinsamen Aufträgen, ihrer Freundschaft, von seinem Schmerz erzählte er ihr, als er erfuhr, dass man Benn getötet hatte, und er erzählte ihr auch, dass nur er in der Lage war, Benns vermutliche Mörder zu identifizieren, wenn es ihm gelang, eine längst vergessene Erinnerung wieder ans Tageslicht zu bringen.

„Sie sehen also“, schloss er grimmig, „dass man Sie ordentlich hereingelegt hat. Mit einer Unverfrorenheit, die ihresgleichen sucht. Der Mörder muss, nachdem er Benn umgebracht hatte, noch einmal zurückgekommen sein. Er sah, was Ihr Vater auf den Zettel geschrieben hatte, und da kam ihm der teuflische Einfall, Sie zu benachrichtigen, Ihnen vorzumachen, ich sei der Mörder. Nur um Sie zu veranlassen, Rache zu üben. Mein Glück, dass Sie nicht sofort schossen.“

Hagar merkte nicht, dass irgendwo in seiner Aufzählung ein Fehler sein musste. Allerdings ließ ihm Sayward keine Zeit zum langen Überlegen. Als er zu ihr hinübersah, bemerkt er, dass sie weinte.

Er erhob sich und ging auf sie zu. Sie blickte angestrengt zu Boden, die Hand mit dem Nadler hing nach unten.

Er nahm ihn ihr sanft aus den Fingern und warf ihn in einen Sessel. Plötzlich sank sie gegen ihn und begann laut zu schluchzen. Sie presste ihr Gesicht an seine Brust, während er sie steif in den Armen hielt und nicht wusste, wie er sie tragen sollte. Er hatte keine Erfahrung mit verstörten, weinenden Mädchen.

Nach einer Weile hatte sie sich soweit beruhigt, dass sie wenigstens zu weinen aufhörte. Sie löste sich mit einem verlegenen Lächeln aus seinen Armen, trat zur Liege und kauerte sich in eine Ecke.

„Wie wäre es mit einem starken Kaffee?“, frage Hagar das sichtlich erschöpfte Mädchen.

Sayward blickte auf, wischte sich die letzten Tränenspuren vom Gesicht und sagte: „Nur, wenn ich ihn bereiten darf.“

„Nur zu“, antwortete Hagar. „Aber fallen Sie nicht über den Berg schmutzigen Geschirrs.“

Wenig später drang Geschirrklappern aus der Küche, und der Duft von frisch gebrühtem Kaffee zog durch das Zimmer. Hagar ließ sich am Zeichentisch nieder, aber er rührte die Federn nicht an; heute war er nicht in der Stimmung, auch nur einen Strich zu machen. Zu viel war in den zwölf Stunden von gestern Abend bis heute morgen geschehen — zu viel!

Sayward störte ihn in seinen Gedanken; sie war mit einem Tablett hereingekommen und begann nun den Tisch zu decken. Dann verschwand sie wieder in der Küche.

Hagar versank erneut ins Grübeln.

Was konnte Benn veranlasst haben, neben seinem, Hagars, Namen noch das Wort Honvath zu kritzeln? Es musste etwas sein, das irgendwann einmal während ihrer gemeinsamen Tätigkeit eine Rolle gespielt hatte. Aber es konnte keine große Rolle gespielt haben, denn sonst hätte es Hagar nickt vergessen können ...

„Hagar! Kaffee“, ertönte Saywards Stimme.

Er sah, dass sie schon am Tisch Platz genommen hatte. Mit einer imaginären Handbewegung wischte er seine Überlegungen zur Seite und ging hinüber.

„Hat Benn, ich meine Ihr Vater, nie von mir gesprochen?“, erkundigte er sich.

„Zucker?“ Sie blickte ihn fragend an.

„Wie ... eh ... Nein, danke. Keinen Zucker.“

„Ob Vater von Ihnen gesprochen hat?“, wiederholte sie dann seine Frage. „Doch, öfters. Aber damals, vor zehn oder zwölf Jahren, war ich noch zu klein, als dass ich mich daran erinnern könnte, was er gesagt hat. Später, während meiner Studienzeit, haben wir uns nur noch äußerst selten gesehen. Und wenn, dann sprach Vater meist über Dinge, die uns beide angingen, und nur wenig über seine Arbeit oder gar Vergangenheit.“

„Hm.“ Nachdenklich rührte Hagar in seiner Tasse herum. „Und ich hatte gehofft, Ihnen wäre das Wort Honvath ein Begriff.“

Sie zuckte mit einer hilflosen Geste die Schultern. „Leider …“ Plötzlich begann sie wieder zu zittern. „Wenn ich daran denke“, sagte sie stockend, „dass ich Sie vorhin fast umgebracht hätte — nicht auszudenken!“

„Ehrlich gesagt“, gab Hagar zu, „war mir auch entsetzlich zumute. Bei Frauen weiß man nie, ob sie es nun ernst meinen oder scherzen.“

„Na“, sagte sie und hob ihre Tasse, während das erste Lächeln auf ihrem Gesicht erschien. „Gott sei Dank ist ja jetzt alles vorbei.“

Sie weiß es nicht, dachte er. Sie kann es auch nicht wissen, wie sehr sie sich irrt.

„Meinen Sie“, sagte Hagar. „Ich bin mir da nicht ganz sicher.“

Erneut trat Furcht in ihre Augen. Für Sekunden starrte sie an Hagar vorbei, dann fragte sie: „Was wollen Sie damit sagen?“

Langsam und deutlich antwortete er: „Irgendwie werden sie davon erfahren, dass ich noch am Leben bin. Sie werden es erneut versuchen, mich umzubringen.“

„Oh, nein!“ Sie stellte die Tasse auf den Tisch. Das Lächeln erlosch. Plötzlich lag sie in seinen Armen, ohne dass er recht wusste, wie ihm geschah.

*

„Nein, und abermals nein!“ Erregt und mit auf den Rücken gelegten Händen schritt John de Celan vor den beiden Männern auf und ab, die sich vor etwa zwanzig Minuten in seinem Arbeitszimmer eingefunden hatten, um ihm einen Vorschlag zu unterbreiten.

Edward Carth machte ein betroffenes Gesicht ob dieser schroffen Ablehnung. Die Stimme des Präsidenten wurde daraufhin sanfter, als er fortfuhr.

„Ich will damit nicht sagen, dass Sie, Mister Carth, in allen Punkten unrecht hätten. Aber was Sie vorschlagen, ist, gelinde ausgedrückt, eine verbrecherische Handlung, zu der ich nie und nimmer meine Zustimmung geben kann. So leid mir das für Sie tut, aber in meiner Position kann ich es mir nicht leisten, dass die linksgerichtete Presse — und wenn ich 'linksgerichtet' sage, dann meine ich selbstverständlich Tomlinsons militante Verbandszeitungen — im Falle eines Fehlschlages eine Hetzkampagne gegen uns und die Regierung unternimmt.“

„Sir“, sagte Carth. „Wenn ich mir eine Bemerkung erlauben darf ...“

„Sie dürfen nicht, Mister Carth“, unterbrach ihn der alte Mann. Eine entschlossene Handbewegung unterstrich seine Worte. De Celan ließ sich hinter seinem Schreibtisch nieder und blätterte in den darauf liegenden Papieren.

Mehr als zehn Minuten vergingen, ehe John de Celan den Kopf hob und Carth ansah. „Wie sind Sie überhaupt auf diese Idee verfallen, Mister Carth?“

„Wie? ... Oh, es ist eigentlich Doktor Randells Idee gewesen. Er ist der Meinung, dass sich ein Gehirn an alles erinnern kann, wenn man es nur in die Enge treibt.“

„Wollen Sie mir nicht erklären, wer die Verantwortung für einen solchen Schritt zu übernehmen gedenkt? Wer von euch beiden Heißspornen steckt seinen Kopf in die Schlinge, sollte es nicht gut gehen?“

„Selbstverständlich übernehme ich die volle Verantwortung, Sir“, erwiderte Carth steif.

„Große Worte, Mister Carth. Sind Sie sich dieser Worte auch bewusst?“

„Zweifellos, Sir.“

„Dann weiß ich nicht, was Sie hier noch wollen, Mister Carth.“ John de Celan vertiefte sich wieder in seine Papiere.

„Sir!“ Edward Carth blickte bestürzt drein. „Ich habe mich mit einer Bitte an Sie gewandt in der Hoffnung, Ihre Zustimmung zu erhalten. Es geht schließlich darum, den Frieden und den Fortbestand unserer Kultur zu retten. Was wiegt dagegen eine Handlung, die etwas außerhalb des geltenden Rechts vorgenommen wird! Sir, es ist allerhöchste Zeit, etwas zu unternehmen, wenn wir nicht wollen, dass Tomlinson am Ende doch noch triumphiert!“

„Ich weiß nicht, wovon Sie reden, Mister Carth“, sagte der Präsident ungehalten. „Betrachten Sie Ihre Bitte als offiziell nicht zur Kenntnis genommen.“ John de Celan schwieg einen Augenblick, dann hob er den Blick und sah Carth offen an. Seine Stimme klang sanft und freundlich, als er sagte: „Mister Carth! Trotzdem viel Glück.“

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