Читать книгу Krimi Koffer September 2021 - 7 Krimis auf 1000 Seiten - Alfred Bekker - Страница 42

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Eine volle Stunde fehlte bis zum neuen Tag.

Die Welt schien erstarrt in einem totenähnlichen Schlaf; der Wind hatte sich nach Mitternacht völlig gelegt. Es war kühl. Nebel hing zwischen den Straßen.

Sharon erschauerte. Sie drängte sich eng an John Dunbar, der einen Arm um ihre schmale Gestalt legte und sie an sich drückte. Er sagte:

„Wann kommt denn der verflixte Bus?“

„Ich wünschte, er käme nie.“ Sharons Stimme klang verloren.

John gab einen brummenden Laut von sich. Vorsichtig bog er die nassen Zweige zur Seite und spähte über die Straße. Drüben schuf eine Laterne einen genau abgegrenzten Kreis vager Helligkeit im Nebel und ließ undeutlich das Halteschild erkennen.

John sah auf die Uhr. Noch zehn Minuten waren es, bis der Bus die Straße herunterkommen und die Dockarbeiter aufnehmen würde, die zu ihrer täglichen Arbeit hinaus auf den Raumhafen mussten.

Die ersten Gestalten in den dunkelgrünen Overalls tauchten auf; nach fünf Minuten waren es bereits zehn Mann, die fröstelnd und mit mürrischen Gesichtern unter der Laterne standen.

Nach weiteren drei Minuten wurde es Zeit für John.

„John!“ Sharons Stimme klang fern.

„Ja“, murmelte er und schlug den Kragen des Overalls hoch. Der Nebel war dichter geworden. Links und rechts verschwand die Straße in der grauen Wand. Die Welt schien sich auf diesen einen Punkt unter der Lampe zusammenzudrängen.

„Ja“, sagte John noch einmal, diesmal etwas lauter und erschrocken. Sharon hatte ihn mit einer heftigen Bewegung zu sich herumgedreht und sah zu ihm auf. Dann legte sie mit einer raschen Bewegung ihr Gesicht gegen seine Brust.

Lautlos begann Regen zu fallen. Aus der Ferne hörte John die ersten Geräusche des sich nähernden Busses. Sharon sagte schnell und drängend: „Höre gut zu! Das Schiff heißt Orpheus, der Mann Jimmy Louis. Er ist der Lademeister: Du gibst dich ihm zu erkennen, indem du ihm Grüße von Sharon ausrichtest. Verstanden? Gut.“ John nickte mit dem Kopf. Sharon schüttelte ihn sanft. „Wirst du mich wissen lassen, wo du gelandet bist?“

„Wozu“, antwortete er. „In ein paar Minuten ist alles überstanden. Wir werden uns Lebewohl sagen. Unsere Lippen werden versuchen, einen Kuss vorzutäuschen, und ich werde dann über die Straße gehen und niemals mehr wiederkehren ...“

Das dunkle Summen des Aero-Busses kam näher.

Das Kreischen der Luftstrahl-Umkehrdüsen zerriss die Stille.

Dann ging alles so schnell, dass es John nicht einmal richtig erfasste. Er fühlte Sharons Mund auf seinen Lippen; ein heftiger Kuss, der nach ungeweinten Tränen schmeckte, nach Traurigkeit, und ihm die Einsamkeit vermittelte, in der er sie nun zurückließ. Er hörte, wie sie zärtliche, verzweifelte Worte stammelte und löste sich mit einem Ruck von ihr.

*

Die Fahrt dauerte nicht lange.

John Dunbar fühlte sich verhältnismäßig sicher zwischen den Männern, die mit grauen Gesichtern und nickenden Köpfen vor sich hindösten. Es wurde kaum gesprochen, und niemand beachtete John. Sie akzeptierten ihn als einen der ihren.

Nur einmal kam etwas Leben in die schweigende Gesellschaft, als der Aero-Bus das Tor durchfuhr, hinter dem der Bereich des Raumhafens begann. Ausgeschlafene Posten kontrollierten mit wachen Augen die Arbeitskarten, ehe sie den Weg freigaben.

John entspannte sich.

Der schwierigste Teil seiner Flucht schien ihm schon geglückt zu sein. Fast liebevoll strich er mit den Fingerspitzen über die Kunststofffolie, auf der Arbeitserlaubnis, sein Name — er nannte sich Ben Carmody — und einige grundsätzliche Daten über sein Vorleben standen.

Der Passierschein in die Freiheit hatte nicht weniger als fünfhundert Kredite gekostet, inklusive des Overalls.

Dafür, dass er an Bord der Orpheus in irgendeiner Ecke der großen Laderäume hausen durfte, musste er schon wesentlich mehr bezahlen. John Dunbar war sich klar darüber, dass der Lademeister des Schiffes die unverschämte Forderung von zweitausend Krediten als nicht genügend ansah; er würde in dem Augenblick, in dem John das Schiff betrat, noch einmal den Preis um fünfzig Prozent hinauftreiben — ein in dieser Branche übliches Verfahren. Deshalb hatte Dunbar auch sämtliche geheimen Konten auf den verschiedensten Banken durch Sharon auflösen lassen. Bis er wirklich in Freiheit war, musste er sicher noch manchen Beamten bestechen.

Johns Vermögen belief sich im Augenblick auf runde vierzigtausend Kredite, die er in den Taschen des breiten Ledergürtels versteckt hielt.

Der Spieler sah durch die verglaste Seitenwand des Fahrzeugs hinaus; es wurde hell. Der Himmel hing tief und regenschwer über dem Feld.

Die ersten mächtigen Schatten erschienen und ließen den Morgen noch düsterer erscheinen, als er schon war. John konnte sein Gesicht im spiegelnden Glas sehen. Mit einem flüchtigen Lächeln dachte er daran, dass er jetzt brandrotes Haar hatte, dass seine Gesichtsfarbe durch eine Bestrahlung tiefbraun geworden war und dass die kurzfristige Lähmung eines Muskels seine Unterlippe verdächtig nach unten zog.

Der Spieler bot einem unwissenden Betrachter das Bild eines etwas einfältigen, muskulösen Arbeiters. Was wollte John Dunbar mehr!

Ein Nerv begann unter dem rechten Augenlid zu zucken; ein Zeichen beginnender Nervosität. Johns Erregung steigerte sich, je länger die Fahrt dauerte. Von Sharon wusste er, dass diese Arbeitsgruppe direkt zur Orpheus fuhr, um dort einen Teil ihrer Ladung zu bergen, die aus kostbaren Pelzen bestand.

Fünfzehn Minuten später ging John Dunbar zusammen mit den anderen die Rampe der Orpheus hinauf und verschwand im Bauch des großen Schiffes.

Alte, verschüttet geglaubte Erinnerungen wurden wachgerufen, als Johns Nase die vertrauten Gerüche auffing und seine Ohren die Geräuschkulisse eines großen Raumers vernahmen.

Vom Schiffspersonal war nicht viel zu sehen; nur ein kleiner, untersetzter Mann mit einem Bürstenhaarschnitt erwartete sie nervös hinter der kreisrunden Frachtluke.

Es war Louis, der Lademeister.

Er erteilte schnelle, abgehackte Befehle und trieb die Männer zur Eile an.

„Los, los“, rief er. „Bewegt euch. Oder glaubt ihr, ihr seid zum Vergnügen auf die Welt gekommen?“

John packte tüchtig mit an. Nach zehn Minuten richtete er es so ein, dass ihm dicht vor Jimmy Louis’ Füßen ein Ballen der herrlichen, violetten Pelze herunterrutschte und gegen den Lademeister rollte.

Louis’ Mund öffnete sich schon zu einer Schimpfkanonade, als John eindringlich, aber leise sagte: „Viele Grüße von Sharon!“ Dann warf er den Ballen wieder auf seine Schulter und ging weiter.

Er arbeitete weitere fünfzehn Minuten angestrengt und leicht außer Atem.

Mit einem Mal hörte er neben sich die Stimme Jimmy Louis’. Er sagte grob: „He, du!“

„Wer? Ich?“ John ließ den Ballen von seiner Schulter gleiten und bildete mit gespieltem Erstaunen auf den bürstenhaarigen Mann.

„Frage nicht so dumm“, schnauzte ihn der an. „Wen sonst sollte ich schon meinen?“

„Und was gibt es?“

„Du kommst jetzt mit mir. Ich habe eine andere Arbeit für dich. Los, mach schon!“

John Dunbar folgte Louis in die Tiefe des Laderaumes, schritt hinter ihm durch einige Korridore, während das Geräusch arbeitender Maschinen stärker wurde.

Es war klar: Sobald der Vorgang des Löschens beendet war, würde die Orpheus die Erde verlassen.

Johns Herz schlug hart bei diesem Gedanken.

Aber noch war es nicht so weit.

Sie waren in einem kleinen Gemach angelangt, in dem ein Schreibtisch, ein Safe und ein Aktenschrank standen: das Büro des Lademeisters.

„Sie sind also Alberth Carmody?“

„Ganz recht.“

„Weshalb wollen Sie die Erde verlassen?“

John Dunbar begann breit zu lächeln, was ihn nicht schöner machte, sondern nur den Eindruck der Einfältigkeit verstärkte.

„Sehen Sie“, begann er, „ich habe etwas gegen die Luft dieses Planeten, sie verursacht ständigen Juckreiz und ...“

„Schon gut“, knurrte Louis unwirsch. „Ich lasse Sie ja in Frieden. Was geht es mich auch an? Aber da wäre noch eine Kleinigkeit zu regeln, bevor wir ins Geschäft kommen.“ Sein Daumen und Zeigefinger rieben sich in der wohl intergalaktisch bekannten Geste, die Geld bedeutete.

„Wie viel darf es denn sein?“, erkundigte sich John höflich, auf alles gefasst.

Jimmy Louis sah ihn streng an. „Wie abgemacht“, antwortete er, „oder glauben Sie, ich bin so ein Wucherer wie ihr in den Spielhöllen?“

John verneinte, und er bemerkte nicht, dass hier etwas angedeutet wurde, das ihn hätte äußerst misstrauisch werden lassen sollen. Aber er war mit seinen Gedanken bereits weit, weit fort.

Er zog das größere von den zwei vorbereiteten Notenpaketen aus der Innentasche seines verschmutzten Overalls; zweitausend Kredite in hübschen, gebrauchten Scheinen.

„Was habe ich zu tun?“, fragte er, während er Louis das Geld reichte.

„Kommen Sie, ich zeige Ihnen die Ecke, in der Sie sich verstecken, bis wir auf MacDonalds Planet sind. Von dort aus müssen Sie sich allein weiterhelfen. Und wehe, Sie machen mir Schwierigkeiten, wenn wir im Raum sind! Zum Beispiel sich im Schiff von den anderen sehen lassen und dergleichen“. Louis schwieg und blickte drohend auf John, der ihn um mehr als eine Kopflänge überragte.

„Es ist schon mancher auf seiner Fahrt versehentlich durch die Luftschleuse in den Raum gerissen worden. Wenn Sie verstehen, was ich damit sagen will?“

John verstand, und er sagte dies auch.

Dann folgte er dem Lademeister. Wieder ging der Weg durch labyrinthartige Korridore.

Schließlich hielt Jimmy Louis am Ende eines Ganges vor einem Schott. Er drehte sich zu John um und sagte mit träger Stimme:

„Dahinter finden Sie den Zeugraum der Orpheus. Stören Sie sich nicht an dem Gestank. Sie werden ihn auf der zehn Tage dauernden Fahrt ertragen müssen. Haben Sie keine Angst, dass man Sie findet. Während meiner ganzen Dienstzeit auf diesem verdammten Kahn habe ich nicht ein Mal erlebt, dass jemand hier heruntergekommen wäre. Und nun gehen Sie schon, ich habe zu tun und kann mich nicht noch länger um Sie kümmern. Im Laufe des Tages werde ich Ihnen noch ein Paket mit konzentrierter Nahrung bringen.“

Louis trat zurück, während John mit fliegenden Händen das schwere Rad herumwirbelte, das zum Öffnen vorgesehen war. Dann zog er kräftig. Die Weichplastikdichtungen gaben einen schnalzenden Laut von sich, als sich das Schott endlich bewegte.

Dahinter herrschte vage Dunkelheit, in der undeutlich das heillose Durcheinander zu erkennen war, das in dieser Rumpelkammer des Schiffes herrschte. Der Gestank war bestialisch, aber John beschloss, ihn zu ignorieren.

Er trat durch das Schott und suchte sich vorsichtig tastend einen Weg — und in diesem Augenblick flammte eine wesentlich stärkere Beleuchtung auf, in der die rot leuchtenden Kampfpanzer der Solarpolizisten schimmerten.

John erstarrte. Entsetzen breitete sich in Sekundenschnelle in ihm aus. Mit fassungslosen Augen blickte er auf die fünf Gestalten, die in einem Halbkreis vor ihm standen. Dann versuchte er einen verzweifelten Rückzug, aber eine dumpfe Stimme bannte ihn an seinen Platz.

„Geben Sie endlich auf, Dunbar!“

Sie bewegten sich langsam auf John zu.

Wie bei einem zum Tode Verurteilten zogen in erschreckender Schnelle Bildfragmente an Johns innerem Auge vorüber: Er sah sich wieder vor Gericht gestellt, sah, wie man ihn unbewegten Gesichtes zu der schrecklichsten aller Strafen verurteilte, zur Zwangsarbeit in den glühenden Erzschmelzen auf Luzifer II, aus denen noch niemand lebend herausgekommen war. Und die Furcht vor diesem Ende ließ John fast wahnsinnig werden.

„Nein!“, schrie er, während er sich zusammenkrümmte und die näher kommenden Polizisten mit wilden Blicken bedachte. „Ihr werdet mich nicht bekommen!“

Er sprang blitzschnell zur Seite, ergriff eine schwere Eisenstange und fiel dann über die Männer her, die in ihren schwerfälligen Kampfpanzern nicht allen Schlägen ausweichen konnten. Der Raum hallte wider von den dröhnenden Hieben, die John Dunbar austeilte.

Gehetzt sah sich John nach einem Ausweg um, aber vor dem Schott hatten sich zwei der Polizisten postiert, die anderen drei verfolgten ihn.

Immer wieder wich der Spieler ihren zupackenden Händen aus, während er gleichzeitig mit der eisernen Stange zurückschlug. Er stürzte Regale um und warf mit allen Gegenständen, deren er habhaft werden konnte, nach seinen Feinden. Und die ganze Zeit über wunderte er sich darüber, dass sie nicht auf ihn schossen, sondern versuchten, ihn mit einem Netz zu fangen.

Schließlich gelang ihnen das auch.

John wurde müde. Seine Schläge kamen immer ungenauer und waren längst nicht mehr so kraftvoll wie zu Beginn.

Schließlich warf ihm einer der Solarpolizisten endgültig das Netz über den Kopf und Schultern.

Endlich lag John Dunbar heftig keuchend am Boden, zusammengekrümmt, zu keiner Gegenwehr mehr fähig. Einer der Polizisten beugte sich über ihn und presste ihm eine Injektionspistole gegen den Oberarm.

John schwanden die Sinne. Und während er kopfüber in die Dunkelheit tauchte, hörte er noch Jimmy Louis’ Stimme:

„Und was ist mit meinen tausend Krediten Belohnung?“

*

Das Erwachen war schmerzhaft, und dies war der hässlichste Flug, den John Dunbar je mitgemacht hatte. Von draußen hörte er nichts als das Heulen verdrängter Luftmassen, im Innern des Aerogleiters herrschte Schweigen.

John versuchte auf seine Uhr zu blicken — es bereitete ihm erhebliche Schwierigkeiten. Das rechte Auge war völlig verschwollen. Über dem anderen musste die Braue geplatzt sein. John spürte geronnenes Blut, als er vorsichtig darüber strich.

Das Netz um seinen Körper war verschwunden. Es war auch nicht nötig. Umringt von fünf menschlichen Kampfmaschinen gab es nicht die kleinste Chance einer Flucht.

Erneut stieg die Wut in John hoch, als er sich bewusst wurde, dass sein Fluchtversuch ergebnislos verlaufen war. Arme Sharon, dachte er bitter, deine Befürchtungen haben sich schneller bewahrheitet, als du selber glaubtest.

Mit Grimm im Herzen starrte John Dunbar auf den Rücken des Piloten. Dann drehte er sich um.

Durch das Halbdunkel der Kabine suchte er das Gesicht des Mannes zu erkennen, der schräg hinter ihm saß. Der Kampfpanzer verhinderte es. Hinter der Sichtscheibe des maskenartigen Helmes war lediglich ein weißer Fleck zu erblicken.

Verzweiflung brandete in John hoch. Sein Körper schmerzte. In seinem Kopf wirbelten die Gedanken.

Der diskusförmige Aerogleiter senkte sich nach unten. Unter ihnen lag eine Stadt im hellen Sonnenlicht, von der John nicht gleich sagen konnte, welchen Namen sie hatte. Dann aber erblickte er den gigantischen Stahlbetonturm, dessen oberste Stockwerke aus der Dunstglocke ragten, und er wusste Bescheid: Das war Groß-Washington, Sitz der terranischen wie auch der galaktischen Zentralregierung.

Einem Schatten gleich fiel der Gleiter auf den titanischen Turm zu, der sich hoch über das Niveau der Metropole erhob. Dann kam er auf einer Plattform zum Stillstand.

Der Pilot fuhr den kurzen Steg aus, und der Gepanzerte neben John erwachte zum Leben.

„Kommen Sie“, drang seine dumpfe Stimme unter dem Helm hervor.

Steifbeinig erhob sich John und trat ins Freie. Schwindel erfasste ihn, als er bemerkte, dass er nahe dem Rand der Plattform stand.

Dann nahmen ihn die fünf Solarpolizisten in die Mitte und stapften auf das Tor in der metallenen Wand zu.

Sie gingen durch das Tor.

Der Korridor dahinter war leer. Ein rollendes Band brachte sie tief ins Innere des Turmes. Sie fielen Antigravschächte hinunter, schritten durch eine Vielzahl identischer Gänge, ehe sie vor einer schmucklosen Tür haltmachten.

Eine gepanzerte Faust klopfte gegen die Türfüllung. Einer der Beamten sprach gegen ein versteckt angebrachtes Mikrophon: „Leutnant Rondell, Sir.“

Eine Stimme antwortete: „Herein mit Ihnen. Die anderen bleiben draußen.“

Der unsichtbare Sprecher hatte offenbar ihre Ankunft über einen Bildschirm verfolgt.

„Nun, Leutnant Rondell. Schlafen Sie?“

„Sofort, Sir.“ Der Rotgepanzerte wandte sich an John und meinte: „Wollen Sie mir bitte folgen!“

Aus Johns Hoffnungslosigkeit wurde Interesse. Mit solchen höflichen Worten bat man im Allgemeinen keinen Delinquenten zur Hinrichtung. Daran musste er denken, während er hinter Rondell durch die Tür ging.

Der Mann hinter dem Schreibtisch war groß, dunkel und wirkte wie ein Schauspieler. Sein Gesicht war hager und gebräunt. Alles an ihm schien hart zu sein. Er sagte:

„Das also ist John Dunbar?“

„Ja, Sir.“ Leutnant Rondells Stimme klang dumpf. Noch immer hatte er den Kampfhelm auf.

„Trug ich Ihnen nicht auf, ihn möglichst unbeschädigt zu lassen?“

„Doch, Sir. Aber wir mussten ihm eine Lektion erteilen; er sah nicht ein, dass es für ihn besser war, mitzukommen.“

„Gaben Sie ihm bereits einige Informationen?“

„Selbstverständlich nicht, Sir.“

„Warten Sie bitte draußen, Leutnant, bis ich mit Mister Dunbar fertig bin.“

„Zu Befehl, Sir.“

Hinter Johns Wächter fiel die Tür zu.

Die hagere Gestalt lehnte sich etwas bequemer im Sessel zurück und betrachtete John einige Augenblicke lang. Dann klang seine Stimme erneut auf:

„Nehmen Sie ruhig Platz, Mister Dunbar. Ich unterhalte mich nur ungern mit Leuten, die stehen.“

John Dunbar kniff die geschwollenen Augen zusammen und ließ sich in einen weichen Sessel fallen, während er gleichzeitig fieberhaft überlegte, wer sein Gegenüber sein konnte.

Er kam zu keinem Schluss. Außerdem war er entsetzlich müde. Die Schmerzen in seinem Gesicht nahmen zu.

Sekunden verstrichen, ehe die Gestalt hinter dem Schreibtisch erneut zu sprechen anfing. John wurde hellwach, als er die Worte hörte:

„Wir sind Ihnen seit geraumer Zeit auf den Fersen. Seit die Anzeige der Zwillinge über den zuständigen örtlichen Polizeikommissar an uns weitergeleitet wurde, verfolgen wir Sie schon. Wir rechneten uns aus, dass Sie versuchen würden, illegal die Erde zu verlassen und legten uns deshalb einfach am Raumhafen auf die Lauer. War das nicht klug?“

John verzichtete auf eine Antwort. „Meine Leute hatten den Auftrag“, fuhr sein Gegenüber fort, „Sie nach Möglichkeit unbeschädigt zu lassen. Ein Krüppel dürfte unserer Sache abträglich sein.“

John fragte: „Ihre Leute?“

Ein ärgerlicher Zug legte sich flüchtig um den dünnlippigen Mund, als sich Johns Gegenüber unterbrochen sah. Aber das schien eine Täuschung zu sein. Die Stimme des Mannes klang gleichgültiger als je zuvor, während er antwortete: „Ich bin Lee y Cross.“

„Nein!“ John beugte sich weit vor und fixierte sein Gegenüber aus erstaunten Augen. Seltsame Gedanken gingen ihm durch den Kopf.

„Doch“, antwortete Lee y Cross. Dann: „Was denken Sie jetzt, Mister Dunbar?“

John antwortete nicht. Der Blick seiner graublauen Augen richtete sich auf die Schreibtischplatte, während es in seinem Gesicht arbeitete. Schließlich aber sagte er mit seiner gewohnten müden und gelangweilten Stimme: „Ich denke, dass Sie wirklich y Cross sind, wenn ich mir auch die Tatsache nicht erklären kann, weshalb sich der planetare Geheimdienst in der Maske der Solarpolizei an mich heranmacht. Was finden Sie an meinem Fall so interessant?“

Für John Dunbar war es wirklich unerklärlich, weshalb er vor dem fast allmächtigen Lee y Cross saß. Es gab wohl auf Terra und in der erforschten Galaxis nur wenige, die diesen Mann so von Angesicht zu Angesicht gesehen hatten, wie es jetzt ihm vergönnt war.

Lee y Cross sagte: „Sie sind sich bewusst, was man Ihnen vorwirft?“

„Jawohl“, erwiderte John, „ich wusste nur nicht, dass man neuerdings zu Unrecht Verbannte vom Geheimdienst überwachen lässt!“ Und während Lee y Cross schwieg, sagte John noch einmal: „Das wusste ich wirklich nicht.“

Y Cross hüstelte. Seine verschleierten Augen hatten die ganze Zeit über John betrachtet. Nach außen hin machte dieser den Eindruck eines etwas einfältigen Dockarbeiters in einem verschmutzten, grünen Overall.

Aber Lee y Cross wusste, dass in Wirklichkeit einer der reichsten Spieler von Groß-Angeles in dem Sessel vor ihm saß; ein Mann, der gut aussah — wenn man davon absah, dass das Gesicht jetzt verschwollen war und die Augenbrauen aufgeplatzt waren und in allen Regenbogenfarben schillerten.

Noch war die breitschultrige Gestalt des Spielers ungebeugt, aber wer es verstand, jene scharfen Linien um den Mund zu deuten, den Blick der Augen, die verzweifelt brannten, der wusste: Die wirklichen Zerstörungen lagen mehr im psychischen als im physischen Bereich.

Das Gefühl der Enge, das Dunbar auf der Erde empfand, schien eine Tortur zu sein, wenngleich sich y Cross kein rechtes Bild davon machen konnte. Für ihn war die Erde so gut und so schlecht wie jeder andere Planet — er war kein Raummann wie John Dunbar.

An die Weiten des Raumes gewöhnt, musste Dunbar jede Welt als Gefängnis erscheinen.

Ich muss vorsichtig sein, dachte Lee y Cross. Es kann durchaus sein, dass er durchdreht, wenn er erfährt, worum es sich handelt! Der Geheimdienstchef räusperte sich, dann sagte er:

„Glauben Sie mir, Mister Dunbar, ich würde Sie lieber heute als morgen nach Luzifer II schicken!“ Zum ersten Mal kam eine gewisse Schärfe in seine Stimme. „Aber nun ist etwas eingetreten, was uns die Möglichkeit gibt, Ihnen eventuell Ihre Strafe zu erlassen.“

„Wie?“ John hob den Kopf. „Soll das heißen ... heißt das ...“ Vor Erregung überschlug sich seine Stimme.

„Das soll es heißen!“ Lee y Cross beugte sich leicht vor. „Sollten wir uns hier einig werden, was ich in Ihrem Interesse hoffe, so wird Ihnen unter bestimmten Voraussetzungen Ihre Strafe erlassen.“

„Ja! Was ist denn?“ Lee y Cross blickte ungehalten auf den Schirm des Videos vor sich, dessen Rufglocke leicht angeschlagen hatte. Die Störung gefiel ihm anscheinend nicht, aber sie gab John Dunbar Gelegenheit, seine Gedanken zu ordnen.

John erwog Möglichkeiten und verwarf sie wieder. Schließlich keimte tiefes Misstrauen in ihm auf, das sich immer mehr verstärkte, je länger John darüber nachdachte.

Lee y Cross sprach noch immer mit dem für John unsichtbaren Anrufer. Seine Stimme klang ärgerlich. Schließlich schaltete er mit einer brüsken Handbewegung ab. In seinem Gesicht arbeitete es. Was immer er auch erfahren hatte — es schien alles andere als angenehm zu sein.

Endlich hob y Cross wieder den Blick. „Nun“, sagte er kurz, „haben Sie es sich inzwischen überlegt?“

Nicht so schnell, dachte John. Laut sagte er: „Worum handelt es sich überhaupt?“ Er lehnte sich zurück.

„Um eine äußerst unangenehme Sache!“

„Unangenehm für wen?“, fragte John.

„Für alle“, antwortete y Cross heftig. „Für das galaktische Imperium! Für mich! Für Sie! Für den Mann auf der Straße!“

Lee y Cross verstummte für kurze Zeit. Dann fragte er: „Was wissen Sie über OPERATION SAGITTARIUS?“

„Ich habe nie davon gehört“, murmelte John.

„Vor acht Jahren hatte Kartograph Center das erste Vermessungsschiff über die Grenze unseres Zivilisationssektors hinausgeschickt. Die PIONEER setzte sich in Richtung des Sternbildes Schütze in Fahrt, also in Richtung des ungefähren Mittelpunktes unserer Galaxis.

Sie kehrte nie zurück.

Nach zwei Jahren sandte man ihr die STARCLOUD nach — auch diese kam niemals wieder. Auf diese Weise verlor Kartograph Center vier Schiffe, ehe man einzusehen begann, dass es so nicht weitergehen konnte.“

„Und?“, fragte John. „Was haben die Verluste von Kartograph Center mit meiner Person zu tun?“

„Das zu erklären bin ich gerne bereit“, erwiderte y Cross. „OPERATION SAGITTARIUS ist in ein Stadium getreten, das Kartograph Center nicht mehr zu meistern versteht. Deshalb nahmen wir uns der Sache an. Und der planetare Geheimdienst beschloss, noch einmal eine Expedition nach Sagittarius zu senden. Doch diesmal kein Vermessungsschiff mehr, sondern einen schwer bewaffneten Kreuzer der Raumwaffe.“

In John Dunbar stieg ein Verdacht auf. „Eine Frage“, sagte er zu y Cross. „Heißt das etwa, dass ich ...“ John hielt betroffen inne, als er sich der Konsequenz seiner Frage bewusst wurde. Nein, für ihn würde es dieses Glück nicht mehr geben, dessen war er sich gewiss.

Aber der Geheimdienstchef sagte ruhig: „Sie begreifen sehr rasch, Mister Dunbar. Langsam gewinne ich die Überzeugung, dass Sie doch der richtige Mann sind — entgegen meinen anfänglichen Bedenken.“

„Was geschieht, wenn ich mich weigere?“

„Diese Frage ist durchaus berechtigt“, sagte Lee y Cross mit einem Lächeln. „Aber ich bin überzeugt, dass Sie annehmen werden.“

„Sind Sie sicher?“ Johns Gesicht wurde blass — aber nicht vor Ärger, sondern vor Schreck darüber, dass sich ihm solche Worte auf die Lippen drängten. Im Grunde seines Herzens fieberte er nach einer derartigen Chance, wie sie ihm jetzt geboten wurde. Und Lee y Cross’ nächste Worte stürzten ihn in noch größeren Schrecken. Er sagte:

„Sie missverstehen die Situation, mein Bester.“ Y Cross’ Stimme klang eisig. „Nicht ich, sondern Sie sitzen auf der Anklagebank. Ich bitte darum, dies nicht zu vergessen! Doch wenn Sie glauben, übervorteilt zu werden — fassen wir doch einmal zusammen, was Ihnen alles zur Last gelegt werden kann!“

Lee y Cross war aufgebracht. Seine Finger schlugen einen Trommelwirbel auf die Schreibtischplatte. Er fuhr fort:

„Sie haben Ihre Verbannung erstmals leichtfertig aufs Spiel gesetzt, als Sie jene Schlägerei in der Nähe von 'Tiger' Desgrays Spielcasino provozierten ...“

John protestierte schwach.

„Schweigen Sie!“, unterbrach ihn Lee y Cross. „Noch bin ich nicht fertig. Diese Schlägerei allein hätte schon genügt, Sie Ihrer sämtlichen Privilegien zu berauben, die Sie als Verbannter genießen. Nein! Sie mussten auch noch versuchen, illegal auf ein Schiff zu gelangen, das in den Raum ging. Vom Widerstand gegen die ausführenden Organe des Imperiums möchte ich gar nicht erst reden, sonst kämen wir vom Hundertsten ins Tausendste. Sie werden auch so erkennen, dass es für Sie nur eine Alternative geben müsste ...“

„Weshalb Ihr Interesse gerade an meiner Person?“, erkundigte sich John Dunbar, nachdem y Cross schwieg.

„Es gibt doch bestimmt noch andere, die ebenfalls dazu fähig wären.“

„Das schon“, erwiderte Lee y Cross langsam. „Aber die haben keinen Onkel im Raumwaffenministerium sitzen — wie Sie, Mister Dunbar.“

„Matteo Samuel Dunbar ... Sie meinen, er hat sich für mich eingesetzt?“

„Ganz recht“, nickte Lee y Cross. „Ich weiß nicht, wie und wodurch er es fertigbrachte! Aber ich erhielt vom Präsidenten persönlich die Nachricht, Sie einzufangen und Sie mit dem Gedanken vertraut zu machen, dass Sie an dieser Expedition, die den Namen OPERATION SAGITTARIUS bekam, teilzunehmen hätten. Wie — das blieb mir selbst überlassen.“

Guter alter Matteo Samuel Dunbar, dachte John, hat mich also die Familie nicht ganz vergessen!

„Ferner wird nach dem erfolgreichen Ende dieser Expedition Ihr Fall, Mister Dunbar, von neuem geprüft werden. Diesmal aber vom Obersten Gerichtshof in Genf — und da bis jetzt alle Fälle, die dieser Gerichtshof neu aufgegriffen hat, zugunsten der Angeklagten entschieden worden sind, sehe ich keinen Grund, weshalb es in Ihrem Fall nicht zu einem Freispruch kommen sollte.“

John Dunbar schwieg lange. Schließlich sagte er: „Wie dachten Sie sich die Einzelheiten?“

„Sie nehmen also an?“ Lee y Cross’ Stimme verriet nichts von Genugtuung. Sie war kühl wie immer.

John Dunbar nickte! Nur ganz kurz dachte er daran, dass diese Expedition ebenso gut einem Todesurteil gleichkommen konnte wie seine Strafversetzung nach Luzifer II. Aber diesen Gedanken verbannte er sofort. Die Gewissheit, endlich wieder die Sterne zu sehen, der Enge eines Planeten entfliehen zu können, war stärker als das Gefühl einer vagen Angst.

Angst? Wovor?

Lächerlich, dachte John. In Gedanken war er bereits unterwegs.

Krimi Koffer September 2021 - 7 Krimis auf 1000 Seiten

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