Читать книгу Krimi Koffer September 2021 - 7 Krimis auf 1000 Seiten - Alfred Bekker - Страница 36
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ОглавлениеSie kamen im Morgengrauen und hatten ihn unsanft geweckt — mit einem Schlag über den Nasenrücken.
Hagar fuhr aus dem Bett empor. Seine Hand versuchte unter das Kissen zu gelangen.
„Na, na“, sagte eine Stimme tadelnd, und der Lauf eines Nadlers richtete sich auf ihn.
„Dann eben nicht“, murmelte Hagar. Jetzt, dachte er und versuchte der Furcht Herr zu werden, ist es so weit.
Sie haben nur zwei Tage dazu benötigt, um herauszufinden, dass mich Sayward nicht umbrachte, wie es geplant war. Jetzt werden sie ihren Fehler gutmachen.
Einer der Schatten bewegte sich zur Tür; die Deckenbeleuchtung tauchte das Zimmer in Helligkeit.
Es waren drei Männer. Alle in schwarze, eng anliegende Anzüge gekleidet und mit dünnen Handschuhen an den Fingern. Unbeteiligt musterten Hagar drei Augenpaare. Der kleinste der Männer hielt eine zusammengerollte Peitsche in seiner Rechten. Es war eine so ungewöhnliche Waffe, dass Hagar versucht war zu lachen. Die anderen beiden hielten Nadelpistolen in den Händen.
„Los, gib sie her!“ Der Lauf des Nadlers zeigte zum Kissen hin. Hagar seufzte, dann schob er vorsichtig die Hand unter das Kissen und warf seine .13er Space Spezial auf den Boden.
„Und jetzt 'raus aus dem Bett“, befahl der größte von den Burschen. Er hatte ein breitflächiges, farbloses Gesicht.
Hagar zog sich hastig an, wobei er es tunlichst vermied, irgendeine verdächtig aussehende Bewegung zu machen; dann ging er hinüber ins Wohnzimmer. Er hatte vor, noch eine Weile am Leben zu bleiben. Wie gesagt: Er hatte es vor!
Der Kleine trat hinter ihn. Flinke Hände tasteten sachkundig über Hagars Taschen, fuhren ihm unter die Arme und schlugen gegen die Hosenbeine.
„Nichts, Guy“, sagte er mit dünner Stimme. Die Enttäuschung war herauszuhören.
Und in diesem Augenblick schrillte die Glocke des Videos.
Der Große zog scharf die Luft ein. Seine Augen blickten wild auf Hagar, als erwarte er von ihm irgendwelche Tricks.
Niemand rührte sich.
Schließlich stieß Guy hervor: „Los, Mann! Gehen Sie an den Apparat. Aber Gnade Ihnen Gott, wenn Sie auch nur mit einer Silbe verraten, was hier vorgeht.“
Die drei Männer glitten zur Seite, sodass sie die Aufnahmeoptik des Videos nicht erfassen konnte, und richteten ihre Waffen auf Hagar, der zum Video schritt und die Taste drückte.
Ein hübsches Gesicht erschien auf der Bildfläche. „Sir! Hier ist der Auftragsdienst Aurora. Sie wünschten um sechs Uhr geweckt zu werden. Bitte, es ist genau fünf Uhr und neunundfünfzig Minuten.“
„Danke“, murmelte Hagar. „Aber wie Sie bereits erkennen, hat man mich außerplanmäßig geweckt.“
„Tut mir leid, Sir.“ Das Mädchen lächelte freundlich und schaltete ab.
„So warten ...“ Hagars Ruf blieb in der Kehle stecken, als er aus den Augenwinkeln bemerkte, wie der hartgesichtige Bursche mit der Peitsche eine kaum zu erkennende Bewegung machte. Dann zischte es an Hagars Ohr vorbei und riss den indianischen Wandteppich hinter ihm in zwei Hälften.
Hagar erstarrte augenblicklich.
Der Schweiß brach ihm aus, als der Bursche noch einmal wie spielerisch die Peitsche durch die Luft zucken ließ und dabei der marsianischen Tempelstatue den Kopf abschnitt, die Hagar in der Drei-Türme-Stadt erworben hatte.
„Nur zu Ihrer Orientierung“, sagte Guy schleppend. Er betrachtete Hagar Wyngate einen Moment lang und fügte dann lustlos hinzu: „Ich an Ihrer Stelle würde keine Schwierigkeiten machen.“
„Was jetzt?“, fragte Hagar nach einer Pause und setzte sich vorsichtig in einen Sessel.
„Jemand will Sie sprechen“, erwiderte Guy, kam näher und setzte sich auf die Tischkante, aber so, dass er dem anderen nicht im Wege war, der noch immer seinen Nadler auf Hagar gerichtet hielt.
„Wer?“, fragte Hagar Wyngate.
„Tut nichts zur Sache“, antwortete Guy.
Langsam verblasste die Beleuchtung im Wohnraum, als das Tageslicht hell genug war, ein Relais ansprechen zu lassen. Das Fenster faltete sich auseinander und ließ einen frischen Luftstrom in das Zimmer dringen. Über den weißlackierten Bücherborden öffnete sich in der Wand ein Mund; der Automat sagte:
„Sechs Uhr dreißig! Guten Morgen, Sir. Guten Morgen, Lady. Nun beginnen wir mit unserer täglichen Gymnastik — eins beugt ...“
Der mit der Peitsche fauchte wild. Sein Arm zuckte hoch — Putz fiel von der Wand, gefolgt von dem Lautsprechergitter. Die Stimme des Weckers verstummte mit einem kreischenden Geräusch.
Sofort öffnete sich über der Tür ein anderer Mund. Plärrend sagte der Automat: „Sie haben soeben eine Einrichtung des öffentlichen Dienstes zerstört. Ihr Konto wird hiermit um zwölf Kredite zu Gunsten der Bau-Genossenschaft belastet.“
Hagar begann zu lachen. Laut und hysterisch.
„Aufhören!“ Die Stimme von Guy war trotz der geringen Lautstärke schneidend. Er betrachtete Hagar Wyngate, schien nachzudenken, und fügte dann hinzu: „Los, jetzt. Gehen wir!“
Er schritt über den Teppich zur Tür. Hagar sah ihm nach, dann wandte er den Kopf und betrachtete den Burschen mit dem Nadler, der eine unmissverständliche Bewegung machte.
Widerstrebend setzte sich Hagar in Bewegung. Und in dem Augenblick, da er sich der Tür näherte, sah er das Aufleuchten in Guys Augen. Verzweifelt versuchte Hagar seinen Körper zur Seite zu werfen — aber da spürte er den stechenden Schmerz, mit dem ihn die winzige Stahlnadel aus der Waffe des hinter ihm stehenden Mannes traf.
*
Ein oder zweimal war Hagar nahe dem Erwachen. Blicklos in vage Helligkeit starrend, versuchte er hartnäckig zu ergründen, weshalb ein äußerst unsympathischer Mensch unbedingt seinen Schädel mit einem harten Gegenstand zu zertrümmern versuchte.
Nur langsam wurde der stechende Schmerz in seinem Kopf zu einem kaum noch wahrnehmbaren Pochen. Hagar schlug die Augen auf.
Drei Männer umstanden ihn, jene, die ihn in seiner Wohnung aufgesucht hatten; der vierte Mann saß in einem hochlehnigen Stuhl hinter einem Tisch aus rissigem Holz. Stehen wäre ihm auch schwergefallen, denn er wog bestimmt mehr als zweihundertfünfzig Pfund. Ein teurer, rohseidener Anzug sollte die enorme Fülle des Mannes kaschieren. Anstelle von Augen trug der Fremde das elektronische Fenster des Blinden.
Er schlug mit dicken, beringten Fingern auf die Tischplatte.
Hagar hatte einen bitteren Geschmack im Mund. Offensichtlich war die Stahlnadel mit einem schnell wirkenden Betäubungsgift versehen worden. Er setzte zum Sprechen an, aber alles, was er herausbrachte, war nur ein Krächzen.
„Gebt ihm Wasser“, sagte der Blinde. Er sprach mit Fistelstimme, was ihn nicht sympathischer werden ließ.
„Hölle!“, schimpfte Guy. „Vielleicht darf es Sekt sein für den feinen Herrn? Was geben wir uns lang mit ihm ab! Kitzeln wir aus ihm heraus, was wir wissen wollen, und dann ab mit ihm.“
„Gebt ihm Wasser“, wiederholte der Blinde.
Guy murmelte Verwünschungen vor sich hin. Aber dann verschwand er doch aus Hagars Blickfeld. Zurückkehrend hielt er ihm ein randvolles Glas an die Lippen.
Hagar schluckte, hustete und erstickte bald, so schnell schüttete ihm Guy das Wasser in die Kehle — aber es half. Das pelzige Gefühl in seinem Mund verlor sich.
„Fühlen Sie sich wieder besser, Mister Wyngate?“ Der Fokus des Fensters verengte sich, während sich das Lächeln des Mannes vertiefte.
Hagar konnte ihn nur anstarren. Er saß in einem Stuhl und spürte, dass man ein Fesselfeld um ihn gelegt hatte. Er konnte nicht einmal mehr den kleinen Finger rühren.
„Sie brauchen nicht zu sprechen“, ließ sich der Blinde wieder vernehmen. „Hören Sie nur zu — vorerst wenigstens.“ Hagar konnte sich eines unbehaglichen Gefühls nicht erwehren, als sich der Dicke etwas vorbeugte und ihn fixierte; deutlich sah er, wie sich der leuchtende Fokus in dem einer Taucherbrille ähnlich sehenden Fenster verengte, das auf elektronischem Weg die Bilder direkt ins Sehzentrum des Gehirns sandte.
„Guy! Zeige es ihm.“
Guy zog mit einer schnellen Bewegung ein langes Stilett aus seinem Ärmel und setzte die funkelnde Spitze Hagar genau zwischen die Augen, dorthin, wo sich der empfindliche Nerv befand.
„Sehen Sie, Mister Wyngate“, sagte die helle Stimme des Blinden. „Ich mag diese modernen Dinger nicht. Ich verlasse mich lieber auf alte, seit Jahrhunderten bewährte Methoden. Und so ein Messer ist besser als manches Instrument der Neuzeit, es kann sehr schmerzhaft sein.“
Er hätte es nicht besonders zu betonen brauchen. Hagar kannte verschiedene Arten, wie man ein Messer handhaben konnte.
Hagar ließ seinen Blick an Guy vorbei durchs Zimmer schweifen. Der Raum war nahezu leer. Staub und Spinnweben lagen auf allen Vorsprüngen und Kanten. Die ehemals kostbare Seidenbespannung der Wände war fleckig und hatte jede Farbe verloren.
Draußen herrschte heller Vormittag. Das breite Fenster an der linken Wand war auseinandergefaltet und ließ eine kühle Brise in den verwahrlosten Raum strömen. Ganz entfernt waren die Geräusche der Stadt zu vernehmen.
Sie mussten wieder in Nova Angeles sein, und zwar weit drüben auf der Westseite. Dort gab es noch Slums, in die dieses Zimmer zu passen schien.
„Was wollen Sie von mir?“, murmelte Hagar heiser. Er spürte, wie heißer Zorn in ihm aufstieg und ihn zittern machte. Wäre das Fesselfeld nicht gewesen, hätte er sicher den tödlichen Fehler begangen, sich auf Guy zu stürzen. Dieser bemerkte Hagars Regung und drückte die Spitze des Stiletts mit einem leichten Druck gegen Hagars Nasenwurzel.
Hagar entfuhr ein Stöhnen. Guys Grinsen wurde breiter.
„Nun, Mister Wyngate. Glauben Sie, sich genügend unter Kontrolle zu haben, um auf einige Fragen zu antworten, die ich Ihnen jetzt stellen möchte? Wenn diese Antworten zu meiner Zufriedenheit ausfallen, kann es sein, dass wir Sie irgendwo aussetzen — lebend. Ehrlich gesagt, Mister Wyngate: Ich hasse es, jemanden zu töten, wenn es sich auch manchmal als unumgänglich erweist. Wenn Sie verstehen, was ich damit sagen will!“
Hagar verstand. Er war davon überzeugt, dass der Blinde jedes einzelne Wort ernst meinte.
„Was wollen Sie also von mir?“, fragte er.
„Sie zeigen ja direkt vernünftige Ansichten!“, entgegnete der Blinde. „Sollte ich mich doch in Ihnen getäuscht haben?“
Hagar lachte hart auf. Sofort verstärkte Guy den Druck des Stiletts, während der Blinde fragte: „Was bedeutet die Mitteilung?“
Hagar zeigte sich leicht amüsiert. Er sagte: „Welche Mitteilung?“
„Mister Wyngate!“ Um den Mund des Blinden bildete sich ein grausamer Zug. Der irisierende Fokus öffnete sich weiter als zuvor. „Soll ich meine vorhin geäußerte Meinung revidieren?“
„Nein.“
„Sie wollen mir also helfen?“
„Ich weiß es noch nicht.“
„Das ist sehr unklug.“ Der Blinde wiegte den Schädel.
„Verdammt, worum geht es denn überhaupt?“
„Was ist Honvath?“
Verwunderung überkam Hagar. Weshalb fragten sie nach Honvath? Seine Gedanken begannen sich zu überstürzen. Sollte es möglich sein, dass Benn überhaupt keine Aufzeichnungen über die Aufdeckung des Mordplanes an dem K’erubyjn gemacht hatte? Aber ja! Genauso musste es gewesen sein. Das würde auch ihr Interesse an dem Wort Honvath erklären.
„Was ist Honvath?“, wiederholte der Blinde und brachte mit seiner Frage Hagar in die Wirklichkeit zurück.
„Ich weiß es nicht“, antwortete Hagar und log nicht dabei.
„Ich bin überzeugt, Sie wissen es sehr gut. Zumal es ein von Ihrem Freund Benn Jacyna benutztes Wort ist.“
„Jacyna war niemals mein Freund“, log Hagar.
„Aber Mister Wyngate! Wollen Sie wirklich behaupten, Sie hätten keine Ahnung?“ Die beringten Finger des Blinden trommelten auf der Tischplatte. Es klang ungeduldig, verärgert, vor allen Dingen klang es aber so, als beabsichtigte er, keine Zeit mehr zu verlieren — und das konnte für Hagar bedrohlich werden. Und so sagte er: „Selbstverständlich habe ich eine Ahnung, und zwar davon, dass Benn von Ihnen oder Ihren Leuten ermordet wurde.“
Hagar spuckte aus.
Guy hob die Hand mit dem Stilett und schlug ihm den Knauf hart über die Nase. Der brennende Schmerz trieb Hagar Tränen in die Augen. Trotzdem lächelte er.
„Sieh einer an“, sagte Guy, „unser Held markiert den starken Mann, Major.“
Der Blinde begann wild zu fauchen. „Zum Donnerwetter“, rief er schrill, während er seine Hand ballte. „Keine Namen!“
Einen Augenblick lang herrschte Ruhe, dann sagte der Blinde mit unerbittlicher Stimme: „Nun, Mister Wyngate, dann muss ich Ihrem Gedächtnis ein wenig auf die Sprünge helfen. Benn Jacyna war vor mehr als zehn Jahren mit Ihnen zusammen. Gemeinsam führten er und Sie Aufträge aus, die man schlicht als Partisanen und Spionagetätigkeit bezeichnet — wenn man es genau nimmt. Sie sehen also, ich bin informiert. Nun seien Sie lieb und sagen mir, was Honvath bedeutet.“
„Sie können nicht von mir verlangen, über Dinge Bescheid zu wissen, die mehr als zehn Jahre zurückliegen“, sagte Hagar.
„Benn Jacyna scheint Ihnen mehr Gedächtnis zugetraut zu haben!“
„Dann hat er sich eben getäuscht“, erwiderte Hagar. Die Entschiedenheit, mit der er es sagte, rief ein Stirnrunzeln des Blinden hervor.
„Möglich“, gab er zu, „aber es gibt genügend Mittel, ein Gedächtnis anzuregen, eine verlorene Erinnerung wieder zurückzubringen.“
„Nur zu“, forderte ihn Hagar auf. „Das haben andere auch schon versucht — aber keine Droge hat etwas ausgerichtet.“ Der offene Hohn in seiner Stimme rührte den Blinden nicht.
„Aber, aber“, sagte er mit unüberhörbarem Tadel in der Stimme. „Glauben Sie wirklich, Mister Wyngate, dass wir es so versuchen werden? Ich kenne da eine Reihe von völlig anderen Methoden, die bis jetzt alle starken Männer zum Reden gebracht haben.“
Der Blinde schüttelte bedauernd den Schädel.
„Ach, gehen Sie doch zum Teufel“, schrie Hagar.
Der Blinde schien nachdenklich zu werden, denn er unterbrach sein Trommeln auf der Tischplatte und sagte: „Sie sind in keiner beneidenswerten Lage, mein Freund!“
„Sie auch nicht“, stieß Hagar rau hervor. „Soll ich Ihnen sagen, welchen Fehler Sie begangen haben?“
„Bitte“, forderte ihn der Blinde auf. Der Fokus seines Fensters hatte sich fast geschlossen.
„Sie haben Benn zu früh umbringen lassen. Sie hätten warten sollen, bis er Ihnen sagte, was er wusste. Sie aber konnten es nicht erwarten, den Mann töten zu lassen, der offensichtlich als Einziger davon wusste, wer den Botschafter von Garm ermorden sollte und wann es zu geschehen hatte. Wer beschreibt Ihre Wut, als Sie, durch welche Machenschaften auch immer, Kenntnis davon bekamen, dass Benn noch imstande war, eine Mitteilung zu schreiben, die dem Secret Service in die Hände fiel. Weitere Zeugen – oder besser gesagt Mitwisser – waren auf dem Plan erschienen: Ich und das Wort Honvath, das alles bedeuten kann. Vielleicht steckt eine ganze Gruppe dahinter! Vergessen Sie nicht, dass wir damals eine Gruppe von zwanzig Männern waren, die meistens mit Benn zusammenarbeiteten. Wenn Sie mich jetzt töten, wird wieder einer auftauchen und so weiter — bis Ihr Plan gescheitert ist.“
Der Blinde sah auf Hagar. Der Fokus seines Fensters schloss und öffnete sich. Mehrere Sekunden lang schien er zu überlegen. Es waren Sekunden, die Hagar wie eine Ewigkeit vorkamen. Er war sich bewusst, dass sein Leben jetzt nur an einem winzigen Faden hing.
„Sie übersahen dabei nur eines“, ließ sich der Blinde vernehmen. „Sie übersahen, dass Sie reden werden, ehe Sie sterben — und daher ist der letzte Teil Ihrer Geschichte uninteressant geworden.“
Die Furcht übermannte Hagar. „Sie fette, kleine Ratte“, rief er.
Guy setzte ihm wieder die Spitze des Stiletts zwischen die Augen.
Hagar biss die Zähne zusammen, trotzdem konnte er es nicht verhindern, dass ein Schrei über seine Lippen kam. Er hörte, wie der Blinde sagte:
„Los, jetzt! Legt ihn auf den Tisch. Und dann an die Arbeit. Ich möchte es so schnell wie möglich hinter mich bringen.“
*
Das Fesselfeld schmiedete ihn an den Tisch. Hagar lag mit ausgebreiteten Armen und Beinen auf der Platte. Über sich konnte er das Gesicht des Blinden erkennen, der hinter seinem Kopf saß, während Guy und die anderen beiden bereitstanden, auf ein Zeichen hin mit ihrer Arbeit zu beginnen.
Hagar spürte, wie sein Herz schwer schlug. Ihn schauderte, und er hatte mehr Angst, als er sich eingestehen wollte.
„Sie möchten uns also nicht sagen, was Honvath ist?“, versuchte es der Blinde zum letzten Mal. Seine Stimme klang unbeteiligt.
Hagar versuchte den Kopf zu schütteln, aber das Fesselfeld verhinderte jede noch so kleine Bewegung. Und so sagte er nur: „Ich weiß es nicht.“
„Schade, Mister Wyngate. Sie würden sich und uns eine Menge Unannehmlichkeiten ersparen. Fangt an!“ Hagar verlor vollkommen das Zeitgefühl. Er wirbelte durch einen Ozean von Schmerzen.
Sie benutzten nur ihre Hände. Aber sie kannten jeden Nerv, über den der menschliche Körper verfügte. Sie bearbeiteten ihn systematisch von oben bis unten, mit kurzen, harten Schlägen.
Sie verharrten Sekunden, in denen sich der Blinde immer wieder über Hagars Gesicht beugte und fragte:
„Was ist Honvath? Erinnern Sie sich. Erinnern Sie sich.“
Hagar versuchte den Kopf zu schütteln. Er wollte sagen, dass er es nicht wusste und dass sie aufhören sollten, um alles in der Welt.
„Was ist Honvath? Erinnern Sie sich! Erinnern ...“
Immer wieder kam die drängende Stimme des Blinden. Einmal laut, dann wieder leise und eindringlich.
Hagar schluchzte und schrie.
Honvath? Erinnern! Erinnern ...
Verzweifelt versuchte Hagar alles, um seinen Peinigern zu gefallen. Aber diese drängende Stimme ließ ihm ja keine Zeit zum Überlegen, immer wieder lenkte sie ihn ab.
Schwätzer, dachte Hagar mit dem letzten Rest seines klaren Verstandes. Elender Schwätzer. Übergangslos begann er zu kichern.
Honvath? Erinnern! Erinnern! Erinnern!
Schwätzer, durchzuckte es Hagar wieder. Schwatzt wie ein Honvath.
Honvath? Schwätzer! Honvath!
Da war die Erinnerung. Hagar schrie seine Entdeckung hinaus, er konnte es nicht mehr für sich behalten. Sein Leben war wichtiger als alles andere.
Sie ließen von ihm ab, zogen ihn vom Tisch und setzten ihn in einen Stuhl.
Das Zimmer war von hellem Sonnenlicht erfüllt. Der Lärm der Stadt drang durchs Fenster — und Hagar lebte noch!
„Also, Mister Wyngate, was ist nun Honvath?“
Hagar setzte zum Sprechen an, als er erstaunt bemerkte, wie auf der Stirn des Blinden ein winziges Loch erschien, aus dem kein Tropfen Blut drang. Der Fokus des elektronischen Fensters öffnete sich weit.
Erst jetzt vernahm Hagar das zischende Pflop eines Nadlers, sah mit erstaunten Augen, wie zwei seiner Peiniger schneller starben, als sie Überraschung zeigen konnten.
Guy sank auf die Knie. „Nicht, bitte“, flüsterte er mit kaum vernehmlicher Stimme. „Wir sind keine ...“ Das Flehen in seinen Augen erlosch, als Frank ihn erschoss.
„Na, Bruderherz“, sagte Frank und trat näher, „das war in letzter Minute. Wenn ich nicht rechtzeitig gekommen wäre, hättest du es ihnen gesagt. Bei Gott“, seine Stimme bekam einen wilden Klang, „du hättest es ihnen verraten!“
„Was hätten Sie an meiner Stelle getan?“, keuchte Hagar. Dann forderte er ihn auf: „Wollen Sie mich nicht losbinden?“
Frank kam langsam näher. Nachdenklich betrachtete er Hagar. Etwas schien ihn zurückzuhalten, Hagar aus dem Fesselfeld zu befreien.
„Worauf wartest du noch? Binde ihn endlich los!“ Das war Saywards Stimme!
Sayward, dachte Hagar nur immer wieder. Oh Sayward!
„Schon gut“, murmelte Frank unwillig und verschwand aus Hagars Gesichtsfeld. Das Fesselfeld fiel von Hagar ab, als der Generator stillgelegt wurde, der es erzeugte. Sayward half ihm, sich zu erheben.
„Mein armer Liebling“, sagte sie und wischte ihm mit einem Tuch den Schweiß vom Gesicht, während sie ihn zu einem etwas bequemeren Sessel führte.
„Wie habt ihr mich gefunden, Sayward?“
„Das war verhältnismäßig einfach“, sagte sie lächelnd und streichelte sein Gesicht.
„Seit du mir vor zwei Tagen gesagt hast, dass noch nicht alles vorbei sei, dass man versuchen würde, dich erneut umzubringen, da ich in ihren Augen so kläglich versagt habe — da ließ mir das keine Ruhe. Ich gab Frank den Auftrag, jeden deiner Schritte zu überwachen.
Leider hat er heute Morgen nicht so aufgepasst, wie er es hätte tun sollen. Deshalb war es ihnen“, sie wies mit der Fußspitze auf die Gestalten am Boden, „auch möglich, dich wegzuschaffen, ohne dass wir es verhindern konnten. Aber wir haben deine Spur gefunden — und nun sind wir hier. Gerade noch zur rechten Zeit.“
„Und ich weiß auch, worum es geht, Sayward“, flüsterte Hagar, seine Stimmbänder gehorchten ihm noch immer nicht recht.
„Bist du sicher, Hagar?“
„Ganz sicher“, nickte er.
„Und du weißt, wer der Mörder ist? Wer das Attentat ausführen soll?“
„Noch nicht — aber es wird nicht mehr lange dauern, bis es Carth und seine Beamten wissen.“
„Was hast du vor, Liebling?“
„Hingehen und es ihnen sagen, ihnen erzählen, was Honvath in Wahrheit ist.“ In Hagars Augen leuchtete Triumph.
Saywards Gesicht veränderte sich mit einem Mal. Ihr Lächeln schwand, um dem Ausdruck von Gespanntheit Platz zu machen. Sie berührte leise seinen Arm und fragte: „Was ist Honvath?“
„Ein Schwätzer.“
Nun sah sie wirklich besorgt drein.
Ihre Stirn furchte sich, und der Tadel in ihrer Stimme war unüberhörbar.
„Aber, Hagar! Wir sollten doch lieber erst einen Arzt aufsuchen, ehe du dir zu viel zumutest.“
„Aber verstehst du denn nicht!“, sagte er eifrig, froh darüber, es sich endlich von der Seele reden zu können. „Schwätzer ist die Bezeichnung, die die Honvathen von uns bekamen — von Benn und mir und vielleicht noch von einigen anderen, die auf Griffins Planet waren — einfach weil sie wie Schwätzer den ganzen langen Tag alles nachplapperten, was sie an Worten von uns aufschnappten! Aber das kann ich dir später viel ausführlicher erzählen — jetzt lass uns gehen. Ich muss dringend mit Carth oder Masson sprechen.“
Hagar hatte sich schon halb erhoben, als ihn ihre Worte erreichten.
„Es wird kein Später mehr geben!“ Sayward rückte von ihm ab, und ihre Stimme verlor jegliche Wärme.
„Ich verstehe nicht!“, sagte Hagar.
„Du wirst keinem sagen, was Honvath ist.“
„Aber, Sayward! Was ist in dich gefahren? Du weißt doch, was alles auf dem Spiel steht, oder?“
„Eben weil ich es weiß, wirst du es keinem sagen.“ Ihr Gesicht war nicht mehr länger das jener Sayward, die Hagar seit den letzten zwei Tagen kannte. Er erblickte zum ersten Mal die harten Linien um den hübschen Mund und den winzigen Anflug von Grausamkeit.
„Wie willst du mich daran hindern?“, fragte er langsam. Aus den Augenwinkeln bemerkte er, wie sich Frank erhob und die Hand mit dem Nadler nachlässig in die linke Armbeuge legte.
Sie sagte: „Damit“, und machte eine kleine Handbewegung in Franks Richtung.
Als Hagar sich schwerfällig umwandte, blickte er genau in das runde schwarze Loch der Mündung.
*
Auf einem blendenden Feuerstrom reitend, senkte sich die Martian Queen auf das Landefeld des Raumhafens von Nova Angeles.
Es war um die Mittagsstunde und ein heißer Tag.
Umso erstaunlicher mutete der Mann an, der am oberen Ende der Rampe des Raumschiffes auftauchte und einen dicken Pelz um seine schmalen Schultern geschlagen hatte. Die amüsierten Blicke der anderen Passagiere ignorierend, zog er den Pelz noch enger um sich, während er über die Rampe eilte.
Ihn fror nach der wohligen Geborgenheit seiner stark geheizten Kabine. Etwas unbeholfen stelzte der Mann von den Außenbändern der rollenden Straße nach innen, zum Expressband. Es brachte ihn in schneller Fahrt voran.
Der Blick des Mannes schweifte über die Weite des Raumhafens — plötzlich tauchte abgrundtiefer Hass in seinen Augen auf, als er weit drüben zu seiner Rechten die gewaltige Silhouette des K’erubyjn-Schiffes erblickte. Seine Lippen murmelten Verwünschungen; es dauerte eine Weile, ehe er sich wieder in der Gewalt hatte. Kühle Überlegung verdrängte seine rebellischen Gedanken.
Noch war es nicht so weit!
Nach einigen Minuten sah der Mann in der Ferne die Glas- und Metallkonstruktion der Abfertigungshalle auftauchen, und nur wenig später folgte er den aufleuchtenden Richtungspfeilen zur Abfertigung.
Der Zollbeamte hatte schon die Papiere aufgeschlagen, die ihm von dem Mann herübergereicht wurden, und damit begonnen zu lesen. Unvermittelt hielt er inne und hob den Blick.
„Sir“, erkundigte er sich höflich. „Haben Sie sich auch bestimmt nicht in der Jahreszeit geirrt?“ Mit hochgezogenen Augenbrauen musterte er den Aufzug des Mannes vor dem Tisch.
„Wie meinen Sie das?“ Eine Unmutsfalte erschien auf der hohen Stirn.
„Wir haben Hochsommer, Sir. Außerdem sind wir weit von der Arktis entfernt“, erlaubte sich der Zollbeamte zu sagen.
„Und?“ Ungeduldig trat der Mann von einem Fuß auf den anderen.
„Der Pelz, Sir“, erwiderte der Beamte und konnte sich ein Lächeln nicht verkneifen.
Mehrere Sekunden blickte ihn der Mann scharf an, sein Blick war düster, und sein Mund kräuselte sich verächtlich, als er schließlich entgegnete:
„Sie sind etwas vorlaut, junger Mann. Ich bin nicht sicher, ob Ihre vorgesetzte Dienststelle erfreut über die Art sein wird, mit der Sie ankommende Reisende behandeln.“
„Das lassen Sie meine Sorge sein“, antwortete der Beamte ruhig, während er sich erneut in die Papiere vertiefte.
Er las lange. Dann und wann hob er den Blick und betrachtete schweigend den Mann vor sich, der langsam ungeduldig zu werden schien.
„Eine Unverschämtheit“, begann er schließlich zu murren. „Wie lange benötigen Sie denn noch dazu, meine Papiere zu lesen? Ich möchte Sie darauf hinweisen, dass ich in zwei Stunden einer Sitzung des Föderationsparlamentes beizuwohnen habe. Also beeilen Sie sich gefälligst etwas!“
Der Beamte schwieg. Er warf nur einen schnellen Blick in die Runde, dann blickten seine Augen wieder auf die Papiere.
„Hören Sie“, begann der Mann von Neuem, „wenn das Absicht sein soll, dann verwahre ich mich auf das schärfste dagegen. Glauben Sie, ich bin zehn Lichtjahre weit von New Kirkuk auf Ihren verdammt kalten Planeten gekommen, um mich derart behandeln zu lassen?“
„Sie sind Mitglied des Corps Diplomatique, Mister Wallace?“, erkundigte sich der Beamte plötzlich.
„Ja. Weshalb fragen Sie? Oder ist es plötzlich ein Verbrechen, Mitglied des Corps zu sein?“
„Das nicht — was mich wundert, ist die Tatsache, dass Sie auch noch dem Veteranenverband angehören. Eine etwas ungewöhnliche Kombination, wenn Sie mir diese Bemerkung gestatten. Ich war bisher der Meinung, das Corps und der Veteranenverband wären erbitterte Feinde! Mit Freude vermerke ich, dass sich da offensichtlich ein Sinneswandel vollzogen hat.“
„So ist es“, erwiderte Mister Wallace. „Aber um Ihre Bedenken hinsichtlich dieser Kombination zu zerstreuen: Ich bin außerdem noch Gouverneur von New Kirkuk, Abgeordneter dieser Welt sowie auch stimmberechtigtes Vollmitglied des Föderationsrates — denn New Kirkuk gehört ja zur Föderation. Sind Sie nun zufriedengestellt?“
„Sehen Sie, Sir“, sagte der Beamte, während er die Papiere Sir Nelson Wallace zurückgab, „das alles hat nichts mit Neugierde zu tun.“
„Ach nein!“ Wallaces Gesicht drückte Zweifel aus.
„Nein! Es hat nur mit der Tatsache etwas zu tun, dass ein Attentat auf den Botschafter von Garm geplant ist, der in etwa eineinhalb Stunden vor dem Föderationsrat sprechen wird.“
„Sie scherzen, junger Mann!“
„Keineswegs. Es wird vermutet, dass man versuchen wird, auf irgendeine Weise in die Vollversammlung einzudringen, um den Botschafter zu töten. Um alle Eventualitäten auszuschalten, dass man möglicherweise versuchen wird, ein Mitglied des Corps durch einen Doppelgänger zu ersetzen, muss ich Sie bitten, den östlichen Eingang zu nehmen, wenn Sie jetzt die Halle verlassen. Dort werden Sie nämlich einige Beamte der Polizei sicher und ohne Zwischenfälle zu Ihrem Hotel geleiten.“ Ein verkniffener Zug legte sich um den Mund von Nelson Wallace, als er sich erkundigte: „Muss das sein?“
„Sir“, gab der Beamte zur Antwort. „Unsere Verfassung garantiert ein höchstmögliches Maß an persönlicher Freiheit. Wenn Sie der Meinung sein sollten, dass Ihnen ein Messer zwischen den Rippen oder vielleicht auch eine kleine, niedliche Stahlnadel aus einem Nadler nicht schaden kann — bitte! Sie haben dann wenigstens eine Gewissheit: Sie werden nicht mehr frieren.“
„Barbarischen Humor habt ihr Erdleute“, knurrte der Gouverneur von New Kirkuk, vergrub seine Hände in den unergründlichen Tiefen seines Pelzes und entfernte sich in der angewiesenen Richtung.
Als Nelson Wallace das Gebäude verließ, empfingen ihn vor dem Portal vier rot gepanzerte Männer der örtlichen Polizei. Sie waren schwer bewaffnet. Wallace warf einen unbehaglichen Blick auf die Ausrüstung der Polizisten. Dann wurde er gewahr, dass einer der Beamten auf ihn zukam.
„Mister Wallace?“
„Gouverneur Nelson Wallace, wenn’s beliebt“, entgegnete er scharf.
„Leutnant Cutter, Sir“, stellte sich der Gepanzerte vor und klappte den Helm in den Schulterscharnieren zurück.
Wallace sah in zwei ungewöhnlich kalte Augen. Missmutig sagte er: „Ja?“
„Meine Leute und ich haben Order, Sie in Ihr Hotel zu begleiten, wie auch Ihnen sicheres Geleit bis zum National Building zu geben, Sir.“
„Als Kindermädchen habe ich mir eigentlich schon immer ein paar ausgewachsene Polizisten gewünscht“, sagte Wallace sarkastisch.
Der Leutnant zuckte mit den Schultern. Dann sagte er: „Hier entlang, bitte.“ Seine gepanzerte Hand wies hinaus auf die Fläche des weitläufigen Platzes vor dem Gebäude.
Erst jetzt erblickte Nelson Wallace den schweren, rot lackierten Gleiter mit den Insignien der Polizei von Nova Angeles, der ganz in der Nähe stand.
Wenig später befanden sie sich in der Luft.
Wallace lehnte sich in dem Leichtmetallsitz zurück, dessen kärgliche Polsterung ihm ein missmutiges Knurren entlockte, und überließ sich seinen Gedanken. Sie mussten erfreulicher Natur sein dem Lächeln zufolge, das ab und zu auf dem hageren Gesicht erschien.
Leutnant Cutter gab es nach einer Weile auf, seinen Gast durch den Rückspiegel zu beobachten. Er hatte heute schon dreizehn mehr oder weniger hochgestellte Persönlichkeiten des Corps Diplomatique zu ihren Hotels gebracht — dieser Mann hier unterschied sich in nichts von den anderen …
*
„Na, Bruderherz, diese Wendung hättest du nicht erwartet“, sagte Frank, und ein selbstgefälliges Lächeln lag um seine Mundwinkel.
Hagar Wyngate zwang sich, ruhig zu atmen. Ein paar Sekunden lang war er wie vor den Kopf geschlagen, ehe er zu begreifen begann, was da vor ihm geschah.
„Sayward, du!“, sagte er schwerfällig. Unglaube und Erstaunen, Zorn und Hilflosigkeit standen in seinem Gesicht.
„Du hast es erraten“, antwortete ihm Sayward. Sie befeuchtete ihre Lippen, legte den Kopf etwas zur Seite und sah Hagar nachdenklich an.
Es entstand ein langes Schweigen.
Mein Gott, dachte Hagar, das darf doch nicht wahr sein!
„Mein Gott“, sagte er laut, „wie musst du über mich gelacht haben in den vergangenen drei Tagen!“
„Es war zum Aushalten“, antwortete sie träge.
„Es ist nicht zu fassen“, fuhr er fort. „Ich, Held von Helgijor, Träger von vier Tapferkeitsmedaillen, lasse mich einwickeln von einem rachedurstigen Mädchen und ihrem billigen Schläger.“
„Gib dir keine Mühe“, unterbrach sie ihn, nicht im Mindesten berührt von seinen Worten. Dann wehrte sie Frank mit einer schroffen Handbewegung ab, der drohend näher kam.
„Merkst du nicht“, wies sie ihn zurecht, „dass er es nur darauf anlegt, uns unvorsichtig zu machen? Er rechnet sich immer noch eine Chance aus, der Narr.“ Sie lachte. Es war ein kaltes, scharfes Lachen.
Bitter sagte Hagar Wyngate: „Weshalb hast du mich nicht sofort getötet, wie es doch ursprünglich deine Absicht war? Du musstest mich wohl erst verrückt nach dir machen — umso schlimmer würde es mich dann treffen. Ich glaube“, schloss er grimmig, „du bist noch immer nicht davon überzeugt, dass ich Benn nicht umbrachte ...“
Sie riss die Augen auf und starrte ihn an. Sie sah überrascht aus, sagte aber nichts, nur ein Lächeln umspielte jetzt ihre Lippen. Frank lachte plötzlich laut und glucksend. Schließlich sagte sie achselzuckend: „Was bedeutet mir schon Benn!“
Während sie sich abwandte, sagte sie zu Frank: „Bringe es hinter dich!“
Frank kam behutsam näher. Seine Schritte verursachten kein Geräusch auf dem Boden.
„Steh auf“, sagte er zu Hagar, und das Lächeln auf seinem Gesicht vertiefte sich.
Hagar erhob sich. Seine Kehle war ausgetrocknet, sodass er kaum schlucken konnte. Ein Schleier legte sich vor seine Augen und ließ die Umgebung verschwimmen. Ob sich jetzt vollziehen würde, was er in all den Jahren härtesten Kampfes stets gefürchtet hatte?
Langsam wich er vor Frank und der dunklen Mündung seiner Waffe zurück. Dann stolperte er über die Leiche des Blinden und schlug hinterrücks zu Boden.
Die Stille, die dem polternden Geräusch folgte, wurde plötzlich von Mallics Stimme unterbrochen: „Das genügt wohl!“
Frank fuhr wild herum. Er starb schneller, als er es je für möglich gehalten haben musste, dem ungläubigen Ausdruck nach zu urteilen, der in seinen Augen auftauchte, ehe sie dunkel und leer wurden. Als er zu Boden stürzte, entlud sich seine Waffe — ein Schauer von Stahlnadeln fuhr in die Decke des Raumes. Putz fiel herunter und hüllte alles in Staub.
Mallic stand unter der Tür. Seine Augen blickten wachsam, sein ewiges Lächeln war eingefroren. Er starrte auf das Mädchen und fragte: „Wer ist sie?“
Sayward blickte verstört auf Frank.
„Eine Närrin“, antwortete Hagar und erhob sich, „die absolut der Meinung ist, ich hätte ihren Vater umgebracht.“
„Wie dumm von ihr“, sagte Mallic lind ließ seine prächtigen Zähne sehen. „Hat das ihr Partner verursacht?“, erkundigte er sich dann, indem er auf die reglosen Gestalten des Blinden und seiner Männer deutete.
Hagar nickte. Mallic begann zu fluchen, wild und unbeherrscht und mit harten Worten, sodass sich in Hagar eine Frage zu regen begann. Aber er kam nicht mehr dazu, sie auszusprechen; Sayward begann zu lachen, schrill und hysterisch.
Überrascht ließ Mallic die Waffe sinken und blickte verblüfft auf das Mädchen, das sich nun wie eine Rasende zu gebärden begann: Sayward griff sich ins Haar und zerrte daran. Den Kragen ihres engen Anzuges aufreißend, rang sie mit weit offenem Mund nach Luft — und genau in diesem Augenblick erkannte Hagar, was sie vorhatte.
Saywards Hand glitt hinter ihren Nacken. Als sie wieder zum Vorschein kam, blitzte die Klinge eines Wurfmessers im Sonnenlicht auf, das in breiten Bahnen durchs Fenster fiel.
Ihre Hand schnellte vor; das Messer drang in Mallics rechte Brustseite. Er hustete, und sein Lächeln verschwand. Langsam rutschte er an der Tür zu Boden und blieb mit schmerzverzerrtem Gesicht auf seinen Fersen hocken.
In diesem Augenblick setzte Hagar über die Leiche Franks hinweg. Noch im Sprung riss er Sayward die Beine weg, sie stürzte seitwärts auf den Boden, schlug mit dem Kopf hart auf und schrie vor Zorn und Enttäuschung.
Ihre Hand glitt hinüber zu Franks Nadler, der in unmittelbarer Nähe lag. Hagar trat ihr auf die Hand und beförderte mit einem Fußtritt Franks Waffe quer durch den Raum.
„Steh auf!“, sagte er dann drohend und gab ihre Hand frei.
Sayward erhob sich langsam und wich dann vor Hagar zurück, der mit verschlossenem Gesicht auf sie zukam.
„Was hast du vor?“, fragte sie und biss sich auf die Lippen, plötzlich glich sie einem verängstigten Tier.
Hagar holte wortlos aus und schlug ihr ins Gesicht. Sie war so überrascht, dass sie keinen Ton hervorbrachte. Sie wich noch weiter vor ihm zurück, bis die Wand sie aufhielt. Zwischen ihren zusammengekniffenen Augen schimmerten Tränen, ihr Gesicht war wutverzerrt.
„Nein“, rief sie, als Hagar erneut die Hand hob. „Hör auf damit! Was habe ich dir getan, dass du mich schlägst?“
„Was wohl“, sagte er verbittert. „Ich kann es nun einmal nicht vertragen, wenn man mich so schamlos hintergeht.“
„So, das kannst du nicht“, höhnte sie plötzlich. „Dann frage doch einmal deinen lieben Freund dort an der Tür, wer die Leute sind, die dich so gepeinigt haben. Los, mach schon! Frage ihn!“
Hagar ließ die erhobene Hand sinken. Misstrauisch blickte er das Mädchen an. „Was erzählst du da?“
Sie stieß ein kaltes Lachen aus.
Hagar warf einen Blick auf Mallic: Er hockte noch immer leise stöhnend auf seinen Fersen und hielt die Augen geschlossen. Schweiß stand auf seinem Gesicht.
Hagars Blick kehrte zurück. Neben Sayward sah er eine schmale Tür in der Wand. Während er mit seinen kräftigen Fingern Saywards Handgelenke umklammerte, stieß er die Tür auf. Dahinter lag eine kleine Kammer, die völlig leer war. Hoch unter der Decke befand sich ein Lüftgitter, sonst war keine Öffnung vorhanden, durch die das Mädchen hätte entweichen können.
Hagar zog den Schlüssel heraus, der innen steckte, und beförderte Sayward mit einem unsanften Stoß in die Kammer. Dann schloss er die Tür von außen ab und ließ den Schlüssel einfach auf den Boden fallen.
Er trat zu dem Blinden und betastete ihn. In der Brustinnentasche des Anzuges fühlte er etwas, griff hinein und zog ein flaches Etui heraus. Er zögerte nur einen Moment, dann ließ er es aufspringen ...
Deutlich konnte Hagar die fluoreszierende Plakette des Secret Service sehen, die in dem mit rotem Samt ausgeschlagenen Etui lag.
Kurze Zeit war es sehr still in dem verstaubten Kaum. Aus der Ferne vernahm Hagar das Brausen des Verkehrs von Nova Angeles wie das Geräusch einer Brandung. Noch weiter entfernt hörte er das hohle Singen eines landenden Raumtransporters. Hagar war wie vor den Kopf geschlagen. Welche Zusammenhänge offenbarten sich ihm da! Hagar sah sich plötzlich in der Rolle eines Bauern auf einem Schachbrett.
Dann hörte er ganz in der Nähe ein Keuchen; es war Mallic, der versuchte, etwas zu sagen. Hagar ging schwerfällig zu ihm hinüber und kauerte sich neben ihn. Auf Mallics Lippen lag eine dünne Blutspur, das Messer musste die Lunge verletzt haben. Er blinzelte heftig mit den Augen. Hagar beugte sich zu ihm hin.
Mallic flüsterte: „In meiner rechten Tasche ... Ein Sender ... Drücken Sie den Knopf ... Carth ist draußen in den Slums ... Wartet auf mein Signal ... Schnell!“
*
„Wir kommen wohl zu spät?“, erkundigte sich Edward Carth leidenschaftslos. Ohne eine Regung zu zeigen, betrachtete er das Durcheinander in dem Zimmer, und die Toten entlockten ihm lediglich ein Stirnrunzeln.
„Wie üblich“, murmelte Mallic und öffnete ein Auge. Mit einer schwachen Handbewegung wehrte er Carth ab, der ihm auf die Beine helfen wollte. „Nicht“, sagte er, „kümmern Sie sich erst einmal um Wyngate“, dabei deutete er auf Hagar, der gegenüber an der Wand lehnte und zu Boden sah.
„Er hat etwas mitbekommen“, fuhr Mallic stockend fort, „und nun fürchte ich, dass er uns einige Schwierigkeiten bereiten wird.“
„Sie meinen, er weiß Bescheid?“ Mallic nickte. „Zumindest darüber, dass die Männer, die ihn peinigten, aus den Reihen des Geheimdienstes kommen.“
„Verdammt“, entfuhr es Carth. „Und wer hat unsere Leute umgebracht?“
„Frank Weeler“, sagte Mallic, „Tomlinsons rechte Hand.“
Edward Carth spitzte die Lippen zu einem lautlosen Pfeifen. „Weiß Wyngate davon?“
Mallic hustete und verzog das Gesicht vor Schmerzen. „Nein“, antwortete er. „Er denkt, das Mädchen wäre Jacynes Tochter, die ihn umbringen will, weil er angeblich ihren Vater getötet hat.“ Carth fluchte stärker. Plötzlich erkannte er, dass es grundfalsch gewesen war, Hagar Wyngate so gut wie gar nicht über die Dinge aufzuklären. Das konnte natürlich zu sehr großen Schwierigkeiten führen. Auf seinem Gesicht erschien ein harter Zug. „Das werden wir schon hinbiegen“, versprach er Mallic, „denn ich werde ihn zu überzeugen wissen, dass es hier um mehr ging als nur um Kleinigkeiten.“
Carth erhob sich, gab einige Befehle und ordnete an, dass man sich um Mallic und das Mädchen kümmern solle, deren Stimme dumpf aus dem Nebenraum drang. Dann ging er hinüber zu Hagar, der ihm teilnahmslos entgegensah.
Carth zog sich einen Stuhl heran, setzte sich und sagte:
„Ich setze voraus, dass Ihnen bekannt ist, dass ich der Initiator dieses etwas ungewöhnlichen Verhörs war, dem Sie vor Kurzem ausgesetzt waren. Es ist mir nicht leichtgefallen, glauben Sie mir. Daher werde ich auch alles akzeptieren, was Sie gegen mich in die Wege zu leiten gedenken. Ich bitte Sie nur um eines jetzt: Verschieben Sie im Namen der Menschheit Ihre Rachegedanken um einige Stunden. Wir müssen wissen, was Honvath ist!“
Hagar schwieg. Er betrachtete Carth, als wäre er ein äußerst widerwärtiges Insekt.
„Seit einer halben Stunde“, fuhr Carth mit leiser, eindringlicher Stimme fort, „spricht Eere a Saarin, der Botschafter von Garm, vor der Vollversammlung des Föderationsrates. Morgen schon wird er wieder unterwegs nach Garm sein. Wenn also etwas geschieht — und alle Anzeichen sprechen dafür —, dann geschieht es in den nächsten Stunden, denn um Mitternacht begibt sich der K’erubyjn bereits wieder in sein Schiff. Man wird ihn also noch heute Abend ermorden — und wie das Reich von Garm darauf reagieren wird, wissen wir. Die friedliche Zukunft der Menschheit und der Fortbestand der Föderation hängt also davon ab, ob Sie gewillt sind, für einige Stunden alle kleinlichen Gedanken an selbstsüchtige Rache beiseite zu schieben, um der gerechten Sache zum Sieg zu verhelfen.“
Carth schwieg. Er lehnte sich zurück, faltete seine Hände und schlug ein Bein über das andere. Er war erregt, hatte sich aber in der Gewalt.
Als Hagar endlich zu sprechen begann, klang seine Stimme müde und tonlos.
„Honvath ist die Bezeichnung der Eingeborenen von Griffins Planet für den Schwätzer.“
„Wofür?“
„Einen Schwätzer“, wiederholte Hagar. „Diesen Namen erhielten die Honvathen von uns, von Benn und mir, als wir uns einmal nach einem Einsatz vor einem Schiff der K’erubyjns verstecken mussten.“
„Und was ist ein Schwätzer?“
„Ein etwa drei Fuß großes Tier oder sagen wir besser Wesen. Denn auf ihre Art sind die Honvathen ebenso kultiviert wie die Eingeborenen von Griffins Planet. Ein Honvath besitzt die erstaunliche Fähigkeit, sämtliche Töne zu imitieren und exakt wiederzugeben — auch die menschliche Stimme. Außerdem besitzt er noch ein ausgeprägtes eidetisches Gedächtnis, das ihn selten im Stich lässt.“
„Und wie passt der Honvath in dieses Spiel?“ Gespannt beugte sich Edward Carth vor.
„Benn dürfte einen Honvath an Bord seiner Jacht gehabt haben, der als Tresor für seine Informationen diente. Offensichtlich war Benn schon damals im Zweifel, ob er unbehelligt zurückkommen würde. Dass er allerdings seinem Tod begegnen könnte, daran dürfte Benn nicht gedacht haben. Mit Schrecken muss er erkannt haben, dass es nur einen Mann gibt, der über die Fähigkeit der Schwätzer orientiert ist — ich! Also schrieb er meinen Namen auf die Nachricht, im Stillen hoffend, dass ich von Ihnen gefunden werden würde.“ Carth war spätestens beim zweiten Satz von Hagar aufgesprungen. Erregt wanderte er vor dem ehemaligen Raumsoldaten auf und ab. „Daraus könnte man also schließen“, sagte er fast wie zu sich selbst, „dass sich an Bord von Jacynas Jacht Hammid dieser Schwätzer aufhält?“
„Das könnte man“, erwiderte Hagar, „wenn er nicht vertrieben wurde oder sich selbständig machte und irgendwo in der Stadt oder in der Nähe des Raumhafens umherstreunt.“
„Verdammt“, schimpfte Carth. „Malen Sie doch nicht immer gleich den Teufel an die Wand.“
Hagar zuckte gleichgültig die Schultern. Seine Stimme klang frostig, als er sagte: „Was erwarten Sie von mir? Dass ich in Freudengeheul ausbreche, weil Sie es fertiggebracht haben, mich nahezu umbringen zu lassen?“
„Reden Sie keinen Unsinn“, rief Carth zum ersten Mal heftig. „Meine Leute verstanden ihr Handwerk. Sie haben einige blaue Flecken am Körper oder Prellungen, mehr aber nicht. Oder glauben Sie vielleicht, dass es viel Kraft erfordert, einen empfindlichen Nerv zu veranlassen, Schmerz auszustrahlen?“
„Es schien ihnen aber Spaß gemacht zu haben.“
Carths Mund verzog sich zu einem säuerlichen Lächeln. Er zuckte mit Nachdruck die Schultern und sagte: „Selbstverständlich — es hat meinen Leuten so Spaß gemacht, dass sie vor Freude vergaßen, die nötigen Sicherheitsvorkehrungen zu treffen. Dafür sind sie jetzt auch tot.“
„Hören Sie schon auf“, sagte Hagar wild und erhob sich. Carth streckte ihm seine knochige Rechte entgegen und half ihm auf die Beine. Zusammen gingen sie hinaus. Kurz danach erhob sich der schwere, schwarze Gleiter des Chefs vom Geheimdienst in den blauen Nachmittagshimmel und strebte dem Raumhafen zu.
Hagar sah hinunter auf die Stadt, und in ihm war nichts als dumpfe Leere.
Draußen schien die Sonne, ihm aber war es, als käme er aus einer dunklen, von Alpträumen erfüllten Nacht.
Kaleidoskopisch wirbelten die Geschehnisse der vergangenen vier Tage an ihm vorüber, um sich schließlich auf eine einzige Person zu konzentrieren: Sayward. Oder hieß sie vielleicht gar nicht so? Konnte es nicht sein, dass sie ihn auch in dieser Beziehung genarrt hatte?
„Sagen Sie“, wandte er sich an Carth, „wer ist sie wirklich?“
„Cynthia Dylan Tomlinson. Eine Nichte des großen Homer A. Tomlinson.“
„Oh!“ Hagar war bestürzt. Einen flüchtigen Augenblick lang spürte er Schmerz über ihren Verlust — dann war nur noch Grimm in ihm.
Nach Minuten sagte er: „Aber das würde doch bedeuten, dass Tomlinson hinter dem Attentat stünde!“
„Scharf beobachtet, mein Lieber“, antwortete Edward Carth. „Homer A. Tomlinson und sein allgegenwärtiger Veteranenverband stehen dahinter.“
„Das kann ich nicht glauben“, entfuhr es Hagar. „Ich wurde lange Zeit vom Veteranenverband unterstützt, ehe ich Fuß gefasst hatte — und das, ohne Mitglied zu sein.“
„Das eine schließt das andere nicht aus.“ Carths Stimme klang ironisch. „Gerade aus den Reihen der ehemaligen und mit ihrem jetzigen Los unzufriedenen Soldaten bezieht Tomlinson seine Macht.“
„Man sollte es nicht meinen“, sagte Hagar und schüttelte missbilligend den Kopf. „Eine Menge von Leuten scheinen vergessen zu haben, wie es draußen an den Fronten im Raum zuging! Wie viel unermessliches Leid der Krieg über die Menschheit gebracht hat!“
„Ja, die Dummen, die Einfältigen und die Trägen sterben niemals aus“, beendete Carth das Thema.
Für Minuten herrschte Schweigen. Dann erkundigte sich Edward Carth: „Als Jacynas Tochter Sayward hat sich diese Dylan an Sie herangemacht, nicht wahr? Stellten Sie eigentlich niemals Nachforschungen darüber an, ob dies auch den Tatsachen entsprach?“
Hagar lachte kurz auf. „Sie hat mir wahrlich keine Zeit dazu gelassen“, erwiderte er.
Carths Brauen hoben sich. „Wie das?“ Hagar sagte es. Er erzählte ihm alles und verschwieg nichts. Am Ende stieß Carth einen bewundernden Ruf aus. Er sagte: „Geschickt gemacht — sie wäre es wert gewesen, in unserer Organisation aufgenommen zu werden.“
„So geschickt finde ich das gar nicht“, wehrte sich Hagar. „Ich habe von Benns Tochter niemals ein Foto gesehen. Benn hat nur ab und zu davon gesprochen, dass er eine Tochter hat. Jede einigermaßen gute Schauspielerin hätte mich ebenso hereinlegen können.“
Mit einem Mal sagte Carth anklagend: „Die Schuld an diesen schrecklichen Zwischenfällen liegt allein bei mir. Wir waren der Meinung, dass Tomlinson nichts von der Mitteilung erfahren konnte, die Benn hinterließ. Nun müssen wir erkennen, dass wir uns geirrt haben.“
„Diese Erkenntnis, so scheint es mir, kommt etwas spät“, ließ sich Hagars sarkastische Stimme vernehmen.
Carth sah ihn scharf an, dann senkte er den Blick und antwortete: „Wem sagen Sie das! Wir waren eben der Auffassung, Ihnen, Mister Wyngate, könne nichts geschehen. Einfach, weil niemand wusste, dass Sie existieren. Nur so kam es zu den Zwischenfällen. Aber ich glaube, ich weiß jetzt in etwa, wie Tomlinson zu Ihrem Namen und zu dem Wissen über Ihre Schlüsselposition gelangte!“
„Lassen Sie hören“, sagte Hagar, als Carth nachdenklich schwieg.
„Dass Frank Weeler im Spiel war, legt die Vermutung nahe, dass er Benn umgebracht hat. Solche Aufgaben gehören in sein Gebiet — er hat schon öfters derartige Aufträge ausgeführt —, ohne dass wir ihm etwas nachweisen konnten, dass er von Tomlinsons Organisation geschützt wurde. Weeler dürfte dann nach den Informationen gesucht haben, um sie zu vernichten. Er wurde durch unser Erscheinen gestört und versteckte sich im Schiff. Dadurch brachte er in Erfahrung, dass Benn noch imstande war, eine Nachricht zu hinterlassen, in der Ihr Name und das Wort Honvath vorkam.
Dies alles geschah am Abend des zwölften Juni — also vor vier Tagen. Sie, Mister Wyngate, kamen ins Spiel. Tomlinson arbeitete schnell. Wer vermutete hinter einer unbedeutenden Rauschgiftverteilerin und ihrem Komplizen eine derart weitgespannte Organisation. Ob Sie nun gekauft hätten oder nicht, Mister Wyngate! Man hätte Sie auf jeden Fall beseitigt.“
„Das erste Mal misslang es auf Grund des gestörten Gleichgewichts einer Frau“, griff Hagar den Faden auf.
„Richtig. Mit dieser Entwicklung hatte man nicht gerechnet. Das Mädchen musste fürs Erste fliehen. Dann kam es mit dem Auftrag zurück, Sie endgültig zu beseitigen. Die Spur, die zu Tomlinson führte, musste verwischt werden. Warum aber Cynthia sich dann auf dieses — hm — gewagte Abenteuer einließ, kann man nur vermuten. Vielleicht wollte Tomlinson erst noch erfahren, was es mit dem Begriff Honvath auf sich hatte? Es bestand durchaus die Möglichkeit, dass es das Synonym für eine Gruppe war. Wahrscheinlich beschloss man deshalb, das Mädchen bei Ihnen zu lassen, um es herauszubekommen. Dass wir es dann selbst waren, die sie auf die richtige Spur brachten, hat uns vier ausgezeichnete Leute gekostet. Nichtsdestoweniger! Wir sind, so scheint es, dem Ziel nahe. Oder sind Sie anderer Meinung, Mister Wyngate?“
Hagar wurde einer Antwort enthoben, der Gleiter senkte sich jäh und setzte zu einer Landespirale an, wobei sich den beiden Männern die Haare sträubten. Knapp zwei Fuß über die Betonpiste des Raumhafens jagend, steuerte der Pilot das Gefährt in das weit geöffnete Tor eines Hangars ...
*
Das Appartement machte einen wohnlichen Eindruck. Durch die weit geöffneten Fenster kam warme Nachmittagsluft, sie war voll von Düften, die Nelson Wallace fremd waren, wie ihm überhaupt die Erde seit Langem fremd geworden war.
Er ging frierend durch den Raum und schloss die Fenster. Dann schob er den Regler der Klimaanlage auf „heiß“. Nach einer Weile warf er den Pelz von den Schultern, ging zur Tür, warf dem wachestehenden Polizisten davor ein nichtssagendes Lächeln zu, und schloss dann die Tür mit Nachdruck.
Er ging ins Schlafzimmer; sein Gepäck war schon gebracht worden. Die drei Leichtplastikkoffer standen neben dem Ankleideschrank auf einem weichen, weißen Teppich.
Nelson Wallace zog seine Kleidung aus und schlüpfte in den elegant geschnittenen Anzug.
Danach inspizierte er kurz das Bad. In den Wohnraum zurückkehrend, ging er an den Barautomaten und mixte sich einen kräftigen Daiquiri — ein Getränk, das ihn an die Zuckerrohrdestillen auf New Kirkuk erinnerte — und begann ihn in kleinen Schlucken zu trinken.
Er setzte sich in einen Sessel und blickte auf seine Uhr: Nur vierzig Minuten blieben ihm noch, dann musste er sich auf den Weg zum National Building machen.
Plötzlich wünschte er sich, schon wieder zu Hause zu sein. Wenn er an die endlosen, brennenden Ebenen von S’ajdarap dachte, die den Nächten purpurnen Glanz verliehen, fühlte er so etwas wie Heimweh in sich aufsteigen.
Lächerlich! Nelson Wallace schalt sich einen sentimentalen, alten Narren. Er trank das Glas aus und stand auf, um sich einen neuen Drink aus dem Automaten zu nehmen. Dann sah er nochmals auf die Uhr: zwei Uhr und dreiundvierzig Minuten. Zeit, dachte er, sich zu erkundigen, ob alles reibungslos funktionieren würde!
Er ging hinüber zu dem weißlackierten Tischchen, auf dem das Video stand. „Geben Sie mir die Zentrale“, verlangte er, als sich der Empfang meldete.
„Sie wünschen, bitte?“ Die träge Stimme eines alten Mannes kam aus der Tonfläche. Er blickte Nelson Wallace völlig desinteressiert von der Bildfläche entgegen.
„Eine Verbindung mit Clary Point 4132. Mister James Catterton.“
„Einen Augenblick, bitte ...“
Eine halbe Minute später sah ein Frauenantlitz vom Schirm, und eine kühle Stimme sagte reserviert: „Hier Büro James Catterton. Sie wünschen, bitte?“
„Mein Name ist Nelson Wallace, und ich komme von New Kirkuk ...“ Auf ihrem Gesicht erschien ein fragender Ausdruck, sodass Wallace zu der Ansicht gelangte, sie wüsste nichts von New Kirkuk. Er sagte: „New Kirkuk, Epsilon Eridani.“
„Und was möchten Sie von Mister Catterton?“
„Vor längerer Zeit habe ich einmal mit ihm über die wirtschaftliche Ausnutzung der auf New Kirkuk vorhandenen Erdgasreservate korrespondiert. Da ich heute geschäftlich zur Erde gekommen bin, möchte ich mich einmal persönlich mit ihm unterhalten. Könnten Sie mir dabei behilflich sein?“
„Tut mir leid“, erwiderte sie, „aber Mister Catterton geht sofort nach der heute Nachmittag stattfindenden Vollversammlung des Föderationsrates, dem er als ordentliches Mitglied angehört, auf eine längere Geschäftsreise, die ihn quer durch die erforschte Galaxis führt. Wenn Sie vielleicht Ihre Wünsche auf ein Band sprechen würden! Ich könnte dann versuchen, Mister Catterton per Raumfunk zu erreichen.“
„Nein, nein“, sagte Nelson Wallace mit der Miene eines Enttäuschten. „Bemühen Sie sich nicht. Ich denke, damit hat sich die Sache endgültig erledigt.“
Er unterbrach die Verbindung, vollauf zufrieden mit dem eben Vernommenen. Catterton hatte also alles in die Wege leiten können! Seiner, Wallaces Flucht, stand nichts im Wege.
Er rieb sich abwesend die Hände, dann sah er erschrocken auf die Uhr: Er musste sich sputen. Hastig trank er sein Glas aus, warf sich den Pelz über die Schulter und verließ das Zimmer. Ein kleiner, schon etwas bejahrter Mann; und niemand sah ihm an, was er war: Der Scharfrichter von Homer A. Tomlinsons Organisation.
*
Jemand musste, so schien es jedenfalls Nelson Wallace, in einem Anflug von Hysterie angenommen haben, man würde versuchen, den Botschafter von Garm mittels einer halben Armee zu beseitigen.
Jedenfalls gelangte man zu der Ansicht, wenn man sich die Sicherheitsvorkehrungen vor Augen hielt, die Wallace von seinem kurzen Weg von der Gleiterplattform bis unmittelbar zum Eingang des Großen Sitzungssaales antraf.
Wallace ließ ab und zu schimpfend die Untersuchungen und Leibesvisitationen über sich ergehen und dachte im Stillen: Nein, die halbe Armee hätte wahrlich keine Chance!
Schließlich befand er sich in dem prunkvollen Vorraum zum Sitzungssaal. Seine Füße versanken in den synthetischen Teppichen, als er, das linke Bein etwas nachziehend, darüber hinschritt.
Das mächtige Portal zum Saal öffnete sich ...
Der Saal war kreisrund. Die rechte Hälfte des Kreises, von der Tür aus gesehen, bot mit den hochlaufenden Sitzreihen den Anblick eines Auditoriums. Die trichterförmige Anordnung der Sitze reichte bis weit hinauf unter die Zuschauergalerie, heute hielt sich auf ihr aber nur das technische Personal der Video- und Raumfunkanstalten auf sowie eine nicht zu geringe Zahl von Sicherheitsbeamten.
Abgesandte von Welten der gesamten Galaxis wohnten dieser Versammlung bei, die über Wohl und Wehe der Menschheit entschied. Die Kameras der Berichterstatter schwebten auf Antigravschilden unter der kuppelförmigen Decke, von der Galerie aus dirigiert, würden sie jede Phase des Geschehens getreulich übertragen.
Dem Auditorium gegenüber befand sich die lange, geschwungene Marmorbarriere, hinter der jene Männer saßen, die die eigentliche Macht repräsentierten: die Vorsitzenden des Föderationsrates — unter ihnen auch Homer A, Tomlinson, der als Gouverneur von drei planetaren Systemen der wohl mächtigste Mann der Runde war, außerdem hatte er noch das Amt des Chefs der Raumwaffe inne.
Die Zahl jener Männer, die die Erde repräsentierten, war, gemessen an der Mehrheit der Übrigen, verschwindend klein. Da war der Präsident der Erde, John de Celan, sein Erster Sekretär Henry Masson sowie die Vorsitzenden des Corps Diplomatique. Trotzdem wogen ihre Stimmen schwerer als die der anderen, da die Föderation von der Erde aus verwaltet wurde.
Die halbrunde Wand hinter ihren Rücken bedeckte das gewaltige Emblem der Föderation: ein Adler, der in seinen Krallen die blaugrün schimmernde Erde hielt. Seine ausgebreiteten Schwingen symbolisierten die Macht der Föderation, die Schutz jenen Welten bot, die sich ihr anschlossen.
Während Nelson Wallace zu seinem Platz schritt, musste er daran denken, dass über die Hälfte der anwesenden planetaren Gouverneure ihre Macht nur noch in Form einer stimmberechtigten Person ausübten: Ihre Welten waren verwüstet oder in den Händen der K’erubyjns.
Wallace beeilte sich, zu seinem Platz zu gelangen. Die Glocke des Ratsvorsitzenden kündigte bereits den Beginn der Sitzung an. Zur Zeit übte Jefferson Wild dieses Amt aus. Er erhob sich, beugte sich etwas zum Mikrofon, während sich die Kameras auf ihn richteten, und sagte:
„Es spricht der Präsident der Erde, Sir John de Celan.“
De Celan erhob sich schwerfällig. Sein Gesicht war von tiefer Müdigkeit gezeichnet. Er sagte:
„Sie alle wissen, meine Herren, weshalb wir heute an diesem so ehrwürdigen Ort zusammenkommen. Ich kann mir also lange Erklärungen sparen. Ihnen ist ebenso der Wortlaut des Friedensvertrages bekannt, über den es heute abzustimmen gilt. Bevor Sie jetzt darangehen, diesen Vertrag in allen Einzelheiten zu zerpflücken und nach versteckt eingebauten Fallen zu suchen, möchte ich an Ihre Vernunft appellieren und Ihnen vor Augen halten, dass ein zwanzigjähriger Krieg beendet werden muss, wenn wir nicht wollen, dass die Menschheit in Barbarei, die Zivilisation und Kultur in Schutt und Asche fallen. Und das geschieht unweigerlich — außer, wir könnten uns dazu entschließen, diesen Friedensvertrag zu akzeptieren.“
John de Celan schwieg. Er setzte sich, und seine Augen suchten den Blick von Henry Masson. Schon eine Nachricht?, schienen sie zu fragen.
Masson hob leicht die Schultern. Nichts!, besagte diese Bewegung. Der Präsident seufzte, um sich dann wieder zu konzentrieren.
„Sir, ich muss festhalten, dass Synga diesen Friedensvertrag unter allen Umständen ablehnt“, erklärte der Vertreter von Synga, Alpha Centauri, mit Nachdruck. „Ihnen müsste doch inzwischen klargeworden sein, dass die K’erubyjns die Föderation auf Gnade oder Ungnade ausgeliefert sehen möchten. Anders kann ich den Wortlaut ihrer Bereitschaftserklärung zu einem Frieden mit der Föderation nicht interpretieren. Die K’erubyjns waren uns schon immer feindlich gesinnt — sie sind es auch heute noch. Wie anders ließe sich sonst ihr Recht auf Überwachung der Handelswege unserer Schiffe erklären? Sich unter diesen Umständen auf Friedensverhandlungen einzulassen, ist meines Erachtens absurd. Ja, mehr noch, es ist unverantwortlicher Leichtsinn.“
„Ich bedauere es sehr, Mister Derlendt“, erwiderte John de Celan steif, „dass Sie den Vertrag unter derart falschen Gesichtspunkten sehen. Von Auslieferung auf Gnade oder Ungnade kann überhaupt nicht die Rede sein. Die Verhandlungen, die wir mit seiner Exzellenz, dem Botschafter von Garm, führten, zeigten vielmehr sehr deutlich, dass wir, akzeptieren wir den Vertrag, mehr als genug davon profitieren werden. Es zeichnen sich Wege ab, die zu einer neuen Ära der interstellaren Beziehungen führen könnten — wenn wir nur ein klein wenig gewillt sind, unsere Überheblichkeit aus dem Spiel zu lassen. Wir müssen zeigen, dass wir bereit sind, mit einem neuen Prinzip in ein neues Zeitalter zu treten ...“
Nelson Wallace hörte kaum zu. Er saß still auf seinem Platz und wartete mit unerschütterlicher Ruhe, dass seine Stunde kommen würde. So wie es jetzt aussah, war sie noch weit entfernt — die Stunde, in der sich Eere a Saarin erheben würde, um zu der Versammlung zu sprechen.
Mit einem entschuldigenden Lächeln erhob sich Wallace und begab sich nach draußen. Als sich die schwere Tür hinter ihm schloss, suchte er die Toilette auf. Mit prüfenden Blicken sah er sich um, er entdeckte keine Spionaugen. Der Raum wurde nicht überwacht, wie er richtig vermutet hatte.
Nun musste er schnell handeln.
Er beugte sich nach unten, schob das linke Hosenbein bis über das Knie hinauf und schlug dann kräftig gegen den Knöchel. Es klickte metallisch, sein Daumennagel fuhr an einer unsichtbaren Naht entlang — der Unterschenkel klappte auseinander.
Die Prothese war ein Wunderwerk menschlicher Erfindungsgabe und das Produkt der Bioelektrik; mit den entsprechenden Nervenenden des Beinstumpfes mittels winziger Drähte verbunden, wurde die Prothese von den elektrischen Energieimpulsen, den sogenannten Bioströmen, bewegt und beeinflusst. Es entstand kaum eine Beeinträchtigung der Bewegung.
In dem Hohlraum zwischen den elastischen Bändern, die die Muskeln und Sehnen ersetzten, saß ein blau schimmerndes, etwa fünfundzwanzig Zentimeter langes Stahlrohr mit einer Verdickung an einem Ende und mit ein paar nicht verkleideten Griffschalen, die jetzt noch umgeklappt waren.
Nelson Wallace reinigte den Lauf des primitiven, doch äußerst wirksamen Nadlers, klappte die Griffschalen auseinander und setzte ein Bündel Stahlnadeln ein.
Die Treibladung reichte nur dafür aus, das ganze Bündel von Nadeln auf einmal aus dem Lauf zu jagen. Aber Wallace benötigte nur diesen einen Schuss: Die Spitzen der Nadeln waren mit einem schnell wirkenden und absolut tödlichen Gift versehen. Und die Möglichkeit, dass er sein Ziel verfehlen würde, bestand nicht. Nelson Wallace traf ein Insekt im Fluge!
Er befestigte die Waffe in Brusthöhe an der Innenseite seines Pelzes, wartete noch einen Moment und ging dann wieder zurück.
„... und trifft es nicht zu“, sagte der Vertreter von Spica I gerade, „dass man diese Verhandlungen hinter unserem Rücken geführt hat, Sir?“
„Es mag richtig sein, Mister Keog, dass die Verhandlungen hinter Ihrem Rücken geführt wurden. Wobei ich mir nicht schlüssig bin, was Sie mit 'unserem Rücken' meinen. Soweit mir bekannt ist, ist Spica nichts anderes als eine Enklave der drei planetaren Systeme, die nur ein Mann vertritt, wie kommt er dazu, sich durch Sie vertreten zu lassen?“
Wie Keog reagierte, konnte John de Celan von seinem Platz aus nicht erkennen, wohl aber sah er, wie Tomlinson das Blut ins Gesicht schoss.
„Das ist reine Vermutung“, meinte der Vertreter von Inversall II. „Keiner von uns weiß, ob diese angedeutete Vermutung auch zutrifft.“
„Sie mögen recht haben“, erwiderte John de Celan. „Wir können es nicht beweisen. Aber ich habe mich umgehört und gewann daher diese Überzeugung.“ Auf der Pressegalerie war alles in heller Aufregung, die Kameras flitzten von einem Punkt des Saales zum anderen, fingen Schnappschüsse aus den Reihen der Mitglieder auf und sendeten sie über alle Bildkanäle. Die Sensation schien immer größer zu werden.
„Trifft es denn nicht zu, Mister Keog“, sagte John de Celan unerbittlich, „dass Sie für Ihre wenig glückliche Hand in wirtschaftlichen Fragen berühmt sind? Dass Sie Spica I beinahe an den Rand des Ruins gebracht haben?“
„Ich möchte wirklich wissen, was die wirtschaftlichen Schwierigkeiten von Spica I mit dieser Versammlung zu tun haben, Sir! Zur Sache, wenn ich bitten darf.“ Noch war Keog zuversichtlich — oder gab sich zumindest so.
„Gleich, Mister Keog“, antwortete John de Celan. Die Ironie in seiner Stimme wurde ätzend. „Erzählen Sie doch einmal dem Hohen Hause, was Sie dagegen unternommen haben, um diesen Ruin abzuwenden oder vielmehr, wer Ihre Schulden bezahlt hat!“
Unter der Zuhörerschaft brach Tumult aus. Nervöses Lachen erklang, vereinzelte Buh-Rufe wurden laut. Es gab wohl kaum einen Mann in der Versammlung, der nicht darüber informiert war, wer für Spica I die Schulden bezahlt hatte. Das Gelächter wurde langsam so stark, dass Homer A. Tomlinson beschloss, sich zu Wort zu melden. Er erhob sich langsam und wartete mit zorngerötetem Gesicht darauf, dass wieder Ruhe eintrat. Dann sagte er mit ärgerlicher Stimme:
„Der Vorfall, auf den Sie sich beziehen, Sir, gehört zu einer ganz normalen geschäftlichen Aktion. Die Unterlagen sind jederzeit einsehbar. Spica I liegt nun einmal in unmittelbarer Nähe der Gebiete, die ich zu verwalten habe. Was lag näher, als Spica I zu helfen, da es doch offensichtlich in Not geriet? Inwieweit Übelgesinnte darin eine unlautere Absicht sehen, ist mir rätselhaft. Ich möchte mit aller Entschiedenheit darauf hinweisen, dass ich in diesen Verleumdungen nur die eine Absicht erkenne: Nämlich von den eigenen Absichten des Präsidenten abzulenken, der uns einen Friedensvertrag mit den K’erubyjns aufschwatzen will. Der Vertrag ist von unseren Feinden diktiert und lässt unsere Bedingungen völlig außer Acht.“
„Und was hat es mit dem Vertrag auf sich, den Sie, Mister Tomlinson, mit Mister Keog geschlossen haben, in dem es heißt, dass sich Spica I voll und ganz hinter die Interessen Ihrer Liga zu stellen hätte, andernfalls mit Repressalien zu rechnen wäre?“
„Dieser Vertrag existiert nicht“, erklärte Tomlinson steif.
John de Celan sagte: „Soll ich dem Hohen Hause beweisen, dass der Vertrag existiert?“
Tomlinson antwortete nicht; die Unruhe im Saal verstärkte sich erneut. Auf der Pressegalerie redeten sich die Kommentatoren den Mund trocken. Gleichgültig, wie die Versammlung ausging — eines stand fest: Tomlinsons Thron würde erheblich wanken.
Jefferson Wild läutete die Glocke.
„Ruhe!“, sprach er ins Mikrofon. „Kommen wir endlich zur Sache. Als Ratsvorsitzenden interessieren mich Streitigkeiten der einzelnen Parteien herzlich wenig. Ich schlage vor, dass sich seine Exzellenz, der Botschafter von Garm, selbst zu Wort meldet, um uns seine Vorschläge zu unterbreiten.“
Jetzt, dachte Nelson Wallace, ist es bald so weit.
Leichte Unruhe ergriff von ihm Besitz, es war wie vor jedem seiner inzwischen schon unzähligen Aufträge. Die letzten Minuten vor der Tat ließen Jagdfieber in ihm aufkommen.
Wallace blickte nach rechts; er erkannte etwa zehn Reihen über sich James Catterton, dahinter jene Gruppe von Gouverneuren, die geschlossen wie ein Block hinter Homer A. Tomlinson standen. Sie würden auf ein Zeichen von Nelson Wallace einen Tumult provozieren, um die Aufmerksamkeit aller im Saal anwesenden Beamten der Sicherheitspolizei auf sich zu ziehen — und dann würde Nelson Wallace in Aktion treten.
Bis jemand überhaupt merkte, was da vorn hinter der Marmorbarriere geschah, glaubte Nelson Wallace Zeit genug zu haben, um verschwinden zu können. Er hoffte es zumindest.
Währenddessen sprach vorn Eere a Saarin. Seine hoch aufgerichtete Gestalt bot einen imposanten Anblick, und seine volltönende Stimme schien ohne elektronische Verstärkeranlagen bis hinauf auf die Pressegalerie zu reichen.
Nelson Wallace hörte zehn Minuten zu — dann hob er die Hand und schlug den Kragen seines Pelzes zurück, das verabredete Zeichen!
Der Tumult kam völlig überraschend für die meisten der Zuhörer. Die Stimme des Botschafters von Garm ging in dem Lärm unter, den rund fünfunddreißig Männer veranstalteten. Ein erstaunter und etwas ratloser Ausdruck erschien auf Eere a Saarins Gesicht. Dann neigte er den Kopf und lauschte den Worten, die ihm John de Celan zuzurufen schien, blieb aber stehen, wie Wallace mit Freude feststellte.
Das Geschrei wurde lauter. Ordnungshüter eilten durch den Saal und liefen zwischen den Rängen nach oben. Ein jeder erhob sich von seinem Platz, um die Urheber dieses Lärms zu sehen — auch Nelson Wallace stand auf. Seine Hand glitt in seinen Pelz und umklammerte den Nadler.
Ein Schauer lief über seinen Rücken, ein Schauer der Erwartung, ein Gefühl, das sich immer mehr steigern würde — bis zum Moment der Tat. Danach erst würde sich die Spannung lösen, in der er sich seit seiner Ankunft auf Terra befand.
Nelson Wallace zog die Hand aus dem Pelz, niemand schien die Waffe zu sehen, deren Lauf im hellen Licht matt schimmerte. Er war erregt — trotzdem verlor er nichts von seiner üblichen Vorsicht. Er hielt den Nadler in den Falten des Pelzes verborgen, riss ihn dann mit einer kaum wahrnehmbaren Bewegung hoch und drückte ab.
Aber sein Ziel war nicht mehr dort, wo es sich hätte befinden müssen ...
Unbemerkt von Nelson Wallace war an der Tür zum Saal etwas vor sich gegangen: Durch das Portal stürmten eine Anzahl von Beamten des Geheimdienstes mit gezogenen Waffen. Ihnen allen voran schritt eine mächtige Gestalt, die blitzschnell die Distanz zwischen Tür und Marmorbarriere überbrückte und sich zusammen mit zwei stämmigen Beamten auf den Botschafter von Garm stürzte. Sie rissen Eere a Saarin genau in dem Augenblick zu Boden, in dem Nelson Wallace schoss.
Abrupt endete der Tumult im Saal, lähmendes Schweigen trat ein. Wallace stieß einen lauten Schrei der Wut und Enttäuschung aus. Wild blickte er um sich, sah die Beamten, die auf ihn zueilten, und erkannte mit einem Mal, dass er verspielt hatte.
Die Stille dauerte an; jedermann begriff, was sich hier hatte abspielen sollen, und schwieg.
Mit unbeweglichem Gesicht ließ Nelson Wallace die Beamten herankommen und händigte ihnen schweigend die Waffe aus.
„Gouverneur“, sagte einer der Beamten, „darf ich Sie bitten, mir zu folgen!“ Der Gouverneur von New Kirkuk zog den Pelz eng um seine Schultern. Er schien zu frösteln. Dann tat er etwas Seltsames: Er wehrte mit einer Handbewegung die Beamten ab, die ihn in ihre Mitte nehmen wollten, wandte sich der Marmorbarriere zu und sagte mit lauter Stimme:
„Homer A. Tomlinson! Jetzt geht es wohl uns beiden an den Kragen ...“
*
Schweigend sah John de Celan aus dem Fenster hinaus in die Nacht. Er wartete auf etwas, das sich in den nächsten Minuten ereignen musste.
Hinter sich hörte er die Unterhaltungen der Männer und Frauen, die sich in der Tiefe des Raumes aufhielten. Er vernahm Lachen, Musik und Gläserklirren, und er dachte mit wehmütiger Freude in seinem alten Herzen: Es ist glücklich vorüber!
Vorüber war auch die Angst eines möglichen Misslingens seiner Ziele. Frieden würde auf Erden sein, und Frieden in der Galaxis. Tomlinson war endgültig geschlagen.
In etwa zwanzig Minuten würde sich drüben auf dem Raumhafen das mächtige K’erubyjn-Schiff in den Himmel heben. Es würde die Friedensbotschaft und die Bereitschaft der Menschen für eine glückliche Zusammenarbeit nach Garm tragen.
„So in Gedanken, Sir?“
John de Celan drehte sich beim Klang der Stimme zur Seite und sah auf Henry Masson, der lautlos wie immer neben ihn getreten war. Dann hob er den Blick und betrachtete den großen, breitschultrigen Mann, von dem er zu wissen glaubte, wer er war.
„Möchten Sie mich nicht bekannt machen, Henry?“ Ein feines Lächeln lag auf den Zügen des alten Mannes.
Henry Masson setzte eine zerknirschte Miene auf. „Das, Sir, ist Mister Wyngate. Ein verdienstvoller Mann.“
„Er übertreibt, Sir.“ Hagar lächelte verlegen.
„Sie haben uns allerhand Sorgen bereitet. Mister Wyngate. Wissen Sie das?“
„Ich weiß, Sir. Wenngleich ich bemerken möchte, dass man auch mich nicht gerade mit Samthandschuhen angefasst hat. Ich könnte durchaus noch auf den Gedanken kommen, Klage gegen diese Art von 'Befragung' zu erheben, der ich ausgesetzt war.“
Ein unbehagliches Schweigen entstand nach Hagars Worten. Dann entdeckte der Präsident ein ironisches Funkeln in Wyngates Augen und atmete unmerklich auf.
„Wollen wir es nicht vergessen?“, fragte er dann.
„Bitte.“ Hagar stimmte zu.
John de Celan wiegte den weißhaarigen Schädel und sagte: „Freuen wir uns, dass es doch noch gut ausgegangen ist.“
„Wie Sie meinen, Sir.“ Hagar neigte leicht den Kopf. „Was ist eigentlich aus Tomlinson geworden?“, erkundigte er sich dann.
Henry Masson antwortete für den Präsidenten.
„Wir haben ihm ein Ultimatum gestellt“, verkündete er. „Entweder eine öffentliche Aburteilung wegen Verbrechens an der Föderation oder Verzicht auf alle öffentlichen Ämter, Zurückgabe seiner planetaren Ländereien und völlige politische Inaktivität.“
„Und?“
„Er hat sich schließlich doch für Letzteres entschieden.“
Daraufhin herrschte für eine Weile Schweigen, in dieses Schweigen ertönte Edward Carths Stimme: „Meine Herren, darf ich Ihnen jemand vorstellen?“
Als sich Hagar umdrehte, sah er sich einer jungen Frau gegenüber, deren Gesicht ihm irgendwie bekannt vorkam. Dann erinnerte er sich, er hatte sie damals gesehen, als er an jenem denkwürdigen Abend zu Masson und Carth gebracht wurde. Trotzdem war er nicht auf das vorbereitet, was dann kam. Carth sagte nämlich:
„Miss Sayward Jacyna — und das hier“, er deutete mit einem langen Zeigefinger auf Hagar, „ist jener Mann, der Ihnen sehr viel über Ihren Vater erzählen kann.“
Während Hagar die kleine Hand behutsam nahm, die sich ihm zur Begrüßung entgegenstreckte, betrachtete er das Mädchen. Nun wusste er, was ihm an ihr so bekannt vorkam: Es waren zum Teil Benns Gesichtszüge. Dass er nicht eher diese Ähnlichkeit bemerkt hatte!
Verwirrt stellte er fest, dass er noch immer ihre Hand hielt, dass er noch immer ihr hübsches Gesicht bewunderte.
Er ließ endlich ihre Hand los und trat einen Schritt zurück, während ein kleines Lächeln über ihr Gesicht huschte.
Hagar hörte gerade noch, wie John de Celan zu Masson sagte: „Was meinen Sie, Henry! Sollen wir Mister Wyngate die Freude machen?“
„Worum geht es?“, erkundigte sich Hagar, während Henry Masson zustimmend nickte.
„Um den Posten eines Sekretärs in einem öffentlichen Amt.“
Hagar zuckte mit den Schultern. „Mir liegt nicht allzu viel an der Erde. Und noch weniger an einer Tätigkeit hinter irgendeinem Schreibtisch.“
„Wer spricht denn von der Erde?“, antwortete der Präsident. „Sobald Norman Vincent zurück ist, wird man ihn mit dem Posten eines Gouverneurs auf Garm betrauen. Sie sollen ihn begleiten — er wird den Rat eines Mannes benötigen, der die K’erubyjns kennt — und der furchtlos ist.“
„Sie meinen ... Ich könnte ...“ Verwirrt schwieg Hagar Wyngate, als er sich bewusst wurde, dass er stotterte.
„Also einverstanden, Mister Wyngate?“
Hagar nickte nur. Er wollte Dankesworte sprechen, aber dann sah er, dass die Aufmerksamkeit des Präsidenten von etwas anderem gefesselt wurde: Das K’erubyjn-Schiff startete.
Die strahlende Beleuchtung der Riesenstadt Nova Angeles verblasste gegen den blendenden Schein, der über dem Raumhafen aufloderte.
Die Helligkeit nahm zu.
Dann erhob sich an der Spitze einer Pyramide aus Feuer das Schiff und strebte dem offenen Raum zu, begleitet von den Hoffnungen der Menschheit, dass sich endlich Frieden ausbreiten würde in der Galaxis.
ENDE