Читать книгу 10 neue Alfred Bekker Strand Krimis Oktober 2021 - Alfred Bekker - Страница 12
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ОглавлениеNiemand zweifelte ernsthaft daran, dass dies ein Fall im Zuständigkeitsbereich des FBI war.
»Wenn diese Bronx Pirates es tatsächlich gewagt haben sollten, den Großen Alten aufs Kreuz zu legen, dann ergibt das eigentlich nur Sinn, wenn wir annehmen, dass irgendein anderes Syndikat den Drogenhandel neu aufteilen will«, meinte Milo, während wir zur letzten Adresse von Alan Reilly, dem selbst ernannten Bronx Commander, fuhren. »Schließlich dürften auch Reilly und seine Leute nicht lebensmüde gewesen sein, die wussten doch ganz genau, wie Imperioli reagieren würde.«
»Und dass sie es trotzdem getan haben, heißt, dass sie glaubten, jemand würde ihnen den Rücken frei halten«, schloss ich.
»Genau, Jesse.«
»Ich fürchte, der Krieg um die Bronx geht jetzt erst richtig los!«
Alan Reillys letzte gemeldete Adresse lautete 455 Deventer Road. Er hatte sie zumindest seinem Bewährungshelfer gegenüber angegeben, nachdem er seine letzte Haftstrafe nur zu zwei Dritteln hatte absitzen müssen. Wegen guter Führung. Es war kaum zu glauben.
455 Deventer Road war ein typischer New Yorker Brownstone-Bau, fünfstöckig und eine der besseren Adressen in der South Bronx. Ein zum Wohnhaus umgebautes Lagerhaus.
Ich parkte den Sportwagen am Straßenrand. Kurz danach trafen zwei Einsatzfahrzeuge der City Police ein. Schließlich musste Reillys Wohnung durchsucht und versiegelt werden. Ein Team der Scientific Research Division erwarteten wir eigentlich auch noch.
Mit dem Aufzug fuhren wir hinauf in den dritten Stock. Der Flur war übersät mit Kameras. In letzter Zeit gaben sich die städtischen Behörden größte Mühe, diesen Stadtteil von seinem Schmuddel-Image zu befreien. Es gab durchaus Erfolge. Allerdings frage ich mich, ob man eine mit Drogengeldern finanzierte Luxusrenovierung wirklich dazu zählen konnte. Leute wie Alan Reilly, der selbst ernannte Bronx Commander, verdünnten das Kokain, das sie von Syndikaten geliefert bekamen, mit Mehl, kochten es auf, und so wurde Crack daraus. Die Droge der Armen. Crack machte sofort abhängig. Die Betroffenen glichen oft Zombies, die wie lebende Tote durch die Straßen wankten und nur noch einen Gedanken kannten: wie sie an den nächsten »Stein« kommen konnten, wie man eine Crackportion auch nannte. Alles andere wurde den Betreffenden vollkommen gleichgültig. Wenn wir im Crack-Milieu zu ermitteln hatten, so trafen wir immer wieder auf völlig vernachlässigte und sich selbst überlassene Kleinkinder, die hilflos zwischen Bergen aus Müll dahinvegetierten, weil sich ihre süchtigen Eltern nicht mehr um sie kümmerten.
Diese Dinge konnte ich nicht vergessen, wenn ich an Männer wie Alan Reilly dachte, der sich großkotzig als Bronx Commander inszenierte, eine teure Maschine fuhr und wie ein Stadtteilpate aufzutreten beliebte. Das, womit sie angaben, war mit dem Leiden vieler Unschuldiger erkauft.
Allerdings hatte niemand – und das galt auch für einen Gangster wie Alan Reilly – es verdient, bei lebendigem Leib von beißwütigen Hunden zerfleischt zu werden.
Ähnliches galt natürlich auch für Brian Imperioli, der auf höherer Ebene daran verdient hatte, dass in der Bronx Crack-Zombies an den Folgen ihrer Sucht elendig verreckten. Wir waren gehalten, die Opfer von Verbrechen alle gleich zu behandeln und mit derselben Intensität nach ihren Mördern zu suchen – ob es sich nun um unschuldige Kinder oder berüchtigte Gangster handelte.
Wir erreichten Reillys Wohnungstür.
Er hatte sich eine besonders gesicherte Panzertür einbauen lassen.
Das musste seinen Grund haben. Im Leben hatte der Bronx Commander offensichtlich nicht nur Freunde gehabt.
Die Chipkarte, mit der man durch diese Tür gelangen konnte, hatte sich bei seinen Sachen gefunden. Nachdem die SRD-Kollegen sie im Schnelldurchgang nach Fingerprints und anderen Spuren abgesucht hatten, war sie uns durch Captain Gallego ausgehändigt worden. Jetzt holte Milo sie hervor, steckte sie in den dazugehörigen Schlitz, und wir konnten eintreten.
Die Wohnung bestand – abgesehen von Küche und Bad – aus einem einzigen, großen Raum. Die Einrichtung war in Schwarz gehalten. Kleidungsstücke lagen verstreut auf dem Boden. Es gab einen Rechner, zwei Spielkonsolen und einen überdimensional großen Flachbildschirm. Die Hüllen einiger Computerspiele lagen auf dem Boden. Alles Ego-Shooter.
»Die Konflikte, die Reilly im wirklichen Leben hatte, haben ihm offenbar noch nicht gereicht«, stellte Milo süffisant fest.
Unsere uniformierten Kollegen vom NYPD durchsuchten die Wohnung nach Drogen. Aber Reilly war zu clever, um hier Crack aufzubewahren.
Das Foto einer jungen Frau fiel mir auf. IN LIEBE – TAYLA stand darauf. Ich schätzte sie auf achtzehn oder neunzehn Jahre. Das Haar war dunkel gelockt, die Augen rehbraun. Im Register an der Telefonanlage fand ich die Nummer und Adresse einer gewissen Tayla Brown. Das war sie vermutlich. Sie wohnte nur ein paar Blocks entfernt. Vielleicht konnte sie uns irgendwelche sachdienlichen Hinweise geben.
Milo hatte in der Zwischenzeit den Rechner aktiviert und ließ nun die Finger über die Tastatur gleiten.
Die Passwortfunktion war noch auf Werkseinstellung – wie bei zwei Dritteln aller in Gebrauch befindlichen Rechner. Jedenfalls sagten Statistiken das, und deswegen hatten es Computerkriminelle auch so verdammt leicht.
»Reilly war online«, stellte er fest. »Er hat einige Black-Metal- und Gothic-Seiten besucht. Außerdem noch einen Server in Russland, den wir uns mal näher ansehen sollten … und dann sind da natürlich jede Menge Online-Spiele …«
»Was ist mit seinem E-Mail-Postfach?«, hakte ich nach.
»Der Zugang ist verschlüsselt.«
»Versuch den Namen, Vornamen, das Geburtsdatum …«
»… oder den Namen der Freundin. Ich weiß.«
Ich sah ihm über die Schulter. Mit dem Codewort »Tayla« hatte er Erfolg.
Eine Mail fiel ihm auf.
An der Adresse war erkennbar, dass sie vom John Doe Memorial Asylum stammte.
»Wieso hatte der eisenharte Bronx Commander Mailkontakt zu einer psychiatrischen Klinik?«
Milo öffnete die Mail.
Dort stand nur ein Wort in Großbuchstaben.
WANN?
Milo sah im Ausgangskorb des Mailprogramms nach, ob Reilly auf diese Nachricht geantwortet hatte.
»Keine Antwort«, stellte er fest.
»Er könnte sie gelöscht haben«, gab ich zu bedenken. »Unsere Spezialisten an der Federal Plaza werden sich das alles einmal genauer ansehen müssen.«