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Es war ein windiger, kalter Tag, als der ›Große Alte‹ auf dem St. Josephs Cemetery in der Elizabeth Street zu Grabe getragen wurde.

Milo und ich mischten uns unter die Trauergäste. Grob geschätzt waren mindestens fünfhundert Personen zu dem von einer zwei Meter hohen Sandsteinmauer umgebenen Friedhof gekommen, um Brian Imperioli die letzte Ehre zu geben.

Beinahe jeder, der in Little Italy einen Namen hatte, zeigte sich. Kollegen von uns hatten zwei Zimmer im sechsten Stock des direkt neben dem St. Josephs Cemetery gelegenen Hotels Four Seasons belegt. Von dort aus hatte man einen hervorragenden Blick über das Geschehen.

Über ein Mikro und Ohrhörer waren sämtliche an diesem Einsatz beteiligten Kollegen miteinander verbunden. Die Einsatzleitung lag bei Clive Caravaggio.

Die Analyse der Videobilder, die unsere Kollegen aufzeichneten, konnte uns vielleicht wertvolle Hinweise geben. Wenn wir beispielsweise sahen, dass irgendeine der großen Familien gar keinen oder nur einen niederrangigen Vertreter zur Trauerfeier entsandt hatte, war das unter Umständen ein Zeichen für einen hinter den Kulissen ablaufenden Machtkampf, bei dem nicht auszuschließen war, dass er mit der Ermordung von Brian Imperioli etwas zu tun hatte.

»Wenn man sich hier so umsieht, dann dürften diejenigen, die noch nichts im Strafregister vorweisen können, in der Minderheit sein!«, raunte Milo mir zu. »Diese Versammlung kann einem doch wie der fleischgewordene Beweis für die Vergeblichkeit jeglicher Resozialisierungsmaßnahmen erscheinen.«

Mir fiel eine Gruppe von Männern mit asiatisch aussehenden Gesichtern auf. Sie waren vollkommen in Schwarz gekleidet. Schwarze Anzüge, schwarze Rollkragenpullover. Unter den Jacketts beulten sich hier und da die Waffen hervor. Diese Truppe von insgesamt zehn sehr drahtig und durchtrainiert wirkenden Bodyguards gruppierte sich um einen Koloss mit der buddhaähnlichen Figur eines Sumo-Ringers.

Er trug einen schneeweißen Anzug.

Weiß – die chinesische Farbe der Trauer, wie ich mich erinnerte.

»Sieh mal, wen wir da haben!«, wandte ich mich an Milo.

»Raymond Wou, die große Nummer von Chinatown«, erkannte Milo den Koloss sofort.

»Chinatown liegt ja auch nur ein paar Straßen entfernt, Milo.«

Es wunderte mich trotzdem, dass dieses Schwergewicht hier auftauchte. Schließlich hatten sowohl Imperioli als auch Wou ihre Finger im Kokainhandel in der Bronx und waren somit direkte Konkurrenten.

»Wer weiß, vielleicht steckt Wou hinter Imperiolis Tod, und sein Auftauchen hier ist so etwas wie ein Friedensangebot«, vermutete ich.

Milo zuckte die Achseln. »Vielleicht hatte Wou sogar Verbündete in der Familie.«

»Du meinst, die verstoßenen Söhne des Großen Alten?«

»Hast du sie schon gesehen, Jesse?«

»Nein.«

Ihr Platz wäre eigentlich im engeren Kreis der Familie gewesen. Aber dort waren nur die Witwe Maria und der Lieblingsneffe und wahrscheinliche Nachfolger des Großen Alten zu sehen – Victor DiAndrea.

Letzteren schätzte ich als einen typischen Vertreter der neuen Generation von Mafiosi ein, die es schafften, ihren Kragen schneeweiß zu halten. Sie hatten von vornherein einen Teil ihrer Geschäfte im legalen Bereich und waren in der Wahl ihrer Mittel sehr viel subtiler und geschickter als ihre Vorgänger. Viele von ihnen hatten studiert. Vor allem Jura oder Betriebswirtschaft. Man kam an diese Leute einfach viel schwerer heran als an die Bosse der alten Generation, weil sie peinlich genau darauf achteten, dass keine Spur zu ihnen führte und sie selbst nie mit dem Gesetz in Konflikt kamen. Im schlimmsten Fall konnte ja irgendein kleiner Handlanger geopfert werden.

Leute wie Victor DiAndrea hatten eine Art angeborenen Lotoseffekt, der dafür sorgte, dass an ihren weißen Westen kaum etwas haften blieb.

Aber Gangster waren auch sie – wenn auch auf ihre Art.

Victor DiAndrea machte Millionen mit dem Leid von Crack-Zombies aus der Bronx und anderswo.

Der Sarg wurde ins Grab gesenkt. Ein katholischer Geistlicher sprach ein Gebet.

Nacheinander traten die Trauernden ans Grab.

Zuerst die schluchzende Witwe, getröstet und gestützt von Victor DiAndrea und umgeben von einem Dutzend grimmig dreinschauender Leibwächter. Anschließend weitere Mitglieder der Imperioli-Familie.

Im Gefolge jener Männer, die nach unseren Erkenntnissen die Capos der Imperioli-Organisation waren, fiel mir ein hagerer Mann auf. Ich schätzte ihn auf Ende fünfzig. Das Haar war grau und kurz geschoren. Ihm fehlte die obere Hälfte des linken Ohrs. Auf dem Kopf trug er ein Army-Barett. An das Revers des fleckigen Regenmantels hatte er einen Orden geheftet.

Ein Veteran, dachte ich spontan. Er musste Brian Imperioli in irgendeiner Weise nahe genug gestanden haben, um jetzt an seinem Grab zu stehen. Ich rechnete nach. Ich war nicht mit allen Einzelheiten aus Imperiolis Biographie vertraut, aber er hatte zweifellos zu den Jahrgängen gehört, die in Vietnam gedient hatten. Vielleicht war dieser Mann ein Kriegskamerad.

Er trat ans Grab.

Nahm seinen Orden von der Brust.

Und warf ihn ins Grab.

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