Читать книгу 10 neue Alfred Bekker Strand Krimis Oktober 2021 - Alfred Bekker - Страница 17
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ОглавлениеMaria Imperioli saß wie versteinert da. Von ihrem Gesicht war kaum etwas zu sehen. Der schwarze Schleier verdeckte es und ließ nur die Mundpartie frei.
Die Witwe des ›Großen Alten‹ war fünfundzwanzig Jahre jünger als ihr ermordeter Mann. Sie war Brian Imperiolis zweite Frau gewesen. Sie hatte in einem der Nobelclubs in Alphabet City bedient, in die Brian für ein paar Jahre sein Geld investiert hatte, um es besser waschen zu können. Brian Imperiolis Söhne hatten es ihr immer übel genommen, dass der Große Alte ihre Mutter verlassen hatte. Anfangs hatte sie versucht, mit Alex und Leon einigermaßen auszukommen. Aber das war ihr mehr schlecht als recht gelungen.
Ein schlanker Mann, Mitte vierzig, mit kurz geschorenen grauen Haaren, stand am Fenster. Blickte hinaus auf die Elizabeth Street.
»Chinatown dehnt sich immer weiter aus, während Little Italy Straßenzug für Straßenzug an die Gelben verliert«, meinte Victor DiAndrea hart. Er drehte sich zu Maria um. Seine Krawatte hatte mehr gekostet als bei den meisten New Yorkern der ganze Anzug. Eine goldene Nadel hielt sie exakt in ihrer Position. Victor DiAndrea wirkte aus dem Ei gepellt wie ein Katalog-Model.
»Brian ist noch nicht einmal unter der Erde«, sagte sie. »Da solltest du dich mit solchen abfälligen Bemerkungen zurückhalten!«, fand Maria.
DiAndrea lächelte kühl. »Wieso? Weil Brian seit seiner Zeit in Vietnam so ein Asien-Faible hatte?«
»Meinetwegen.«
»Für meinen Geschmack war er gegenüber den Schlitzaugen immer viel zu weichherzig«, war DiAndrea überzeugt. »Erinnere dich an die Krise vor zwei Jahren …«
»Brian hat mich zu wenig in seine Geschäfte eingeweiht, als dass ich mich an diese sogenannte Krise erinnern könnte«, sagte Maria.
»Ach, komm schon, spiel nicht die Unschuldige ! Ich bin überzeugt davon, dass du immer ganz genau wusstest, was läuft – mag Brian es dir nun freiwillig verraten oder du es auf eigene Faust herausgefunden haben.«
»Vic, hör auf. Das hat doch alles keinen Sinn.«
»Vor zwei Jahren hätten die Männer Schlange gestanden, um Raymond Wou, diesen Möchtegern-Paten aus Chinatown, umzublasen! Die Bottoni-Familie, der Scirea-Clan, unsere eigenen Leute … Dein herzensguter Mann hat es mit seinem Veto verhindert. Wer hätte schon etwas gegen das Wort des Großen Alten sagen wollen? Und was haben wir nun davon? Diese Schlitzaugen nehmen uns die Butter vom Brot.«
»Du übertreibst, Vic!«
»Nein, ich übertreibe nicht. Gegen Ende hat Brian es wohl auch erkannt, was für ein Fehler es war, Raymond Wou zu vertrauen. Er hat bitter dafür bezahlt. Nicht nur, dass Wou unserer Organisation nach und nach die halbe Bronx abgenommen hat, am Ende hat er auch noch sein wahres Gesicht gezeigt, als er Brian umbringen ließ.«
»Ich glaube nicht, dass Raymond für Brians Tod verantwortlich ist«, erwiderte die Witwe. Sie blickte auf.
»Ach, nein?«, fragte Vic DiAndrea. »Und weshalb nicht?«
»Die beiden kennen sich aus Vietnam. Brian hat dafür gesorgt, dass Raymond die Flucht in die USA gelang, als die Vietcong Saigon eroberten.«
»Davon wusste ich nichts«, sagte Victor.
»Es mag später das eine oder andere Problem zwischen den beiden gegeben haben, aber sie hätten dafür immer eine Lösung gefunden.«
»Dann sag ich dir jetzt auch mal was: Diese Drogendealer, die deinen Mann umgebracht haben, sind nichts anderes als Wous Marionetten. Das Schlitzauge hat den Bronx Pirates ein gutes Angebot gemacht, die Seite zu wechseln; dein Mann fährt in die Bronx, um für Ordnung zu sorgen und die Sache zu klären, wie man das von einem Boss erwarten kann, und kriegt dafür eine Granate in den Wagen gebrannt. So sieht es aus!«
Die Witwe erhob sich.
Sie trat näher an Victor heran.
Ihre mit schwarzer Spitze behandschuhten Finger strichen zärtlich über seinen Oberarm. Dann zog sie ihre Hand jedoch zurück, fast so, als hätte sie ein elektrischer Schlag getroffen.
Es schickte sich einfach nicht, was sie tat. Maria Imperioli war eine gute Katholikin. Sie war ihrem Mann gegenüber zumindest nach außen immer loyal gewesen, auch wenn es schon längst keine leidenschaftliche Liebe mehr gewesen war, die sie beide miteinander verbunden hatte. Das Verhältnis, das sie zwischenzeitlich mit Victor DiAndrea unterhalten hatte, stand dazu nicht im Widerspruch. Eine Scheidung wäre für Maria nie in Frage gekommen, auch wenn sie wusste, dass Victor sich in dieser Hinsicht mehr von ihr erhofft hatte.
Er sah sie an.
Jetzt wäre der Weg für uns frei!, schien sein Blick zu sagen, aber er hütete sich davor, dies laut auszusprechen.
Er spürte offenbar, dass Maria noch Zeit brauchte. Ja, sensibel war dieser Victor DiAndrea auch in anderer Beziehung. Er hörte förmlich das Gras wachsen, und in diesem Moment fragte sich Maria, ob an dem, was er gesagt hatte, nicht vielleicht mehr dran war, als sie zunächst gedacht hatte.
»Es gibt noch ein Problem, über das wir sprechen müssen«, eröffnete sie.
DiAndrea ahnte, worauf sie hinauswollte. »Du sprichst von deinen Stiefsöhnen, nicht wahr?«
»Ja. Sie werden es wohl kaum einfach hinnehmen, wenn du die Geschäfte übernimmst.«
»Es gibt eine Methode, die beiden ruhig zu stellen«, meinte Victor.
»Und die wäre?«
»Geld.«
»Es könnte sein, dass sie dadurch nur noch gieriger werden.«
»Dann sehen wir weiter, Maria.«
Wichtig war für Victor DiAndrea jetzt erst einmal, dass er als zukünftiges Oberhaupt der Imperioli-Familie in der Bronx Flagge zeigte und bewies, dass er sich nicht so einfach auf der Nase herumtanzen ließ.