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2 Lalibela – die Zagwe-Dynastie
ОглавлениеDie wichtigste Entwicklung am Horn von Afrika jedoch nach dem Untergang des Reiches von Aksum stellte der Aufstieg der Agau, einer Ethnie aus der Region Lasta, am Tekkeze-Fluss1 südlich des aksumitischen Stammlandes dar, die bereits in aksumitischen Quellen genannt wurde. Die Agau werden als eine der ältesten Ethnien in dem Raum betrachtet, in dem dann semitische Einflüsse als katalysatorisch bei der Entstehung von Städten und Staaten wirkten. Die Agau selbst waren kulturell-sprachlich jedoch kuschitisch geprägt. Die Sprache der Agau bildet das Substrat der südsemitischen Sprachen Tigrinya und Amharisch. In spätaksumitischer Zeit wanderten Agau-Gruppen aus dem Süden ins Gebiet von Tigray und Eritrea. Bugna, eine Region in Lasta im Nordwesten von Wello, ihre Urheimat, bildete das Kernland des Widerstandes gegen das späte Aksum. Aus der Agau-Bevölkerung geht die Zagwe-Dynastie hervor, welche die staatlich-christliche Tradition von Aksum aufnimmt und über ein Jahrhundert lang fortführt.
Sie bildet die Brücke zwischen der aksumitischen ›antiken‹ Epoche und dem langen salomonischen Zeitalter, das vom Hochmittelalter (unserer europäischen Periodisierung) bis fast in die Gegenwart reicht.
Das Aufkommen der Zagwe-Dynastie um das Jahr 1140 beendet die ›dunkle‹ Periode seit der aksumitischen Endzeit, die vor dem Jahr 1000 einsetzte. Wir wissen wenig über diese ›Zwischenzeit‹; die Überlieferungen über einen aksumitischen General, der eine Königstochter heiratete, dann seinen Schwiegervater liquidierte und als Usurpator den Thron einnahm, gehören ins Reich der Legende und beabsichtigen wohl vor allem, eine nicht wirklich nachweisbare Kontinuität herzustellen. Erster Zagwe-Herrscher soll Tekle Haymanot gewesen sein – nicht zu verwechseln mit dem hochverehrten gleichnamigen Heiligen dieses Namens aus dem 13. Jahrhundert. Die Zagwe bilden weniger eine echte Dynastie mit strenger patrilinearer Erbfolge, sondern eher einen Familienclan, aus dem der Herrscher jeweils kam. Das Reich der Zagwe erstreckte sich von Akkele Guzay (heutiges Eritrea, an der Grenze zu Tigray) im Norden bis südlich des Beselo, eines Nebenflusses des ›blauen Nils‹ (Abbay) in Wello, im Süden. Relativ gering war im Vergleich die Ost-West-Ausdehnung des Reiches. Im Westen gehörten beispielsweise die Region Begemdir und der Tana-See schon nicht mehr zum Zagwe-Staat; der Tekkeze-Fluss bildete die Westgrenze. Im Osten reichte der Staat kaum bis an den Awash-Fluss; dort hatten sich islamische Staaten gebildet. So stellt sich das von den Zagwe beherrschte Reich als ein relativ schmales Nord-Süd-Band dar, das nur einen kleinen Teil der heutigen Staaten Äthiopien und Eritrea umfasste und dessen südlichster Punkt weit nördlich der heutigen äthiopischen Hauptstadt Addis Abeba lag.
Die Region Lasta wird zum neuen Reichsmittelpunkt. Adefa (nördlich von Lalibela) übernahm zunächst die Funktion einer ›Hauptstadt‹. Aber der berühmteste Kaiser der Zagwe, Lalibela (1185 bis 1224/25),2 schuf sich ein besonderes Denkmal, das noch heute das herausragende Monument dieser Epoche und des gesamten ›orbis aethiopicus‹ darstellt. Der ihm zugeschriebene, aus dem Felsen gehauene Kirchenkomplex von Roha (über 300 km nördlich von Addis Abeba) wurde, wie der Ort selbst, nach ihm benannt und entwickelte sich zum Zentrum des Zagwe-Reiches. Lalibela ist vielleicht nicht das älteste Beispiel von aus dem Fels herausgearbeiteten Kirchen, aber bei weitem das Eindrucksvollste.3 Weitere Felskirchen gibt es im Norden im Hochland, von denen einige älter sein mögen.4 Kommt also den Zagwe wohl nicht die schöpferische Originalität zu, diesen Typ von außergewöhnlichem Gotteshaus erstmals geschaffen zu haben, so haben sie doch diese Kunstform in besonderer Weise ausgeprägt und sie in dieser Form zu der Vollendung gebracht, die heute weltweit die bekannteste ist.
Während im Volksglauben Kaiser Lalibela selbst eigenhändig Kirchenkomplex und Stadt geschaffen hat, muss dies faktisch einen längeren Zeitraum in Anspruch genommen haben, ist die Anlage doch mit erheblichem Aufwand gestaltet – so sind z. B. auch die Altäre im Kircheninneren aus dem Stein gehauen. Kaiser Lalibela gilt inzwischen als Heiliger und ist in zahlreichen teilweise phantasievollen hagiographischen und künstlerischen Darstellungen, die bis in die Gegenwart angefertigt werden, Teil der religiösen Identität und lebendigen christlichen Tradition am Horn von Afrika geworden.
Wenn auch der Zagwe-Staat als inlandzentriert und vom Meer abgewandt geschildert wird und als Beispiel für zunehmende Isolierung gilt, hatte das Reich doch Außenbeziehungen – etwa zu Ägypten, dessen koptische Kirche jeweils den Metropoliten ernennen und entsenden musste, oder nach Jerusalem, das im Weltbild der abessinischen Christen eine wichtige Rolle spielte und wo ihre Kirche seit den Tagen des Reiches von Aksum immer vertreten war. Mit den muslimischen Staaten, die sich im Osten gebildet hatten, kam es immer wieder zu Konflikten.
Zayla – an der Somaliküste unweit der heutigen dschibutischen Grenze – war der Hafen, über den weit gespannte Handelsbeziehungen des Zagwe-Reiches liefen, die damals allerdings weniger intensiv waren als noch in der aksumitischen Epoche. Der arabische Geograph al-Idrisi erwähnt unter anderem Gold- und Sklavenhandel (12. Jahrhundert). Zayla ist in dieser Zeit bereits vom Islam geprägt, befindet sich jedoch in einem Abhängigkeitsverhätnis vom christlichen Zagwe-Staat. In dessen Blickfeld ist auch die (eritreische) Region am Roten Meer, damals »Mitte der Küste« genannt. Möglicherweise waren die Ansätze, Agau jenseits des Mereb (ins heutige Eritrea) umzusiedeln, Teil eines Versuches, nach Norden zu expandieren und die Küstenregion stärker ans Reich zu binden.
Mit Yetbarak,5 einem Sohn Lalibelas (aber nicht sein direkter Nachfolger), der um 1240 auf den Thron gelangte, fand die Zagwe-Dynastie ihr Ende. Yekunno Amlak, ein amharischer Adeliger, soll eine Revolte von Schewa aus initiiert haben. Er konnte die Macht im Reich an sich reißen, nachdem er den letzten Herrscher der Zagwe-Dynastie 1268 getötet hatte und der letzte Widerstand der Zagwe 1270 endgültig gebrochen war.
Die Zagwe-Epoche ist mit ca. 130 Jahren weit kürzer als die vorhergehende knapp tausendjährige aksumitische oder die salomonische, die damals beginnt und einen Zeitraum von sieben Jahrhunderten ausfüllen wird. Lange galten die Zagwe im offiziellen Geschichtsbild als Usurpatoren, welche die (angeblich) rechtmäßige, auf alttestamentarische Zeiten zurückreichende salomonische Dynastie vorübergehend verdrängt hatten. Dieser historische Mythos soll die gewaltsame Machtergreifung durch Yekunno Amlak, der in Anspruch nahm, die Legitimität wieder hergestellt zu haben, begründen und rechtmäßig erscheinen lassen. Erst im Laufe der Jahrhunderte wurden die Zagwe rehabilitiert und fanden ihren positiven Platz im Geschichtsbild des abessinischen Reiches, wurden Zagwe-Herrscher als Heilige6 verehrt. Ihre Kirchenbauten bleiben bis heute eindrucksvolle Monumente des sakralen Charakters politischer Macht und bezeugen ihre Verwurzelung im christlichen Kontext des Horns von Afrika.