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Mai 2009
ОглавлениеJustizvollzugsanstalt Stuttgart, Deutschland
Valea saß in der kleinen Zelle und musterte die grauen Wände und das vergitterte Fenster. An diesen Anblick würde sie sich wohl oder übel gewöhnen müssen. Aber sie war zuversichtlich. Jedes Mal, wenn Sie einen solchen Raum betrat, tat sie es mit der Gewissheit, dass ein weiterer Psychopath zumindest für die nächste Zeit keinen Schaden mehr anrichten konnte. Und das war ja etwas Positives.
Seit zwei Monaten arbeitete sie für das forensische Institut in Frankfurt und hatte bereits einige Vernehmungen von potenziellen und verurteilten Mördern miterlebt.
Der Anblick einer solchen Zelle verlor nach und nach das Negative. Doch heute war ein besonderer Tag. Sie hatte lange überlegt, ob es eine gute Idee war, hierher zu kommen, und sie war zu dem Schluss gekommen, dass es wichtig war.
Wichtig für sie selbst, aber auch ein Stück weit für den Menschen, dem sie gleich gegenübersitzen würde.
Die Tür öffnete sich und ein Mann mittleren Alters wurde hereingeführt. Er trug Handschellen und ließ sich mit einem erwartungsvollen Lächeln ihr gegenüber nieder.
„Valea Noack.“
Seine Stimme war so rau und süffisant, wie sie es aus Filmaufnahmen in Erinnerung hatte.
„Dr. Noack“, korrigierte sie ruhig, ohne sein Lächeln zu erwidern. Sie betrachtete ihn von oben bis unten. Pierre Leblanc war ein etwa vierzigjähriger Mann, mit blonden, kurzgeschnittenen Haaren und einem weichen, freundlichen Gesicht. Seine braunen Augen beobachteten sie mit einem erwartungsvollen Ausdruck.
„Oh, ja stimmt“, grinste er. „Ich habe schon erfahren, dass Sie Ärztin geworden sind. Sie waren sogar in Afrika und haben dort Menschen gerettet. Wie nobel von Ihnen. Ein rettender Engel.“
„Das war nicht nobel, sondern es war mir wichtig“, korrigierte sie erneut. „Aber diese Zeit ist nun vorbei. Ich habe mein Metier gewechselt.“
„Oh, das klingt spannend.“
„Nein, es ist nicht spannend. Aber vermutlich unvermeidlich. Ich bin jetzt kein rettender Engel mehr, so wie sie es formulieren. Nun bin ich eine Jägerin.“
„Und wen jagen Sie?“
„Leute wie Sie, Pierre Leblanc. Psychopathen, Mörder, kranke Menschen, die anderen Menschen Schaden zufügen.“
Er fing tatsächlich an zu lachen.
„Im Ernst? Wie sind Sie denn auf diese Idee gekommen.“
Valea beobachtete ihn genau. Er lachte, aber in seinen Augen glomm ein wenig Ärger.
„Es hat eine Zeit gedauert“, gab sie zu. „Ich musste mich erst wiederfinden. Aber das ist mir inzwischen gelungen. Afrika hat mir dabei geholfen, keine Frage.“
„Dr. Noack.“ Er legte absichtlich einen verächtlichen Ton in seine Stimme. „Wollen Sie mir jetzt etwa triumphierend vorhalten, dass Sie ein besserer Mensch geworden sind, nur weil Sie Ihre eigenen psychischen Probleme mit der Jagd nach Mördern überspielen wollen?“
Jetzt lächelte sie doch. Aber es war nicht freundlich, sondern beinahe mitleidig.
„Nein, Herr Leblanc. Ich triumphiere nicht. Um ehrlich zu sein bin ich nicht hier, um Ihnen etwas zu beweisen. Ich wollte Ihnen nur einmal gegenübersitzen, um meine Vergangenheit endgültig abzuschließen.“
„Abschließen?“ Jetzt grinste er verächtlich. „Das werden Sie nicht schaffen. Sehen Sie immer noch das blutige Gesicht ihres Mannes? Und Ihre kleine Tochter, wie das Blut aus ihrem Bauch läuft? Wie es aus ihr herausspritzt und sie um Hilfe weint?“
Erwartungsvoll beugte er sich vor, um ihre Reaktion zu genießen.
„Ja, oft“, gab sie zu und sah ihm ruhig in die Augen. „Und jedes Mal weiß ich, dass meine Entscheidung, Ihresgleichen zu jagen, die richtige ist. Ich weiß, wie es ist, seine Familie zu verlieren, und ich weiß, was Angehörige von Mordopfern brauchen. Nämlich Gewissheit. Und das Gefühl, dass der oder die Täter für ihre Tat auch bezahlen. Sie werden hier nicht allein bleiben. Dafür werde ich sorgen.“
Sie lächelte ihn an. „Glauben Sie mir, ich vergesse es nicht. Niemals. Aber ich träume nicht mehr davon. Und das ist etwas, das ich Ihnen auch nehmen kann. Schon allein, dass Sie mich mit den Bildern meiner Tochter quälen wollten, wird meinen Kollegen genügen, um Sie wieder unter Medikamente zu setzen. Sie werden ebenfalls keine Träume mehr haben. Keine Schlechten, aber auch keine Guten mehr. Leben Sie wohl. Wir werden uns nicht wiedersehen. Ich werde gut schlafen, weil ich weiß, dass Sie hier sind und niemandem mehr wehtun werden. Aber Ihr Schlaf wird sicherlich trist und öde sein, so wie Ihr gesamtes restliches Leben. Sie werden dieses Haus nicht mehr verlassen. Nie mehr. Sie werden hier sterben. Und das ist gut so.“
Sie erhob sich und sah auf ihn herunter.
Pierre Leblanc war bei ihren letzten Worten blass geworden und hatte die Fäuste geballt. Jeglicher Hohn war von ihm gefallen.
„Miststück! Verfluchtes Miststück. Das werde ich dir heimzahlen!“
„Das glaube ich nicht“, erwiderte Valea sanft und verließ den Raum, ohne auf seine wüsten Beleidigungen zu reagieren.
Das Kapitel Pierre Leblanc war ein für alle Mal abgeschlossen.