Читать книгу Wächterin - Ana Marna - Страница 15
Juni 2012
ОглавлениеStaffordshire, England
Kein Tatort war wie der andere, doch eines hatten sie alle gemeinsam: Man fühlte das Entsetzen in der Luft liegen. Zumindest empfand es Valea jedes Mal so.
Der Friedhof des kleinen englischen Dorfes war natürlich prädestiniert dafür. Die Siedlung lag mitten in den Midlands und gehörte eindeutig zu den ärmeren Gemeinden der Grafschaft Staffordshire. Valea hatte auf der Herfahrt nur einige wenige ärmliche Cottages gesehen, die versteckt zwischen den Feldern lagen. Nur der Turm der kleinen Dorfkirche ragte deutlich sichtbar heraus und wirkte wie ein Leuchtturm als Wegweiser.
Sie betrachtete die Leiche zu ihren Füßen und wusste einfach, dass dieser Mord sehr schnell geklärt werden würde. Mord war es, das war selbst für jeden Laien deutlich zu erkennen. Der Kopf des Opfers war fast bis zur Unkenntlichkeit zertrümmert und der Körper mit zahllosen Einstichen übersät, die blutrot auf der weißen, nackten Haut der jungen Frau blühten. Hier war jemand sehr wütend gewesen. Dies war kein Fremdtäter, sondern etwas Persönliches, das erkannte sie sofort.
Traurigkeit erfasste sie. So ein junges Leben, auf so grausame Art beendet, das war schlichtweg furchtbar.
Schweigend öffnete sie ihren Koffer und begann mit ihrer Arbeit. Die herumstehenden Polizisten sowie die anderen Spurensucher blendete sie aus, und diese ließen sie ungestört arbeiten. In den Monaten, die sie an der Keele University arbeitete, hatte sie schon öfters ausgeholfen, wenn es um Leichenfunde ging. Dies war zwar nicht offiziell Teil ihrer Arbeit, doch sie nutzte solche Gelegenheiten gerne.
Jeder Mord verdiente es, beachtet zu werden und die Gewalt, die man dabei zu Gesicht bekam, war meistens grauenvoll. Doch Valea besaß die Gabe, daneben zu stehen und all die Entsetzlichkeit distanziert zu betrachten. Trotz ihrer Traurigkeit verlor sie nie das Wesentliche aus den Augen: ihre Arbeit. Bei ihren ersten Fällen hatte sie sich selbst gefragt, ob das normal war.
Sie war traurig. Sie war entsetzt. Und sie wollte die Täter finden. Vielleicht war Letzteres der Grund. Ihr Drang, Licht in die Entsetzlichkeit zu bringen. Der Gewalt ein Gesicht zu geben und es für alle sichtbar zu machen.
Sie arbeitete zügig und sah anschließend zu, wie die Leiche sorgfältig verpackt und abtransportiert wurde. Sie würde nur zu bald auf irgendeinem Stahltisch landen, doch nicht auf ihrem. Das war jedoch nicht weiter schlimm. Sie wusste um die Kompetenz ihrer Kollegen. Wenn sie mit ihrem Einsatz diesen helfen konnte, war alles gut.
„Wollen Sie nicht auch fahren?“
Die Stimme des jungen Polizeibeamten drang an ihr Ohr und sie sah sich um. Er stand einige Schritte hinter ihr und lächelte sie etwas unsicher an. Sie gab das Lächeln zurück.
„Gleich. Warten Sie nicht. Ich bin mit meinem eigenen Wagen da und werde noch ein wenig die Gegend betrachten.“
Er nickte und seinem Gesicht war eine leichte Skepsis zu entnehmen. Wahrscheinlich fragte er sich, wieso jemand freiwillig länger an so einem gruseligen Ort bleiben wollte. Sie vermutete, dass es sein erster Leichenfund war, da er bei ihrer Ankunft eine ziemlich blasse Gesichtsfarbe getragen hatte.
Mit einem leisen Lächeln sah sie ihm nach und schritt dann ein wenig weiter, so dass sie den Tatort ganz ihm Blick hatte.
Das Mädchen hatte nackt über einem der Grabsteine gelegen. Wie eine schlaffe Puppe. Zweifellos ein unheimlicher Anblick. Leichen auf einem Friedhof waren nichts Ungewöhnliches, doch diese Inszenierung wirkte morbid. Falsch. Falsch, wie jeder Tod.
Ihr Blick glitt über die Grabsteine und sie erschauerte unwillkürlich. Der Friedhof war alt. Sehr alt vermutlich, wenn sie auf die Einritzungen der Grabsteine sah. War ihr deshalb so kalt? Friedhöfe waren nie Orte, an denen sie sich wohl fühlte, obwohl sie Ruhe versprachen. Vielleicht lag das an der Beerdigung ihrer Familie, wenngleich sie sich an dieses Ereignis kaum erinnerte. Als ihr Sonnenschein und ihr Held begraben wurden, war nur ihr Körper anwesend gewesen. Nicht ihr Verstand. Und sie besuchte das Grab nur selten. Sie fand ihre Liebsten dort nicht. Sie waren weitergezogen, und das war gut so.
Doch Valea erinnerte sich, dass sie Friedhöfe noch nie gemocht hatte. Sie lösten ein Kribbeln in ihr aus, das nicht unbedingt unangenehm war, doch sie irritierte. Auf manche dieser Orte reagierte sie mehr als auf andere. Und dieser hier, auf dem sie gerade stand, war eindeutig ein mehr.
Sie schloss die Augen und sog die warme Luft durch ihre Nase. Es roch nach Blut und Gewalt, aber auch nach Blumen und Sommer. Die Kälte, die sie streifte, war so unvermittelt, dass sie die Augen wieder aufriss.
Doch da war nichts. Nur der Friedhof. Und das Blut auf dem Grabstein.
Sie horchte in sich hinein. Warum war ihr kalt? Nichts deutete auf eine Grippe oder dergleichen hin. Doch ihr Inneres war in Unruhe. Sie konnte ihre Empfindungen nicht einordnen.
Die Erinnerung an ihr letztes Treffen mit Roman Rothenstein vor etwa drei Monaten blitzte in ihr hoch. Er hatte sie in Polen aufgespürt und erneut zum Essen eingeladen.
Sie schmunzelte, als sie daran dachte, wie sie ihm zunächst einen Korb gegeben hatte, da sie gerade einen polnischen Kollegen unterstützte. Doch er war hartnäckig gewesen und in ihrer Nähe geblieben, bis sie schließlich eingewilligt hatte.
Auch dieses Mal waren die Gespräche lang und faszinierend gewesen. Sie erzählte ihm von den Opfern, an denen sie gerade arbeitete. Der polnische Gerichtsmediziner war von ominösen Leichenfunden überrollt worden, die eindeutig Fraßspuren aufwiesen. Valea konnte jedoch nachweisen, dass alle post mortem zugefügt worden waren und offensichtlich von einem Bären stammten, der in dieser Gegend sein Revier hatte. Die eigentliche Todesursache der Opfer war unklar. Ihre Leichen waren ausgeblutet, wiesen jedoch keine Stichverletzungen auf. Zumindest nicht an den Stellen, die der Bär unversehrt gelassen hatte. Letztendlich blieben sie unaufgeklärt und landeten auf Valeas „Frust-Stapel“. Sie war daher in einer eher übellaunigen Stimmung, als Rothenstein sie aufsuchte. Er schaffte es trotzdem, sie aus der Reserve zu locken, und Valea hatte ihm, entgegen aller Vorsätze, von ihrer Familie erzählt.
Von ihrem Sonnenschein und ihrem Helden. Sogar von ihrem Gespräch mit den beiden berichtete sie und das war schon erstaunlich genug. Bisher hatte sie dies nur ihrem damaligen Therapeuten erzählt.
Roman Rothenstein hatte sie nicht ausgelacht, sondern nur nachdenklich angesehen. Und dann hatte er etwas gesagt, mit dem sie niemals gerechnet hätte, dass es aus seinem Mund kommen würde.
„Es gibt nur wenig, was man über Geister weiß, Dr. Noack. Vieles davon ist natürlich nur dummes Gerede, Fantasiegespinste. Doch es gibt sie. Soviel steht für mich fest. Und wenn Sie tatsächlich mit ihrer Tochter und ihrem Mann geredet haben, besitzen Sie eine seltene Gabe.“
Sie hatte gelacht und etwas von verwirrten Neuronen und Stresshormonen gefaselt. Doch seine Augen hatten sie mehr als irritiert. Sie blickten so durchdringend und ernst, dass sie beinahe Angst bekam.
Warum dachte sie gerade jetzt an dieses Gespräch? Weil sie an einem Platz für Geister war? Natürlich war das Quatsch. Für alles gab es eine rationale Erklärung. Auch für Dinge, bei denen sie zurzeit ratlos war, soviel stand fest.
Mit entschlossenen Schritten verließ sie den Friedhof und ging auf ihren Wagen zu, der vor der kleinen Kirche parkte. Was auch immer dieser Ort in ihr auslöste, sie würde es heute nicht ergründen.