Читать книгу Wächterin - Ana Marna - Страница 14
September 2011
ОглавлениеFrankfurt am Main, Deutschland
Der Saal war nicht besonders groß, doch es hatten sich auch nur etwa hundert Teilnehmer angemeldet.
Valea stand vorne am Podium und ließ den Blick unbewusst über die Zuhörer schweifen. Seit zwei Stunden stand sie hier vorne und redete, diskutierte und stritt mit den Anwesenden. Es war hochinteressant, aber überaus anstrengend. Interessant, da es zu einem Thema so viele Meinungen geben konnte, und anstrengend, weil einige ihrer werten Kollegen nicht davor zurückschreckten, sie auch auf persönlicher Ebene zu attackieren, wenn sie ihren Argumenten nichts entgegensetzen konnten. Nie hatte sie die Ruhe verloren und alle Attacken ins Leere laufen lassen. Doch nun spürte sie, wie sich eine gewisse mentale Erschöpfung in ihr ausbreitete. Es wurde Zeit, die Diskussion zu beenden.
Ein Blick zum Veranstalter zeigte ihr, dass auch er schon ungeduldig wurde. Immerhin war direkt im Anschluss ein großes Buffet vorgesehen. Sie sah wieder mit einem freundlichen Lächeln zu ihren Kollegen.
„Nun, in Anbetracht der fortgeschrittenen Stunde und da ich glaube, auch den einen oder anderen knurrenden Magen gehört zu haben, schlage ich vor, dass wir unsere Diskussion vorerst unterbrechen und uns am Buffet stärken.“
Das fand Beifall und kurze Zeit später stand Valea im großen Foyer und staunte über die Massen an Speisen, die sich auf den Tischen türmten. Kurz blitzte die Erinnerung an ihre Arbeit im Kongo in ihr auf. Kein Zweifel, hier, mitten in Deutschland, genauer gesagt in Frankfurt, gab es keine Hungersnöte, sondern schamlosen Überfluss.
Sie griff nach einem Glas Orangensaft und nippte daran, während sie die Leute beobachtete, die zum Buffet strömten.
Einige Gesichter kannte sie inzwischen, doch viele waren ihr fremd. Vermutlich würden sie es auch bleiben. Gerichtsmediziner gab es so einige und die meisten verließen ihren Arbeitsplatz selten. Ab und zu ergaben sich Vorträge über spezielle Themen, so wie heute, und selbst dazu kamen noch lange nicht alle.
„Hat es Ihnen den Appetit verschlagen?“, erklang eine ihr bekannte Stimme hinter ihr. Valea fuhr erschrocken zusammen und drehte sich um.
„Roman Rothenstein.“ Sie sah überrascht zu ihm hoch. „Was machen Sie denn hier?“
Er ergriff ihre Hand und hauchte einen Kuss darauf.
„Ich habe zufällig gelesen, dass sie heute einen Vortrag halten und war einfach nur neugierig“, lächelte er. „Sie haben sich tapfer geschlagen, Frau Doktor. Die meisten der Anwesenden haben wohl einiges dazu gelernt. Und ich persönlich hätte nicht gedacht, dass die Untersuchung von Tierspuren an Leichen so vielschichtig und differenziert sein kann.“
„Jetzt nehmen Sie mich auf den Arm, Herr Rothenstein.“ Valea entzog ihm ihre Hand. „Und um auf Ihre Frage zurückzukommen. Ich habe durchaus Hunger, doch ich mag es nicht, mich in so einer Menge anzustellen.“
„Soll ich Ihnen den Weg frei kämpfen?“
In seinen Augen blitzte es humorvoll auf. Valea musste lachen.
„Sehr galant, aber nein. Ich habe es nicht eilig. – Und was machen Sie wirklich hier?“
Er hob die Augenbrauen.
„Sie glauben mir nicht? Wie schade. Dabei ist es tatsächlich die Wahrheit. Zugegeben, ich bin auch aus anderen Gründen dieser Tage in Frankfurt, doch diesen Abend habe ich mir tatsächlich für Sie frei gehalten. Wohin darf ich Sie also entführen? Ins Restaurant drei Etagen tiefer? Oder sollen wir uns außerhalb des Hauses einen gemütlicheren Platz suchen?“
Es war der gleiche Tonfall, wie bei ihrer ersten Begegnung: Er ging davon aus, dass sie auf seinen Vorschlag einging und wählen würde.
Valea schüttelte lächelnd den Kopf.
„Weder noch, Herr Rothenstein. Es ehrt mich zwar, dass sie Wert auf meine Begleitung legen, doch ich habe hier noch gesellschaftliche Verpflichtungen. Als Rednerin komme ich nicht umhin, in den nächsten Stunden als Gesprächspartnerin zur Verfügung zu stehen.“
Wieder blitzte es in seinen Augen auf, diesmal ärgerlich, doch er nickte langsam.
„Offenbar sind Sie eine Frau, die viel Geduld verlangt. Nun gut. Dann warte ich, bis Sie ihren Verpflichtungen nachgekommen sind.“
Er deutete eine Verbeugung an und zog sich zurück.
Valea verlor ihn beinahe sofort aus den Augen, doch sie war nicht lange allein. So wie sie es vermutet hatte, fand sie sich in den nächsten drei Stunden in anregende Gespräche verstrickt.
Es war schon nach Mitternacht, als sie erschöpft im Aufzug stand und nach unten fuhr. Erst da fiel ihr ein, dass es ja noch Rothenstein gab. Ob er tatsächlich auf sie wartete? Sie konnte es sich kaum vorstellen. Hoffentlich hatte sie ihn mit ihrer Abfuhr nicht allzu sehr vor den Kopf gestoßen. Das würde ihr leidtun.
Als sie ausstieg, stand sie ihm gegenüber und er musterte sie prüfend.
„Sie sind müde“, stellte er fest.
Valea seufzte.
„Sieht man das so deutlich? Ja, ich bin tatsächlich erschöpft.“
Er bot ihr seinen Arm an.
„Dann verzichten wir wohl besser auf ein Restaurant“, lächelte er. Zögernd legte sie die Hand auf seinen Arm und ließ sich nach draußen führen. Die Nachtluft war angenehm kühl und Valea war froh, dass dieses Hotel etwas außerhalb von Frankfurt lag. Die Luft war hier eindeutig besser.
Roman Rothenstein winkte ein Taxi heran. Er gab dem Fahrer Valeas Adresse an und setzte sich zu ihr nach hinten.
Eine halbe Stunde später erreichten sie Valeas Wohnung. Während der Fahrt war kein Wort zwischen ihnen gefallen, doch Valea hatte dies nicht als unangenehm empfunden. Im Gegenteil. Er ließ ihr Raum, sich zu entspannen und ihre Gedanken zu sortieren.
Rothenstein fragte gar nicht erst, ob er mit nach oben gehen sollte, sondern führte sie, kaum dass sie ausgestiegen waren, ohne zu zögern in den ersten Stock bis vor ihre Wohnung.
Valea protestierte nicht. Zwar war sie müde, aber auch neugierig, was für Gesprächsthemen an diesem Tag mit Roman Rothenstein aufkommen würden.
Der Zustand ihrer Wohnung war, wie meistens, nicht so, wie sie es bei Besuch gerne gehabt hätte. Im Wohnzimmer und in ihrem Arbeitsraum lagen unzählige Akten verteilt. Überall hingen Fotos, die einem unbeteiligten Laien wohl eher auf den Magen schlagen würden. Sie zeigten verfaulte Leichenreste, zerfetzte Gliedmaßen und blutige Verletzungen auf allen möglichen Körperteilen. Hätte sie geahnt, dass Roman Rothenstein wieder bei ihr auftauchen würde, hätte sie zumindest die Fotos weggeräumt. Andererseits schien der Zustand ihrer Wohnung ihn nicht zu stören. Er stand mitten im Wohnzimmer und betrachtete mit einem amüsierten Gesichtsausdruck das Chaos.
Valea war inzwischen zu dem Schluss gekommen, dass sie es wohl später bereuen würde, wenn sie sich ein Gespräch mit ihm entgehen ließ. Zumal sie am nächsten Tag ausschlafen konnte.
Sie räumte ein paar Akten von der Couch und dem Sessel. Dann verschwand sie kurz in der Küche und kehrte mit einer Flasche Wein zurück.
„Wenn die leer ist, gehe ich schlafen“, verkündete sie freundlich.
„Dann werde ich möglichst langsam trinken“, gab er lächelnd zurück und ließ sich auf der Couch nieder.
Er machte seine Drohung wahr. Die Stunden zogen dahin und Valea bemerkte es kaum. Wieder musste sie feststellen, dass dieser Mann ein fesselnder Gesprächspartner war.
Natürlich sprachen sie zunächst über ihre Arbeit, glitten darüber in die Psychologie und landeten dann bei der Psyche von Mördern.
Valea hatte inzwischen schon mit einigen Mördern Kontakt gehabt. Und natürlich brannte noch immer das Entsetzen in ihr über den Leichenfund in den Vereinigten Staaten.
Rothenstein lauschte ihren Erzählungen über diesen Fall ohne einen Kommentar dazu abzugeben.
„Ich weiß nicht, ob man diese Menschen als Monster bezeichnen kann“, meinte Valea nachdenklich. „Manche Leute tun es, weil diese Täter sich abnorm verhalten. Aber die meisten Psychopathen sind nicht widernatürlich hässlich und nur selten missgebildet. Und darauf zielt dieser Begriff ja eigentlich ab. Sie ticken einfach nur anders.“
„Früher wurden viele Menschen als Monster bezeichnet“, erinnerte Rothenstein. „Alles, was nicht ins damalige Weltbild passte, wurde dem Reich des Bösen und der Monster zugeschrieben.“
„Sie meinen die Hexenverfolgungen?“ Valea seufzte. „Die armen Frauen. Verfolgt, gefoltert und getötet, weil die Kirche mit ihrer Berufung nicht einverstanden war.“
„War es so?“, fragte er.
Valea hob die Schultern.
„Ich habe mich nicht so intensiv damit beschäftigt. Meines Wissens wurden vor allem Hebammen und Heilerinnen verfolgt, weil sie in den Augen der Männer damit zu viel Macht und Einfluss besaßen.“
„Hm, das ist ein weit verbreiteter Irrtum“, widersprach Rothenstein. „Im Gegenteil. Die Kirche war sogar diejenige, die letztendlich gegen die Hexenverfolgungen angegangen ist. Die Inquisition im Mittelalter war erstrangig gegen Häretiker gerichtet.“
Das war Valea tatsächlich neu.
„Und wer hat die Hexen verfolgt?“
„Das gemeine Volk. Und zwar schon immer. Man könnte sagen, seit es Menschen gibt, gibt es auch die Angst vor Hexen. Die Kirche hat sich sicherlich auch beteiligt, schon allein deshalb, um die Kontrolle über das Volk nicht zu verlieren, und weil sie schon immer Angst vor dem Übernatürlichen und vor Menschen mit magischen Fähigkeiten hatte.“
„Weil solche Menschen böse sind?“
Er hob die Schultern.
„Was auch immer man hineininterpretieren will. Sie werden alles finden: Weiße Hexen, Schwarze, Graue, Junge, Alte, Männer, Frauen. Wie es gerade passte.“
„Sie meinen, dass man immer nach Sündenböcken gesucht hat. Und das waren dann Menschen mit Handicaps oder besonderen Fähigkeiten.“
Er nickte. „Darauf läuft es hinaus.“
„Hm, dann ist es ja nur gut, dass diese Verfolgungen ein Ende haben.“
„Glauben Sie?“ Er nahm einen Schluck Wein und lehnte sich zurück. „Es gibt immer noch viele Völker, die ihre Hexen haben – und natürlich ihre Monster.“
Valea lächelte. „Ja, ich weiß. Afrika war da sehr inspirierend. Die Menschen dort haben eine ausgeprägte Fantasie, was ihre Fabelwesen angeht. Dagegen sind wir Europäer ja beinahe langweilig.“
Er lachte. „Finden Sie? Was für Monster kennen Sie?“
„Keins“, lächelte Valea. „Zumindest bin ich noch keinem begegnet.“
„Die europäische Mythologie ist reich an Monstern“, behauptete Rothenstein. „Doch viele sind in Vergessenheit geraten. Welche würden Ihnen spontan einfallen?“
„Mir? Ach du je. Sie wissen, das ist wirklich nicht mein Interessengebiet. Ich bin Realistin. Außerdem haben Sie mich bei unserem letzten Gespräch bereits mit diesem Thema bombardiert. Ich bin also gespoilert. Aber gut, was fällt mir ein? Hm, Hexen würde ich spontan nicht dazu zählen. Den Teufel vermutlich, Höllenhunde, Werwesen – ich habe keine Ahnung. Doch das ist alles Aberglaube. Meine Monster sind dagegen leider sehr real. Und sie sind schlimm genug.“
Sie zeigte auf die Bilder.
„Einige der Fotos zeigen die Folgen von Tierangriffen. Doch diese beiden dort stammen von den Attacken eines Mannes, der wie ein Tier über seine Opfer hergefallen ist. Das Ergebnis ist dasselbe, doch die Motivation eine völlig andere. Für mich sind nicht Hexen oder Wölfe oder Leoparden die Monster, sondern Menschen, die sich so atypisch und zerstörerisch verhalten.“
„Hm, nehmen wir mal rein hypothetisch an, eine Hexe würde ihre Magie dazu gebrauchen, Menschen so herzurichten wie dieser menschliche Mörder. Wie würden Sie sie dann bezeichnen?“
Valea seufzte. „Rein hypothetisch – unter der unrealistischen Annahme, dass es Magie gibt –, und wenn ich davon ausgehen kann, dass Hexen sterbliche menschliche Wesen sind, die normalerweise nach unseren Regeln leben, dann wären sie wohl auch psychopathische Monster.“
Sie sah nachdenklich zu den Bildern. „Wie gut, dass es nur eine Hypothese ist. Die echten Monster sind schlimm genug.“
Er lächelte. „Was auch immer echte Monster sind.“
Sie unterhielten sich noch lange über dieses Thema und erst als er sein Glas zur Seite stellte und sagte: „Jetzt ist es doch tatsächlich so weit gekommen, dass die Flasche leer ist.“, registrierte sie, dass es schon früher Morgen war.
Sie erhoben sich zeitgleich.
„Schlafen Sie wohl, Dr. Noack“, verabschiedete er sich. „Ich freue mich bereits jetzt auf unsere nächste Unterhaltung.“
Valea schlief an diesem Tag bis weit in den Vormittag hinein und träumte zum ersten Mal in ihrem Leben von Hexen, Werwölfen und anderen Monstern. Als sie erwachte, fühlte sie sich trotzdem wohl. Das Gespräch beschäftigte sie, wie immer, noch lange. Nicht, dass sie wirklich an Mythengestalten glaubte. Doch allein die Tatsache, dass ein so gebildeter Mann wie Roman Rothenstein sich so ausgiebig mit diesem Thema beschäftigte, dass sie bereits zwei lange Diskussionen darüber geführt hatten, war bedenkenswert.
Und noch eines ließ sie immer wieder grübeln. Warum hatte sie ihm nichts von ihrer eigenen Erfahrung berichtet? Es hätte hineingepasst. Geister waren auch erwähnt worden, doch sie hatte geschwiegen. Warum? Weil sie sich selbst und ihrer Wahrnehmung nicht traute? Nein, sie wusste, dass sie Mara und Daniel gehört hatte. Doch wer würde ihr das glauben?
Roman Rothenstein? Wohl kaum. Sein Interesse an dem Thema war echt, doch ob er an solche Dinge tatsächlich glaubte, wagte sie doch stark zu bezweifeln. Zudem war sie nicht bereit, mit ihm über intime Dinge zu reden. Roman Rothenstein war ein Fremder. Ein interessanter und informativer Gesprächspartner, ja. Aber fremd.
Je länger sie darüber nachdachte, desto mehr wurde ihr klar, dass sie auch in dieser Nacht nichts über ihn erfahren hatte. Irgendwie hatte er es sehr geschickt vermieden, dass das Gespräch auf ihn kam. Sie nahm sich vor, ihn beim nächsten Mal nicht so einfach davonkommen zu lassen – wann immer das auch sein würde. Möglicherweise würde es länger dauern, da sie im nächsten Monat eine Stelle in England antrat. Ob er sie dort finden würde? Sie hatte nur kurz überlegt, ihn darüber zu informieren, doch dann hatte sie es unterlassen. Sie war viel zu neugierig, ob er sie tatsächlich noch einmal besuchen wollte – und welchen Aufwand er dafür betreiben würde.