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Oktober 2010

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Frankfurt am Main, Deutschland

Es gab Tage, die man gerne vergessen würde, und genauso einer war heute.

Valea betrat ihre Wohnung mit einem Gefühl der Erleichterung, aber auch der Frustration. Den ganzen Tag hatten sie und ihr Assistent die Leiche eines älteren Mannes untersucht, die Passanten am Ufer des Rheins gefunden hatten. Sie erkannten schnell, dass er nicht ertrunken war, sondern vorher erdrosselt wurde. Doch die Leiche hatte schon zu lange im Wasser gelegen und die meisten Spuren, die zum Täter hätten führen können, waren fortgewaschen. Hilfreich war auch nicht, dass ihm die Fingerkuppen abgeschnitten worden waren und die Zähne herausgebrochen. Da war jemand sehr darauf bedacht gewesen, dass man diesen Mann nicht identifizieren konnte.

Valea bezweifelte, dass eine DNA-Analyse mehr Licht ins Dunkel bringen würde. Vermutlich wusste der Täter (oder die Täter), dass das Opfer zumindest mit Fingerabdrücken in einer Datenbank registriert war, sonst hätte er sich nicht so viel Mühe gegeben. Die Wahrscheinlichkeit, dass dieser Fall ungeklärt zu den Akten gelegt werden würde, war ziemlich groß. Das hatte sie auch dem grimmigen Gesicht des leitenden Kriminalbeamten entnommen.

Blieb zu hoffen, dass der Tote kein unschuldiges Opfer war. Aber die Ungewissheit war frustrierend.

Sie warf ihre Jacke über den nächstbesten Stuhl und steuerte auf das Badezimmer zu. Vielleicht würde eine Dusche den Stress des Tages beseitigen.

Kurze Zeit später stand sie in der Küche und schnipselte an den Zutaten für einen Salat. Viel Hunger hatte sie nicht, doch aus Erfahrung wusste sie, dass sie etwas essen musste, um ihren Konzentrationspegel hoch zu halten.

Die Wohnungsklingel riss sie aus ihren Gedanken. Automatisch sah sie auf die Küchenuhr über der Tür. Einundzwanzig Uhr. Wer wollte sie um diese Zeit besuchen? Ob es einer der anderen Hausbewohner war? Ab und zu gab es lästige Probleme zu klären, wie Putzdienst, Reparaturen oder einfach nur Unstimmigkeiten zwischen den Parteien. Meistens wurde Valea zur Schlichtung hinzugezogen und sie mühte sich nach Kräften, zu vermitteln. Bisher hatte es gut funktioniert.

Sie legte das Schneidemesser zur Seite und ging zur Wohnungstür.

Es war keiner der Hausbewohner. Überrascht sah sie an ihrem Besucher hoch.

„Roman Rothenstein.“

Er lächelte amüsiert zu ihr hinunter.

„Dr. Valea Noack. Darf ich hereinkommen?“

Sie überlegte.

„Wenn Sie mir erklärt haben, woher Sie meine Adresse kennen.“

Er lächelte breiter.

„Das war überhaupt kein Problem. Schließlich kenne ich Ihren Namen und Ihren Beruf. Und Sie haben sich nicht versteckt.“

Sie nickte und trat zur Seite, so dass er eintreten konnte.

Valea schloss die Tür und führte ihn durch den kleinen Flur ins Wohnzimmer.

Er sah sich interessiert um. Die Wohnung war nicht groß und das Wohnzimmer vollgestopft mit Regalen voller Bücher, einer kleinen Sitzgruppe und einem Schrank.

„Setzen Sie sich“, bat Valea. „Darf ich Ihnen was zu trinken anbieten?“

Er ließ sich auf einen der Sessel fallen und streckte die Beine von sich. Dann betrachtete er sie ausgiebig von oben bis unten.

Valea erwiderte seinen Blick ruhig und musterte ihn genauso interessiert. Er hatte sich kein bisschen verändert. Vor ihr saß der gleiche Mann, wie in Kinshasa. Die vergangenen fünf Jahre hatten keine Spuren an ihm hinterlassen. Sie hingegen hatte sich verändert. Das wusste sie. Vielleicht nicht so sehr äußerlich, doch innerlich mit Sicherheit.

„Sie haben Ihre Berufung gefunden“, stellte er nach seiner Musterung fest, ohne auf ihre Frage einzugehen. „Sie wirken ausgeglichener.“

Valea überlegte, wie er darauf kam. Im Moment fühlte sie sich nicht ausgeglichen. Nur frustriert.

Sie ließ sich ihm gegenüber auf der kleinen Couch nieder.

„Vielleicht, wenn man es insgesamt betrachtet“, gab sie schließlich zu. „Doch manchmal ist dieser Beruf auch deprimierend.“

„Wie heute.“

„Ja, wie heute.“ Sie nickte. „Aber das gehört wohl dazu. Warum sind Sie hier?“

„Ich war zufällig in der Gegend und ein wenig neugierig, wie es Ihnen ergangen ist.“

Sein Lächeln war verschwunden und er beugte sich vor.

„Ich habe gehört, dass Sie eine erfolgreiche Jägerin sind, Dr. Noack. Empfinden Sie das auch?“

Sie atmete tief durch.

„Das ist eine sehr persönliche Frage, Herr Rothenstein.“

„Ja, ich weiß.“ Jetzt lächelte er doch. „Aber manchmal kann man nicht umhin, persönlich zu werden, wenn man die Wahrheit hören will.“

„Es gibt keine Wahrheit. Das haben Sie mir selbst einmal gesagt“, erinnerte sich Valea. „Was ich fühle, ist eine Empfindung. Ein Eindruck, der auf meiner eigenen persönlichen Wahrnehmung beruht. Was ich empfinde, ist daher bedeutungslos.“

„Also hören Sie lieber auf das, was andere Leute über sie denken?“

Jetzt lächelte sie selbst.

„Nein, Herr Rothenstein. Warum sollte ich? Letztlich trägt jeder seine eigene Wahrheit in sich und niemand kennt die eines anderen.“

„Aber Sie sind eine Jägerin auf der Suche nach der Wahrheit“, beharrte Rothenstein.

Valea überlegte, ob er tatsächlich recht hatte. War das so? Sie schüttelte den Kopf.

„Nein, nicht nach der Wahrheit. Nach Gewissheit. Zumindest so viel Gewissheit, wie möglich ist, um Hinterbliebene zu trösten oder sie von Ungewissheit zu befreien. Das gelingt manchmal, manchmal aber auch nicht. Aber ich kann Ihnen zumindest sagen, dass es ein gutes Gefühl ist, wenn man weiß, warum eine Leiche auf meinem Tisch gelandet ist. Und noch besser ist es, wenn man herausfindet, wer dafür verantwortlich ist.“

„Was machen Ihre Opfer aus Afrika. Beschäftigen Sie sich noch mit Ihnen?“

Valea zögerte, doch schließlich nickte sie.

„Ja, soweit es meine Zeit zulässt. Ich bilde mich fort, was Spuren durch Tierfraß angeht.“

Er lachte leise.

„Sie sind sehr bescheiden, Dr. Noack. Soweit ich weiß, halten Sie inzwischen Vorträge über dieses Thema, und die meisten Ihrer Kollegen halten Sie auf diesem Gebiet für außerordentlich kompetent.“

Sie starrte ihn an.

„Sie informieren sich offensichtlich gründlich über mich. Gibt es dafür einen Grund?“

„Sie interessieren mich, Dr. Noack. Aber das habe ich Ihnen ja schon bei unserem ersten Treffen gesagt.“

„Hm“ Sie lehnte sich zurück. „Ich hoffe, Sie haben keine Stalker-Tendenzen.“

Er lachte wieder leise und in seinen Augen blitzte es kurz auf. Valea war sich nicht sicher, ob es Spott oder Erheiterung war.

„Doch“, gab er zu. „Manchmal habe ich die. Ich bin ebenfalls Jäger, Dr. Noack, und da sind solche Tendenzen sehr hilfreich. Aber seien Sie unbesorgt. Ich werde Sie nicht nachts heimlich durch ein Fenster beobachten und Sie auch nicht auf Schritt und Tritt verfolgen.“

Für kurze Zeit herrschte Stille. Dann griff er unvermutet zu einem Buch, das auf dem Wohnzimmertisch lag.

„Die Hexen von Eastwick.“ Jetzt war er eindeutig amüsiert. „Sie mögen Fantasy?“

„Nicht wirklich“, wehrte Valea ab. „Das Buch hat mir eine Kollegin ans Herz gelegt. Sie meinte, es wäre witzig und entspannend. Anscheinend habe ich den Eindruck vermittelt, dass es nötig sei.“

„Und ist es das?“

„Es lenkt ein wenig ab, ja. Aber ich mag die realistische Literatur mehr.“

„Sie glauben also nicht an Magie.“

Reflexartig lachte Valea auf.

„Nein, natürlich nicht. Ich kann mir aber vorstellen, dass solche Geschichten für viele Leute einen Reiz ausüben. Hexen, Monster, Vampire, was auch immer, spielen schließlich in allen Kulturen eine Rolle. Aber ich persönlich halte mich lieber an das, was ich sehen, riechen, hören und schmecken kann.“

„Das klingt sehr vernünftig“, nickte er. „Aber Sie müssen zugeben, dass Ihre Sinne ihre Grenzen haben. Glauben Sie nicht, dass es auch noch Dinge in diesem Universum gibt, die menschliche Sinne einfach nicht erfassen können?“

„Sicher ist das so“, gab Valea zu. „Und ja, ich stoße oft auf Grenzen und wünschte mir manchmal, hexen zu können. Doch da mir die einzigen Hexen bisher in Märchen begegnet sind, belasse ich sie auch gerne dort.“

Roman Rothensteins Augen funkelten auf unbestimmte Weise. Machte er sich über sie lustig? Warum sollte er? Bisher schien er immer ein sehr rationaler Mensch zu sein. Doch Valea stellte im Laufe des Abends fest, dass ihr Besucher ein weitaus vielseitigerer Gesprächspartner war, als sie bisher geglaubt hatte.

Die Zeit verflog und sie lauschte fasziniert seinen Erzählungen und Beschreibungen über Märchen, Mythen und Fabelwesen. Das Thema hatte ihn wohl eine lange Zeit beschäftigt, wie er zugab und Valea genoss seine Ausführungen und seinen Witz. Die Zeit verfloss, Wein kam hinzu und aus einer Flasche wurden zwei, bis Valea erschrocken feststellte, dass es bereits drei Uhr morgens war.

Unsicher erhob sie sich.

„Es ist spät, Herr Rothenstein und ich habe morgen wieder einen langen Arbeitstag.“

Er stand ebenfalls auf.

„Dann werde ich wohl besser gehen. Ich danke Ihnen für einen anregenden Abend, Dr. Noack, und wünsche Ihnen viel Erfolg auf Ihrem Weg.“

Als er verschwunden war, lehnte sich Valea mit geschlossenen Augen gegen den Türrahmen. Er hatte sich mit einem galanten Handkuss verabschiedet und hinterließ in ihr ein seltsames Gefühl. Mochte sie Roman Rothenstein? Sie war sich nicht sicher. Er war attraktiv, sogar sehr, und seine Nähe versetzte sie ein wenig in Unruhe. Mehr noch als bei ihrem ersten Kennenlernen. Aber sie hatte das unbestimmte Gefühl, dass dieser Mann nicht ungefährlich für sie war, obwohl keine seiner Handlungen und auch kein Wort darauf hindeuteten. Er behandelte sie respektvoll, rührte sie nicht an und schien nur an Gesprächen mit ihr interessiert zu sein. War sie deshalb so irritiert? Wollte sie, dass er sie anfasste? Dass er sich auch anders für sie interessierte? Sie spürte wie sich eine leichte Gänsehaut auf ihr ausbreitete, wenn sie an seinen intensiven Blick dachte. Den ganzen Abend über hatte er sie nicht aus den Augen gelassen, sie beobachtet, beinahe seziert. Doch noch immer wusste sie nicht, was er von ihr wollte. Was er in ihr sah.

Mit einem leisen Seufzer löste sie sich von ihrem Platz und steuerte auf das Badezimmer zu. In dieser Nacht würde sie darauf keine Antwort finden. Aber vielleicht bekam sie ja noch ein wenig Schlaf.

Wächterin

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