Читать книгу Wächterin - Ana Marna - Страница 17

Juli 2013

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Huntsville, Texas

Nie hätte Dr. Valea Noack vermutet, dass sie einmal eine Freundin haben würde.

Natürlich besaß sie Freunde. Bekannte, um es besser zu formulieren. Menschen, mit denen sie sich gut verstand, die sie mochte und von denen sie gemocht wurde.

Doch der einzige Mensch, dem sie sich voll und ganz anvertraut hatte, dem sie auch Peinlichkeiten, Ängste und Wünsche offenbarte, war Daniel gewesen. Ihr Held. Ihr Seelenverwandter.

Jasmin Lenz fiel sehr überraschend in Dr. Noacks Leben. Und sie tat es auf bizarre Weise, die normalerweise nicht darauf ausgelegt war, Freundschaften zu fördern.

Jasmin Lenz kotzte Dr. Valea Noack in den Schoß.

Die Ursache: Ein aufgeschnittener Leichnam, der sich bereits seit einer Woche in Verwesung befand.

Valea hatte die junge Frau schon länger im Blick, da ihre Gesichtsfarbe während der Autopsie nach und nach eine ungesunde Schattierung annahm. Sie gehörte zu einer Gruppe Studenten, die Einblick in die Welt der Forensik nehmen wollten. Alle hatten bereits Anatomiekurse hinter sich und selbst an Leichen herumgeschnitten. Doch verweste Leichen waren eine Klasse für sich. Es gehörte manchmal sehr viel Selbstbeherrschung dazu, den Anblick, aber vor allem auch die Gerüche zu ertragen. Und überraschend viele angehende Ärzte stellten fest, dass dieser Berufszweig ihre Sinne überforderte.

Jasmin Lenz gehörte eindeutig dazu.

Die junge Frau war hübsch, groß und schlank und entsprach mit ihren langen blonden Haaren, die sie natürlich unter einem weißen Haarnetz verborgen hatte, ganz dem amerikanischen Cheerleader-Image. Dazu kam ihre Neigung, unentwegt zu plappern. Zumindest am Anfang der Demonstration. Ihr Redefluss versiegte auffallend schnell, und dann setzte besagte Gesichtsverfärbung ein.

Valea konnte genau sehen, wann die Studentin aufgab und die Augen verdrehte. Ihr Ruf ließ alle anderen zusammenfahren.

„Gary, Achtung, Zweite von links.“

Ihr Assistent hatte die Situation bereits erfasst und war schon im Sprung, als Jasmin Lenz mit einem japsenden Laut in die Knie ging. Er fing sie gerade noch rechtzeitig auf und ließ sie vorsichtig auf den Boden gleiten.

Valea seufzte und sah zu, wie er die junge Frau kurz checkte und dann auf die Arme nahm, um sie hinaus zu tragen.

Kichern wurde laut und Valea räusperte sich.

„Verkneifen Sie sich bitte ihre Schadenfreude und konzentrieren Sie sich. Sensible Nasen sind keine Schwäche, sondern können durchaus von Nutzen sein!“

Ihre ruhige Stimme brachte sofort alle zum Schweigen und Valea fuhr mit ihren Erklärungen fort, bis Gary wieder auftauchte. Die Übergabe erfolgte einvernehmlich.

Valea unterdrückte ein zufriedenes Lächeln. Gary Lee war ein ausgesprochen zuverlässiger Assistent und sie hatten sich auf Anhieb verstanden. So ein Glück hatte sie auf ihren bisherigen Arbeitsplätzen nur selten gehabt. Wäre Jasmin ein Mann gewesen, so hätte Valea Gary die Betreuung überlassen, doch bei Frauen war sie gefragt.

Also marschierte sie in den Nebenraum und hockte sich auf einem Stuhl neben Jasmin, die in stabiler Seitenlage auf einer Liege lag, gerade als diese die Augen aufschlug und sich im hohen Bogen übergab. Das Ergebnis landete auf Valeas Schoß und ließ diese irritiert blinzeln. Das war ihr noch nie passiert. Dann sah sie in die erschrockenen hellblauen Augen der jungen Frau und konnte ein schräges Grinsen nicht unterdrücken.

„Spaghetti wäre nicht meine erste Wahl“, meinte sie dann trocken. „Aber ich bin froh, dass es nichts mit Fisch war.“

Jasmin Lenz schlug sich erschrocken die Hände auf den Mund.

„Oh mein Gott, wie peinlich“, piepste sie und ihre wächserne Blässe wich einem Scharlachrot.

„Bleiben Sie liegen“, lächelte Valea. „Es gibt Schlimmeres als das. Und wie Sie ja sehen, trage ich einen Schutzanzug. Allerdings werden Sie jetzt kurz warten müssen, bis ich Ihnen etwas zu trinken geben kann.“

Entschlossen entledigte sie sich ihres Schutzoveralls, den sie prinzipiell bei ihren Autopsien trug und packte ihn in eine Plastiktüte. Dann organisierte sie ein großes Glas Wasser und reichte es Jasmin, die es sofort dankbar an die Lippen setzte.

„Geht es jetzt besser?“

„Ja, vielen Dank, Dr. Noack.“

„Dann helfe ich Ihnen mal auf.“

Kurz darauf saß Jasmin auf der Liege und betrachtete Valea mit einem verlegenen Lächeln, aber auch deutlicher Neugier in den Augen.

„Sie sind echt cool, Dr. Noack. Stimmt es, dass Sie aus Deutschland kommen?“

Valea nickte. „Ja, ich bin noch nicht lange hier. Erst wenige Monate.“

„Oh, dann kennen Sie wahrscheinlich noch nicht viele Leute. Wo wohnen Sie denn?“

Valea überlegte, ob sie sich über so viel Neugierde ärgern sollte, doch Jasmin Lenz trug ein entwaffnendes Lächeln im Gesicht und versprühte eine Lebensfreude, die ihr sehr gefiel.

„Ich wohne einige Meilen von hier entfernt auf dem ehemaligen Cummings-Anwesen. Und nein, viele Bekannte habe ich noch nicht“, gab sie zu. „Aber sehr nette Arbeitskollegen.“

„Das ist doch nicht dasselbe“, grinste Jasmin. „Es geht dabei um quatschen, ausgehen und Spaß haben.“

Valea musste lachen.

„Mag sein, Miss Lenz, aber noch fehlt es mir nicht. – Mögen sie aufstehen? Die Autopsie ist noch nicht vorbei.“

Die junge Frau verzog das Gesicht.

„Oh je. Ehrlich gesagt glaube ich nicht, dass das etwas für mich ist. Ich fand ja schon normale Leichen grenzwertig.“

„Man kann sich daran gewöhnen“, lächelte Valea. „Aber dafür muss man es erst einmal aushalten. – Kommen Sie, ich helfe Ihnen.“

Sie half der Studentin auf die Beine und führte sie wieder in den Autopsieraum.

Jasmin Lenz wirkte nicht glücklich, aber sie hielt durch und ertrug die Witzeleien ihrer Kommilitonen überraschend heiter. Nichts schien ihre Fröhlichkeit zu erschüttern und Valea freute sich darüber. Lebensfrohe Menschen gab es viel zu selten.

Jasmin Lenz war nicht nur ein fröhlicher Mensch, sondern auch ein dankbarer. Bereits zwei Tage später erschien sie abends vor Valeas Tür, bewaffnet mit einer Flasche Wein und einer riesigen Tüte Chips.

Valea, die ausnahmsweise einmal früher zu Hause war, blickte überrascht in die fröhlichen Augen.

„Ich hoffe ich störe nicht, Dr. Noack.“ Jasmin schwenkte die Weinflasche. „Aber ich wollte mich noch einmal bei Ihnen entschuldigen und mich für Ihr Verständnis bedanken.“

Valea zögerte nur einen kurzen Moment, dann öffnete sie die Tür und ließ Jasmin Lenz in ihr Leben ein.

Bereits nach kurzer Zeit stellten die Frauen fest, dass sie trotz des Altersunterschieds und trotz ihrer konträren Charaktere einen guten Draht zueinander hatten. Die Chemie stimmte und schon bald trafen sie sich regelmäßig.

Valea genoss Jasmins Fröhlichkeit und wurde ihrerseits für diese ein Ruhepol in ihrem quirligen Leben. Die junge Frau war voller Experimentierfreude und scheute sich nicht, alles auszuprobieren. Natürlich ging dabei auch einiges schief und Valea fand sich schnell in der Rolle, Jasmins Scherben einzusammeln und Trost und Rat zu spenden, wann immer es von Nöten war. Sie nahm es gerne hin, denn Jasmin brachte sie zum Lachen. Außerdem entpuppte sich ihre neue Freundin als intelligent und wissbegierig.

Forensik kam für sie nicht in Frage, darüber waren sich beide einig. Doch sie hatte keine Schwierigkeit, an einer der Kliniken in Huntsville einen Praktikumsplatz zu finden, und Valea hörte von verschiedenen Seiten, dass die junge Frau fleißig und strebsam war.

Die Besuche wurden seltener, da Jasmin Schichtdienst hatte. Doch sie sahen sich immer noch regelmäßig, und Valea befand sich in der ungewohnten Situation, ab und zu ausgehen zu müssen. Jasmin war da gnadenlos. Sie genoss gemeinsame Abende auf der Couch und vor dem Fernseher. Aber genauso gerne zog sie durch Kneipen und Discos, um dort Freunde zu treffen und zu tanzen.

Einige wenige Male ließ sich Valea dazu überreden, doch wohl fühlte sie sich dabei nicht wirklich. Sie brauchte keine Menschen um sich. Gelegentliche Besuche von Jasmin reichten ihr. Aber ihre neue Freundin war hartnäckig und nötigte sie immer wieder dazu.

Nach wenigen Monaten war klar, dass Valea sie nicht mehr missen wollte.

Jasmin war eine fröhliche kleine Klette, die Licht in ihren Alltag brachte und immer für Überraschungen gut war.

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