Читать книгу Wächterin - Ana Marna - Страница 9
Juli 2005
ОглавлениеKinshasa, Kongo
Valea Noack reiste nach Kinshasa und nistete sich für eine Woche in einem Hotel ein, das relativ zentral gelegen war. Zumindest hatte sie hier Internetanschluss und konnte sich Zugang zu den wichtigsten Bibliotheken verschaffen.
Das Hotel war groß und nicht gerade günstig, bot aber einen hygienischen Standard, den sie lange vermisst hatte. Es besaß ein gutes Restaurant und ein großes Schwimmbad, sowie andere Zerstreuungsmöglichkeiten.
Valea nutzte lediglich das Restaurant. In den ersten Monaten ihrer Tätigkeit hier im Kongo hatte sie ihre freie Zeit dazu verwendet, um die Stadt zu erkunden und ein Gespür für die Menschen zu bekommen. Doch mittlerweile war der Reiz des Neuen verflogen und sie minimierte ihre Aktivitäten. Sie benötigte Ruhe, und die fand sie nicht auf den lärmenden Straßen von Kinshasa.
Endlich bekam sie Gelegenheit, ihr Kata-Training wieder aufzunehmen. Im Camp langte die Zeit und natürlich auch der Platz nur für kurze Meditationsphasen. Diese verhalfen ihr immerhin zu mehr Gelassenheit und Ausdauer.
Hier in dem großen Hotelzimmer konnte sie auch mit ihrem Katana Übungen absolvieren.
Die ersten zwei Tage verbrachte sie mit Mugai Ryū, viel Schlaf und regelmäßigen Mahlzeiten im Hotelrestaurant.
Doch dann setzte sie sich an ihren Laptop.
In den letzten Wochen hatte sie häufig an die bedauernswerten Opfer des Leoparden gedacht. Bisher hatte sie zwar schon Tierbisse behandelt, doch eine solch brutale Tierattacke war ihr noch nie untergekommen.
Neugierig durchforstete sie die Literatur zu solchen Fällen und stieß dabei auf Bilder, die noch sehr viel schlimmere Verletzungen zeigten. Die meisten waren tatsächlich durch dokumentierte Tierangriffe entstanden. Doch bei einigen Fällen, in ihren Augen bei viel zu vielen, gab es doch Ungewissheit.
Zu ihrer Überraschung stieß sie auf zwei Fälle, die die gleichen Verletzungen zeigten, wie ihre beiden Opfer hier im Kongo. Neugierig vertiefte sie sich in die Dokumentationen. Eine Leiche war im Busch gefunden worden, doch die zweite vor etwa fünf Jahren hier in Kinshasa! In beiden Fällen gab es keine Zeugen, doch wurde an den Toten fremde menschliche Fremd-DNA gefunden. Das war schon ein wenig rätselhaft.
Wie kam eine von einem Leoparden zerfleischte Leiche mitten in eine Großstadt? Hatte jemand sie dort hingeschafft? Aber warum? Oder war es ein entflohener Zooleopard gewesen? Man hatte beide Opfer identifizieren können und ihren Verwandten mitgeteilt, dass sie wahrscheinlich von einem Raubtier getötet worden waren. Doch Zweifel blieben.
Seufzend schloss Valea die Dateien und stand auf. Es war Zeit für ihre Übungen. Vielleicht klärten sich dann auch ihre Gedanken.
Am nächsten Tag machte sie sich schon früh auf die Suche nach einem ganz bestimmten Mann. Sie hatte seinen Namen mehrfach im Zusammenhang mit diesen seltsamen Leopardenangriffen gelesen. Er war der Rechtsmediziner, der den Toten in Kinshasa untersucht hatte.
Es war hilfreich, dass sie sich selbst als Medizinerin ausweisen konnte, und so stand sie bereits am frühen Nachmittag vor einem älteren Wohnhaus in der besseren Wohngegend von Kinshasa und las den Namen Dr. Marc Moreau auf dem Türschild.
Kurz nach ihrem Klingeln öffnete ein dunkelhäutiges junges Mädchen.
„Sie wünschen?“, fragte sie in exzellentem Französisch.
„Mein Name ist Dr. Valea Noack“, lächelte Valea. „Ich bin zwar nicht angemeldet, aber könnte ich trotzdem mit Dr. Moreau sprechen?“
„Um was geht es?“
„Um ein Fachgespräch bezüglich eines alten Falles.“
Die junge Frau musterte sie von oben bis unten, doch dann nickte sie.
„Kommen Sie herein. Ich werde Dr. Moreau fragen, ob er dafür Zeit hat.“
Sie musste nicht lange warten. Kurze Zeit später wurde sie in ein großes Arbeitszimmer geführt. Das Zimmer war mit dunklen Möbeln aus der Kolonialzeit ausgestattet und Valea kam sich beinahe wie in einem alten Film vor.
Dr. Moreau entpuppte sich als ein kleiner, etwa siebzigjähriger Mann mit Halbglatze und grauem Schnurrbart.
Valea mochte ihn auf Anhieb. Er kam ihr lächelnd entgegen und schüttelte energisch ihre Hand.
„Wie kann ich einer jungen Kollegin behilflich sein?“
„Es ist sehr nett von Ihnen, dass Sie mich spontan empfangen“, begann Valea. „Ich weiß gar nicht so recht, wie ich anfangen soll.“
„Dann erzählen Sie mir doch erst einmal, was Sie in den Kongo verschlagen hat. Ihrem Akzent nach stammen Sie aus Deutschland, nicht wahr?“
„Das haben Sie gut erkannt“, nickte Valea. „Ich arbeite zurzeit für Ärzte ohne Grenzen. In Kinshasa bin ich nur für ein paar Tage, um mich ein wenig zu erholen.“
„Und da rennen Sie gleich zu einem Kollegen um fachzusimpeln?“, schmunzelte er. Er führte sie zu einer kleinen Sitzgruppe. „Darf ich Ihnen etwas anbieten? Kaffee vielleicht? Oder Tee?“
„Ein Tee wäre nett.“
Er klatschte in die Hände.
„Cecilia“, rief er dann. „Sei so freundlich und bringe uns eine Kanne Tee. - Also, Dr. Noack. Wie kann ich Ihnen helfen?“
„Ich bin draußen im Camp und später dann im Busch auf zwei Todesfälle gestoßen, die - hm - sagen wir mal, ungewöhnlich sind und mich seitdem nicht mehr loslassen.“
Ausführlich berichtete sie von dem Verstorbenen im Camp und von der jungen Frau. Dann erzählte sie von ihrer Suche nach vergleichbaren Fällen, und dass sie dabei unter anderem auf den Toten aus Kinshasa gestoßen war.
„Er und noch ein anderes dokumentiertes Opfer weisen die gleichen Verletzungen auf.“
Dr. Moreau hatte bis jetzt kein Wort gesagt. Aufmerksam hatte er ihrer Erzählung gelauscht, und er wirkte ernst und konzentriert.
„Was kommt Ihnen an den Todesfällen seltsam vor?“, hakte er nach.
Valea überlegte.
„Die Verletzungen waren eindeutig die eines Raubtieres. Es wurde kein Schneidwerkzeug verwendet, und bei unserem Opfer im Camp haben wir bei der Obduktion Krallen- und Bissspuren identifizieren können. Doch die Vorgehensweise ist absolut untypisch für ein Tier. Es wurde in allen Fällen nach genau dem gleichen Schema vorgegangen. Als wäre es eine ritualisierte Handlung. Ich habe noch nie davon gehört, dass Tiere zu so etwas in der Lage sind. Wenn diese Tierbisse nicht wären, würde man wohl eher einen psychopathischen, vielleicht sogar sadistischen Serienmörder vermuten.“
„Seit wann beschäftigen Sie sich mit der Forensik?“, fragte Dr. Moreau. Valea konnte nicht verhindern, dass sie leicht errötete.
„Erst seit gestern“, gestand sie. „Wie gesagt, diese Fälle gingen mir in den letzten Wochen nicht aus dem Kopf, aber ich hatte keine Zeit, mich mehr in das Thema einzulesen. Und die Obduktion des Toten im Camp war leider nicht sehr gründlich. Wir hatten so viele Notfälle und meine Kollegen haben alle dafür plädiert, dass es ein Raubtier gewesen sein muss.“
„Doch Sie haben Zweifel?“
Sie zögerte mit der Antwort.
„Ja“, meinte sie dann. „Aber ich weiß nicht, ob diese Zweifel berechtigt sind, oder nur ein Hirngespinst. Deswegen komme ich ja zu Ihnen.“
Dr. Moreau stand auf und ging zu einem großen Schrank.
Er öffnete ihn und zog einen dicken Aktenordner hervor. Den legte er vor Valea auf den Tisch und setzte sich ihr dann wieder gegenüber.
„Ich möchte Ihnen etwas zeigen. Sehen Sie sich diesen Ordner an und lassen Sie mich an Ihren Gedanken teilhaben.“
Neugierig öffnete Valea den Ordner und stockte erst überrascht. Dann blätterte sie langsam weiter. Fotographien von zerfetzten Körpern, Zeichnungen und Fotos von Obduktionen, Obduktionsberichte, Zeugenaussagen und Zeitungsartikel blätterten sich vor ihr auf.
Alle hatten sie eines gemeinsam: Sie zeigten das typische Muster, das sie so irritiert hatte. Valea zählte beinahe dreißig Fälle, die innerhalb der letzten siebzig Jahre dokumentiert wurden. Die Ältesten waren entsprechend dürftig belegt, aber die Beschreibung der Wunden war eindeutig.
„Das ist unglaublich.“ Sie holte tief Luft. „Wenn ich das richtig erfasst habe, gab es bei all diesen Fällen keine Augenzeugen. Es wurde nur vermutet, dass es sich um Großkatzen handelte.“
„Die Bissspuren, die identifiziert werden konnten, sind eindeutig von einem Leoparden - allerdings von einem außergewöhnlich großen Exemplar“, wandte Dr. Moreau ein. „Aber Sie haben natürlich recht. Niemand hat gesehen, wie diese armen Menschen ums Leben kamen. Die Vermutung, dass es sich um ein Raubtier handeln musste, lag natürlich immer sehr nahe.“
„Sie haben diese Fälle gesammelt, nachdem Sie das Kinshasa-Opfer vor sich hatten“, vermutete Valea.
Er nickte.
„Ja. Mir kam die Vorgehensweise genauso merkwürdig vor wie Ihnen.“
„Zumal ein Leopard in Kinshasa wohl kaum unbemerkt herumstreifen könnte.“
„So ist es. Und dazu kam, dass wir noch etwas anderes an dem Opfer fanden, was bei den Vorherigen noch nicht möglich war.“
„Die DNA-Spuren.“
„Genau. Es war sehr viel menschliche Fremd-DNA auf dem Opfer verteilt.“
„Ein Sadist, der einen zahmen Leoparden zum Morden benutzt? Das ist - irgendwie absurd.“
Er seufzte.
„Sie denken wie ich. Das gefällt mir einerseits, aber andererseits bringt es uns nicht weiter.“
„Diese Fälle sind innerhalb von siebzig Jahren aufgetreten. Wie alt müsste der Mörder dann sein? Achtzig? Neunzig? Das ist nicht wirklich vorstellbar. Oder „vererbt“ er seine Vorgehensweise?“ Valea schüttelte frustriert den Kopf. „Das ist alles absurd.“
Dr. Moreau nickte zustimmend.
„Sie können sich vielleicht vorstellen, wie frustriert ich damals war. Offiziell wurde der Fall als Tod durch Raubtier abgeschlossen, aber Zweifel blieben natürlich. Wissen Sie, Dr. Noack, ich habe über dreißig Jahre Leichen obduziert und viel Schreckliches gesehen. Schlimmeres sogar, als das, was diesen Menschen in dem Ordner vor Ihnen widerfahren ist. Man kann es manchmal nicht fassen, wozu Menschen in der Lage sind. Was sie anderen Menschen alles antun können. Und manche Fälle lassen einen nicht los. Immer wieder denkt man über sie nach, überlegt, was man vielleicht übersehen hat, und hat das Gefühl, dass da etwas ganz Entscheidendes fehlt. Dieser Fall war einer davon. Und da Sie heute vor mir sitzen, glaube ich tatsächlich, dass mein Bauchgefühl mich nicht betrogen hat.“
Er seufzte leise.
„Leider ist es für mich jetzt zu spät. Ich werde wohl nie erfahren, wer oder was diese armen Menschen umgebracht hat. Meine Zeit mit den Opfern ist vorbei. Sie wissen, dass ich seit zwei Jahren im Ruhestand bin?“
Valea nickte. Dies hatte man ihr mitgeteilt.
„Nun, das ist vermutlich auch gut so. Ehrlich gesagt haben meine Augen in den letzten Jahren deutlich nachgelassen. Jüngere sind jetzt gefragt. Menschen wie Sie, Dr. Noack.“
„Ich bin keine Rechtsmedizinerin“, wehrte Valea verlegen ab. Dr. Moreau betrachtete sie nachdenklich.
„Sind Sie sich sicher? Ich glaube, Sie haben ein Auge, ein Gespür dafür. Und dass Sie hier sitzen, zeugt zumindest von einem gewissen Interesse.“
„Ich bin Ärztin geworden, um zu heilen. Zu helfen.“
„Was glauben Sie denn, was Forensiker tun?“
„Nun.“ Valea zögerte. „Sie versuchen herauszufinden, wie Menschen zu Tode gekommen sind.“
„Genau. Und es lohnt sich, darüber nachzudenken, wem Sie damit helfen.“
Er erhob sich.
„Dr. Noack. Es hat mich sehr gefreut, Sie kennen zu lernen. Sie scheinen mir eine sehr gescheite und sympathische Person zu sein. Es tut mir leid, dass ich Ihre Fragen nicht zufriedenstellend beantworten konnte.“
Valea stand ebenfalls auf.
„Das ist nicht schlimm, Dr. Moreau. Ich bin dankbar, dass Sie sich Zeit für mich genommen haben.“
„Leider nur wenig.“ Er schien es ehrlich zu bedauern. „Trotzdem muss ich Sie jetzt verabschieden. Ein alter Mann hat auch noch Termine, die er nicht versäumen sollte. Falls Sie irgendwann wieder in Kinshasa sind, dürfen Sie gerne bei mir vorbeischauen. Ich hoffe, dass wir dann mehr Zeit zum Plaudern finden. Eines möchte ich aber noch tun.“
Er hob den Aktenordner vom Tisch und reichte ihn ihr.
„Nehmen Sie ihn bitte. Ich weiß nicht, ob er für Sie relevant ist. Ob Sie jemals wieder hineinsehen werden. Aber ich habe so das Gefühl, dass er bei Ihnen gut aufgehoben ist.“
Valea blickte etwas sprachlos auf den Ordner in ihren Händen.
„Dr. Moreau, ich - ich weiß nicht, was ich sagen soll.“
Sie sah hoch und in seine freundlichen Augen.
„Sie brauchen nichts zu sagen, meine Liebe. Wie gesagt, meine Zeit mit den Opfern ist um. Wenn ich irgendwann mal sterbe, würde man diese Unterlagen einfach in den Müll werfen. Deswegen ist diese Gabe nicht wirklich viel wert. Doch ich sehe es ein wenig als symbolische Übergabe.“
Er zwinkerte ihr zu. Valea konnte ein spontanes Lächeln nicht unterdrücken.
„Vielen Dank, Dr. Moreau. Ich kann Ihnen nicht viel versprechen. Aber ich werde über unser Gespräch nachdenken.“
„Das ist das, was ich hören wollte“, lächelte er zurück.
Eine Stunde später saß Valea wieder in ihrem Hotelzimmer und starrte auf den Ordner, der zentral auf ihrem Tisch lag. Sie war sich nicht sicher, was sie bei seinem Anblick empfand. Es ehrte sie, dass Dr. Moreau ihn ihr anvertraut hatte. Aber was erwartete er von ihr? Dass Sie sich tatsächlich der Forensik zuwenden sollte?
Natürlich wusste sie in etwa, was diese Fachdisziplin beinhaltete, doch richtig beschäftigt hatte sie sich noch nie damit.
Sie griff nach ihrem Laptop. Nun, noch hatte sie ein paar Tage Zeit. Zeit, um sich zu informieren.
Den Rest des Nachmittags verbrachte Valea im Netz. Sie suchte nicht gezielt, sondern ließ sich eher von ihrer Neugierde leiten. Sie las alles, was irgendwie mit Forensik zu tun hatte und traf dadurch automatisch auf besonders spektakuläre Fälle. Aber auch auf jede Menge Statistiken.
Erschütternd viele Todesfälle konnten nicht geklärt werden. Das lag nicht immer an den forensischen Untersuchungen. Manchmal gab es einfach keine weiteren Spuren als die an den Leichen, und diese führten nicht immer zu den Tätern.
Was mussten die Angehörigen dieser Opfer nur aushalten? Womöglich würden sie nie erfahren, wer Schuld am Tod ihrer Liebsten hatte. Warum sie sterben mussten. Der Verlust allein war schon grauenhaft genug, das wusste sie nur allzu gut. Doch sie selbst kannte zumindest den Mörder ihre Familie. Und sie wusste auch, dass er im Gefängnis saß und für seine Tat büßte. Die Vorstellung, dass andere dieses Wissen nicht besaßen und den Rest ihres Lebens in Ungewissheit leben mussten, war schlichtweg furchtbar.
War es das, was Dr. Moreau gemeint hatte?
Halfen Forensiker den Angehörigen der Opfer?
Als Valea am folgenden Abend im Restaurant saß, lag vor ihr ein großer Stapel Blätter mit Zahlen, Bildern und Statistiken. Tagsüber hatte sie die nächstbeste Bibliothek aufgesucht, um Zugang zu einem Drucker zu bekommen. Dann hatte sie sich stundenlang auf die Suche nach forensischen Zahlen begeben. Wie hoch war die Aufklärungsrate? Wie waren die Vorgehensweisen? Was gab es für forensische Abteilungen? Gab es internationale Unterschiede? Was gab es für Fallbeispiele?
Der Papierstapel war hinterher viele Zentimeter hoch gewesen.
Jetzt lag er vor ihr und wartete darauf, gelesen zu werden.
Valea hatte sich absichtlich an einen der hintersten Tische direkt an der Wand gesetzt. Sie wollte nicht auffallen und ungestört bleiben. Vor ihr stand eine Flasche Wein, die sie bewusst bestellt hatte. Der Abend würde lang werden.
Ganz in Ruhe nahm sie ihr Abendessen zu sich und goss sich danach das erste Glas Wein ein. Dann zog sie den Papierstapel zu sich heran und begann, ihn langsam durchzublättern. Ihre Augen verharrten nur wenige Sekunden auf jedem Blatt, bevor dieses zur Seite gelegt wurde. Schon nach wenigen Blättern hatte sie ihren Rhythmus gefunden und saugte die Informationen in sich ein.
Zahlen, die ihrem Leben wieder eine Wendung geben würden.
„Guten Abend, Dr. Noack. Gestatten Sie, dass ich mich zu Ihnen setze?“
Valea blickte überrascht auf. Sie hatte nicht mitbekommen, wie der Mann an ihren Tisch getreten war, was eher ungewöhnlich war. Normalerweise bekam sie auch in konzentrierten Phasen immer mit, was um sie herum geschah.
Aufmerksam betrachtete sie ihr Gegenüber. Sie schätzte ihn auf Ende Dreißig. Er war groß und schlank gewachsen, doch ihr erfahrenes Auge registrierte eine athletische Körperspannung, die Kraft und Ausdauer verriet. Unter den kurzgeschnittenen schwarzen Haaren blitzten blaue Augen in einem attraktiven Gesicht. Sie erkannte osteuropäische Züge. Seiner Stimme war nicht zu entnehmen, aus welchem Bereich dieser Welt er stammte, doch sein Deutsch war völlig akzentfrei. Insgesamt war er eine gepflegte Erscheinung, wirkte aber nicht überkandidelt. Schwarze Jeans, ein maßgeschneidertes schwarzes Hemd und teure schwarze Lederschuhe ergaben eine interessante Mischung.
Als ihre Augen sich trafen, verbeugte er sich leicht.
„Roman Rothenstein. Ich war so frei, mich nach Ihrem Namen zu erkundigen. Sie gestatten?“
Valea zögerte. In seinem Tonfall hatte nicht wirklich eine Frage gelegen. Er schien sich sicher zu sein, dass sie nicht ablehnen würde.
„Sehr erfreut, Herr Rothenstein“, meinte sie schließlich. „Aber sie sehen sicherlich, dass ich mit meiner Arbeit noch nicht fertig bin. Wenn Sie sich zu mir setzen, werden Sie sich nur langweilen.“
Er hob überrascht die Augenbrauen. Ganz eindeutig hatte er nicht mit einer Abfuhr gerechnet.
„Sie überraschen mich“, gestand er dann. „Aber anscheinend unterschätzen Sie mein Interesse, Sie kennen zu lernen. Wenn es darauf ankommt, bin ich ein sehr geduldiger Mensch. Ich werde Sie nicht stören, bis Sie mit ihren Studien fertig sind, mein Wort drauf.“
Damit setzte er sich ihr gegenüber und winkte dem Kellner. Er deutete auf die Flasche Wein, woraufhin der Kellner nickte und davoneilte.
Valea war völlig überrumpelt. Eine solche Dreistigkeit hatte sie nicht erwartet. Aber gut. Wenn er Geduld zeigen wollte, würde sie ihm das ermöglichen.
Ohne ein weiteres Wort wendete sie sich ihren Seiten zu und nahm das Lesen wieder auf.
Die nächste Stunde herrschte Stille an ihrem Tisch, nur unterbrochen vom Rascheln der Seiten. Valea ließ sich von ihrem ungebetenen Gast nicht irritieren. Sie spürte seinen Blick, doch er schien nicht unfreundlich, und so konnte sie sich problemlos auf ihre Zahlen konzentrieren.
Endlich legte sie das letzte Blatt auf den Stapel und sah auf. Seine blauen Augen ruhten immer noch auf ihr und verrieten ein gewisses Amüsement.
„Sie besitzen ein fotographisches Gedächtnis“, stellte er fest.
Valea griff nach dem Weinglas und trank den letzten Schluck daraus. Kaum hatte sie das Glas abgestellt, da goss er auch schon nach.
„Sie sind sehr scharfsinnig“, lächelte sie und konnte nicht verhindern, dass leiser Spott zu hören war. Er schien nicht verärgert, eher im Gegenteil. Das Blitzen in seinen Augen verstärkte sich. Er hob sein Glas.
„Auf die Unfehlbarkeit der Statistik!“
Valea runzelte die Stirn und schüttelte den Kopf.
„Nein, das ist Blödsinn. Statistik ist nicht unfehlbar. Sie kann bewerten und Richtungen aufzeigen. Aber sie ist immer abhängig von der Fragestellung, der Methodik und durchaus auch von der Intention des Fragestellers.“
Jetzt lächelte auch er.
„Da haben Sie tatsächlich recht. Entschuldigen Sie meinen kleinen Test. Also dann: auf einen voraussichtlich interessanten Abend.“
Diesmal hob Valea langsam ihr Glas und stieß mit ihm an. Mittlerweile war sie doch neugierig, wer ihr da gegenübersaß. Roman Rothenstein lehnte sich ein wenig zurück, um sie noch besser betrachten zu können.
„Sie sind Ärztin. Forensikerin?“
Valea schüttelte den Kopf.
„Nein, ich bin praktizierende Ärztin. Dies hier, nun ja, ich bin einfach nur neugierig geworden und habe mich ein wenig informiert.“
„Eine deutsche, praktizierende Ärztin im Kongo. Hm, darf ich raten? Sie arbeiten für eine Hilfsorganisation.“
„Stimmt. Zurzeit bin ich für „Ärzte ohne Grenzen“ unterwegs.“
„Und gerade erholen Sie sich ein wenig und nutzen die Zeit, um Fragen zu klären. Darf ich wissen, was Sie erlebt haben, dass Sie ausgerechnet auf die Forensik gestoßen sind?“
Wieder zögerte Valea. Roman Rothenstein hatte nach wenigen Sätzen bereits so viele Schlüsse gezogen, dass es ihr beinahe unheimlich war. Wer war dieser Mann? Ihr Misstrauen war wohl offensichtlich, denn er ruderte sofort zurück.
„Entschuldigen Sie. Ich möchte Sie nicht aushorchen.“
Jetzt war es Valea, die die Augenbrauen hob.
„Nicht?“
Er lachte.
„Doch“, gab er dann zu. „Wie gesagt, Sie machen mich neugierig.“
„Weil ich allein hier sitze?“
„Nein. Alleinstehende Frauen gibt es hier wie Sand am Meer. Die meisten warten auf den passenden Mann oder die erotische Affäre. Aber das tun Sie eindeutig nicht. Sie genügen sich selbst. Und Sie leben im Hier und Jetzt.“
Diesmal blinzelte Valea überrascht. Es gab nur sehr wenige Menschen, die sie so beschreiben würden. Meister Seno Kunihiko gehörte dazu und einige wenige andere Personen, die sie vom Mugai Ryū her kannte.
War Roman Rothenstein ebenfalls ein Eingeweihter?
„Wer sind Sie?“
Ihre Frage forderte mehr als nur den Namen.
„Ein Reisender“, lächelte er. „Ich bereise die Welt und sammle.“
„Und was genau sammeln Sie?“
„Hm, das kommt darauf an. Besonderes. Dinge, die einzigartig sind, wertvolles Wissen, interessante Bekanntschaften - so wie Sie.“
„Ich bin nicht interessant, wertvoll oder einzigartig“, wehrte Valea unwillig ab.
„Sind Sie sich da sicher?“
Er beugte sich vor und ergriff so schnell ihre Hand, dass sie sie nicht rechtzeitig wegziehen konnte. Mit sanfter Gewalt hielt er sie fest.
„Ich glaube, wenn ich bei Ihren Arbeitgebern nachfragen würde, bekäme ich zumindest die Aussage, dass Sie sehr wertvoll sind. Einzigartig ist jeder Mensch, manche aber doch etwas mehr als andere. Und dass ich Sie für äußerst interessant halte, habe ich schon zum Ausdruck gebracht.“
Er führte ihren Handrücken an seinen Mund und hauchte einen sanften Kuss darauf.
Valea entzog ihm hastig die Hand. Sein Verhalten irritierte sie.
Wieder lehnte er sich zurück und gab ihr Raum.
„Dr. Noack.“ Seine Stimme hatte einen sanften Klang angenommen. „Ich will Sie nicht bedrängen. Wenn Sie darauf bestehen, werde ich mich zurückziehen. Allerdings möchte ich auf die Tatsache hinweisen, dass Ihnen dann mit Sicherheit anregende Gespräche entgehen. Ich bin nicht darauf aus, Sie zu verführen. - Noch nicht. Das ist bei weitem nicht abwertend gemeint. Sie sind äußerst attraktiv. Aber im Moment bin ich an Ihnen nur als Gesprächspartner interessiert.“
Valea ließ seine Worte in sich wirken. Sie waren freundlich und ohne Druck. Vor allem aber klangen sie ehrlich. Trotzdem, sie musste darüber nachdenken. Roman Rothenstein schien ein anspruchsvoller Diskutant zu sein, und es war sehr wahrscheinlich, dass auch persönliche Dinge zum Gesprächsthema werden würden. Sie wusste nicht, ob sie dafür bereit war.
„Geben Sie mir Zeit“, bat sie. „Ich muss darüber nachdenken.“
Er nickte zustimmend. „Gut, dann gestatten Sie mir, dass ich Sie morgen Abend nach dem Essen wieder aufsuche?“
„Gerne.“
Er erhob sich und deutete eine Verbeugung an.
„Dann freue ich mich auf morgen Abend. Schlafen Sie gut, Dr. Noack.“
Valea sah ihm nach und registrierte seine flüssigen Bewegungen. Unwillkürlich kam ihr der Gang eines Raubtiers in den Sinn. Kraftvoll, geschmeidig, immer in gespannter Erwartung auf eine Gelegenheit.
Sie schüttelte die Assoziation von sich. Roman Rothenstein war ganz gewiss kein Raubtier. Aber mit Sicherheit war er ein Mann, der genau wusste, was er wollte und wie er es erreichen konnte. Und sie passte offensichtlich in sein Beuteschema, - warum auch immer.
Sie konnte sich ein leises Lächeln nicht verkneifen. Vielleicht war eine nähere Bekanntschaft doch nicht so uninteressant. Zumindest würde er sie von ihren Grübeleien ablenken. Doch sie musste darüber schlafen. Sie hatte schließlich Zeit dafür, und die wollte sie auch nutzen.
Am nächsten Abend saß Valea an ihrem Tisch und ließ während des Essens den Blick schweifen. Roman Rothenstein war jedoch nirgends zu sehen. Beinahe spürte sie Enttäuschung in sich hochsteigen. Den ganzen Tag waren ihre Gedanken um diesen geheimnisvollen Mann gekreist. Erst die letzten Mugai Ryū Übungen hatten sie wieder zur Ruhe kommen lassen. Als sie ihr Katana zurücklegte, wusste sie, dass sie Roman Rothenstein näher kennen lernen wollte. Vielleicht konnte sie seine Gesprächsbereitschaft sogar nutzen, um Ordnung in ihre eigenen Gedankengänge zu bringen.
Sie griff zu ihrem Weinglas und leerte es. Als sie es senkte, stand er vor ihr. Wieder hatte sie nicht mitbekommen, wo er herkam, und wieder war sie irritiert.
„Haben Sie sich entschieden, Dr. Noack?“, fragte er. Sie nickte und erwiderte sein Lächeln.
„Das habe ich, Herr Rothenstein. Ich muss zugeben, dass Sie mich neugierig gemacht haben.“
„Das höre ich gerne.“ Er hielt ihr die Hand hin. „Darf ich Sie an einen angenehmeren Platz führen, an dem wir ungestört sind?“
Valea ergriff die Hand und erhob sich.
„Gerne.“
Er brachte sie in den Kellerbereich, wo eine gemütliche Bar war, die von leiser Musik beschallt wurde. Sie zogen sich in eine Nische zurück, die etwas abgelegen zu den anderen Tischen lag.
Roman Rothenstein bestellte eine Flasche Wein und wandte dann Valea seine gesamte Aufmerksamkeit zu.
Valea war angenehm überrascht. Ihre neue Bekanntschaft entpuppte sich nicht nur als neugierig, sondern auch als erstaunlich belesen und wortgewandt. Sie genoss es, endlich einmal einen Gesprächspartner zu haben, der sie mit seinen Fragen und anspruchsvollen Gedankengängen herausforderte. Natürlich drehte es sich anfangs um sie selbst. Innerhalb kürzester Zeit wusste Roman Rothenstein mehr über ihren beruflichen Werdegang und ihre Motivation zu diesem Beruf als irgendein anderer Mensch. Doch als er weiter in ihre Vergangenheit eindringen wollte, blockte sie dezent ab. Noch kannte sie diesen Mann nicht gut genug, um mit ihm über private Dinge zu reden. Er akzeptierte es und wandte sich wieder anderen Themen zu. Schließlich griff er das Thema Forensik auf und wiederholte seine Frage vom Vortag.
„Was haben Sie im Busch erlebt, dass Sie sich jetzt für Forensik interessieren?“
Valea antwortete nicht sofort. Doch ihr Zögern dauerte nicht lange. Es gab keinen Grund, diese beiden verstörenden Erlebnisse zu verschweigen. Interessiert lauschte Rothenstein ihrer Erzählung.
„Wenn ich Sie richtig verstanden habe, zweifeln Sie, dass die beiden bedauernswerten Menschen von einer Großkatze getötet wurden.“
„Ich bin mir nicht ganz sicher“, bestätigte Valea. „Diese Verletzungen waren so - gezielt - so systematisch. Natürlich gibt es bestimmte Vorgehensweisen bei Raubtieren, doch so etwas ... Es hatte etwas Bewusstes an sich. Solch eine Bewusstheit ist menschlich, nicht tierisch. Und zumindest bei dem Mann wurde ja auch behauptet, dass ein Mensch gesehen wurde. Dass er dann angeblich zum Leoparden wurde - na ja.“
„Anioto ist ein Begriff aus der afrikanischen Mythologie“, meinte Rothenstein nachdenklich. „Er beschreibt die Leopardenmenschen.“
Valea nickte. „Ja, ich habe darüber nachgelesen. Allerdings bezeichnet es auch eine Gruppe von Menschen, die sich für Leoparden halten. So eine Art Geheimbund, der die Leoparden verehrt und seine Opfer mit echten Leopardenkrallen tötet. Ganz schön abstrus. Aber möglicherweise gehen diese Tötungen ja darauf zurück.“
Rothenstein betrachtete sie aufmerksam. „Was haben Sie noch darüber herausgefunden?“
„Über diese Leopardenmenschen? Nicht allzu viel. Dafür habe ich mehrere Todesfälle gefunden, die auch in diese Richtung deuten. Zumindest eine Leiche wurde mitten in Kinshasa entdeckt. Ihr Tod konnte nie ganz geklärt werden. Die Bissspuren deuten auf eine sehr große Raubkatze hin, doch wie die hierhergekommen sein soll, konnte nie geklärt werden. Die Vorgehensweise war übrigens genau die gleiche wie die Fälle im Busch. Ich habe mich mit dem damaligen Gerichtsmediziner unterhalten und er teilt meine Überlegungen und Zweifel. Außerdem hat er noch an die dreißig ähnlich gelagerte Fälle ausgegraben, die bis zu siebzig Jahre zurückreichen. Das ist schon reichlich seltsam.“
„Und deswegen beschäftigen Sie sich jetzt mit der Forensik.“ Das war keine Frage, sondern eine Feststellung. „Was haben Ihnen die ganzen Statistiken verraten?“
„Hm.“ Valea überlegte. „Dass es viel zu viele ungelöste Fälle gibt. Gute Forensiker gibt es viele, aber häufig scheitert es an fehlenden Spezialisten. Der internationale Austausch ist nicht schlecht, doch er könnte noch deutlich besser sein. Hinderlich sind häufig diese politisch bedingten Zuständigkeitsstreitereien. Das ist - traurig.“
„Es ist etwas Persönliches“, vermutete Rothenstein vorsichtig. Wieder antwortete sie nicht sofort.
„Das ist möglich“, räumte sie schließlich ein. „Die Vorstellung, dass die Angehörigen der Opfer niemals Gewissheit haben werden, ist sehr bedrückend.“
„Wie lange bleiben Sie noch im Kongo?“
„Noch etwa vier Monate.“
„Und was wollen Sie dann tun?“
Valea starrte in das halbleere Weinglas.
„Darüber werde ich noch sehr gründlich nachdenken müssen. Ich habe viele Optionen, aber ich weiß noch nicht, welche die Passende ist.“
Das Gespräch dauerte noch lange an. Erst gegen drei Uhr morgens brachte Rothenstein sie bis zu ihrem Zimmer und verabschiedete sich mit einer angedeuteten Verbeugung.
In Valea kreisten noch lange die Gedanken um dieses außergewöhnliche Gespräch. Erst eine bewusst eingeleitete Meditationsübung ließ sie in den Schlaf gleiten. Zum ersten Mal seit langer Zeit träumte sie wieder von einem blutroten Meer. Doch dieses Mal war es nicht ihr eigenes Meer. Es waren viele Ströme, fremde Rinnsale von Blut, die um sie herummeanderten und im Nirgendwo verschwanden.
Sie verspürte keine Angst, keine Verzweiflung. Nur eine tiefe Traurigkeit.
Am nächsten Abend erschien Roman Rothenstein nicht an ihrem Tisch, aber das empfand sie nicht als enttäuschend. Sie hatten sich nicht verabredet und auch ein Rothenstein hatte sicherlich noch anderes zu tun, als mit ihr Gespräche zu führen. Sie zog sich früh auf ihr Zimmer zurück und nutzte die Zeit für ein intensiveres Training. Morgen musste sie zum Camp zurückfliegen und würde keine Zeit mehr für sich selbst haben.
Zwei Stunden lang bewegte sie sich im Rhythmus des Katas. Mit geschlossenen Lidern ließ sie sich treiben und fand ihre Gewissheit.
Als sie die Augen öffnete, lehnte Roman Rothenstein in lässiger Haltung und mit verschränkten Armen an der Tür. Neben ihm standen auf einem Abstelltisch eine Flasche Wein und zwei Gläser.
Valea ließ langsam ihr Katana sinken.
„Sie sind wirklich gut“, meinte er. „Mugai Ryū, nicht wahr?“
Sie nickte zustimmend, doch bevor sie etwas sagen konnte, sprach er weiter.
„Normalerweise klopfe ich an, doch ich wollte Sie nicht stören. Außerdem war es ausgesprochen interessant, Ihnen zuzusehen.“
Langsam trat er näher.
„Darf ich mir Ihr Schwert ansehen?“
Valea zögerte erst, doch dann hielt sie es ihm auf den Handflächen liegend hin. Sie war nicht ärgerlich über sein Eindringen, eher wieder verwundert, dass sie nichts davon mitbekommen hatte.
Roman Rothenstein berührte die Waffe nicht, betrachtete sie aber sehr genau.
„Das ist ein sehr altes, sehr wertvolles Katana.“ In seiner Stimme schwang Bewunderung mit. „Woher haben Sie es?“
„Es war das Geschenk meines Meisters.“
„Dann müssen Sie eine ausgesprochen gute Schülerin gewesen sein. Dr. Noack. Sie überraschen mich jeden Abend ein wenig mehr. Ich hoffe, ich habe Sie jetzt nicht in Ihren Gedankengängen gestört.“
Wieder sah er ihr tief in die Augen.
„Nein“, meinte er dann leise. „Sie haben eine Entscheidung getroffen. Das ist erfreulich. Darf ich erfahren, was Sie entschieden haben?“
Valea holte überrascht Luft. War sie so leicht zu lesen?
„Wenn sie gestatten, mache ich mich vorher etwas frischer.“
Er nickte. „Gerne, auch wenn ihr derzeitiger Duft mich nicht wirklich stört. Sie riechen ausgesprochen angenehm, Dr. Noack. Aber ich vermute, dass Sie sich danach besser fühlen werden.“
Valea nickte nur und wandte sich dem Badezimmer zu. Nach einer kurzen Dusche fühlte sie sich deutlich sicherer, Rothenstein gegenüber zu treten. Seine Worte hatten sie mehr aus der Fassung gebracht, als sie sich zunächst eingestehen wollte. Doch er hatte ja recht. Sie hatte einen Entschluss gefasst.
„Ich werde mich nach meinem Einsatz weiterbilden.“
Sie saßen sich gegenüber und Valea hatte ihre Gelassenheit wiedergefunden.
„Forensik“, vermutete Rothenstein. Sie nickte.
„Ja, aber vielleicht beschäftige ich mich auch zusätzlich mit Psychologie.“
Sie nippte an ihrem Glas und stellte es auf den kleinen Glastisch, der zwischen ihnen stand.
„Es ist sicherlich wichtig, Spuren zu finden, die Todesumstände zu rekonstruieren und die beteiligten Tatwerkzeuge zu erkennen. Doch genauso wichtig ist es, glaube ich, die Motivation der Mörder zu erkennen. Herauszufinden, was sie dazu bringt, ihre Taten zu begehen.“
„Das ist richtig“, bestätigte Rothenstein. „Interdisziplinär arbeitende Wissenschaftler sind da sicherlich sehr hilfreich. Aber Sie werden eine lange Zeit investieren müssen, um Ihr Ziel zu erreichen.“
„Ich habe ein ganzes Leben Zeit.“
Valea griff nach der Flasche, aber Rothenstein war schneller. Als das Glas gefüllt war und sie wieder zugriff, passierte es. Wie genau, wusste Valea hinterher nicht mehr, aber auf einmal fiel das Glas zur Seite. Sie griff danach, doch sie war zu langsam. Auch Rothenstein hatte die Hand ausgestreckt. Ein Klirren ertönte, als das Glas auf dem Boden zersplitterte. Ein scharfer Schmerz an ihrem Handgelenk ließ Valea erschrocken aufkeuchen. Als sie die Hand hob, sah sie einen tiefen Schnitt nahe der Pulsader.
„Sie erlauben?“
Rothenstein ergriff ihr Handgelenk und beugte sich vor. Sanft blies er über die Wunde und legte dann seinen Daumen darauf, um die Blutung zu stoppen.
„Das ist nicht wirklich hygienisch.“ Valea hatte sich wieder gefasst und konnte ein heiteres Lächeln nicht unterdrücken. „Erst blasen sie mir ihre Keime über die Wunde und dann legen Sie auch noch ihren ungewaschenen Finger darauf. Als Ärztin muss ich Ihnen sagen, dass das eher kontraproduktiv ist.“
Er erwiderte ihr Lächeln.
„Da kann ich nicht widersprechen. Es tut mir leid. Wie kann ich es wieder gutmachen?“
„Ich glaube, ich habe im Badezimmer einen kleinen Notfallkasten gesehen.“
Er nickte und ließ ihr Handgelenk los.
Kurze Zeit später war ihre Wunde desinfiziert und fachgerecht versorgt, und Roman Rothenstein hatte ein neues Weinglas besorgt.
„Wir müssen schließlich auf Ihre Entscheidung anstoßen.“
Wieder klirrten die Gläser, doch diesmal hinterließen sie keine Wunden.
Als Roman Rothenstein Valea dieses Mal verließ, verabschiedete er sich mit einem eleganten Handkuss.
„Ich wünsche Ihnen alles Gute für die Zukunft. Aber ich bin mir sicher, dass wir uns wiedersehen werden.“
„Das würde mich freuen“, lächelte Valea und meinte es auch so.