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April bis November 1997

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Ulm, Deutschland

Rosa, wohin man nur sah.

Rosa Kleidchen, rosa Hosen, rosa T-Shirts, pinkfarbene Schuhe, Söckchen, Unterwäsche. Rosa Jacken, rosa Bettwäsche, rosa Trinkflaschen, rosa, rosa, rosa.

Valea Noack schloss die Augen und versuchte, den Gruseleffekt abzuschütteln. Irgendwann wagte sie es, wieder zu blinzeln, und stellte fest, dass sie immer noch in dem Horrorkabinett Mädchenabteilung stand.

„Um Himmels willen“, murmelte sie. „Wann kommt endlich mal wieder die Zeit, wo es auch normale Farben für Mädchen gibt?“

In ihrer Verzweiflung griff sie reflexartig nach dem Ärmel einer vorbeihuschenden Verkäuferin.

„Bitte“, flehte sie. „Sagen Sie mir, dass es noch andere Farben außer Rosa in diesem Geschäft gibt.“

Die Verkäuferin lächelte sie leicht genervt an.

„Natürlich. Wir haben auch Weiß, Pastellrot und Rotkäppchenrot.“

„Blau oder Grün?“, fragte Valea hoffnungsvoll.

Die Verkäuferin schüttelte den Kopf.

„Das ist zurzeit nicht so aktuell.“

Valea stöhnte verzweifelt und ließ den Ärmel los. Die Verkäuferin entfloh sofort und ließ eine ratlose Mutter zurück.

Wie sollte sie für Mara ein gescheites Kleid finden?

Ihre Tochter hasste Rosa, und das konnte sie sehr gut verstehen. Und Weiß war mit Sicherheit auch nicht das Richtige. Maras Lieblingsbeschäftigung war es, in schlammigen Sandkästen herum zu robben. Da waren eher Erdfarben angesagt. Aber die gab es anscheinend nur in der Jungenabteilung.

Nach langem Hin und Her entschied sie sich für ein dunkelrotes Kleid. Dann trat sie erleichtert den Rückweg an. Geschafft. Jetzt musste sie nur noch ihre beiden Helden finden und nach Hause fahren.

Daniel hatte vorgeschlagen, dass sie sich bei der Eisdiele im Erdgeschoss treffen sollten. Vermutlich saßen sie bereits seit einer Stunde da und Mara schlug sich den Bauch mit ihrem geliebten Schoko-Eis voll.

Fröhlich betrat sie die Rolltreppe, um nach unten zu fahren. Auf halber Höhe sah sie die Eisdiele in Sicht kommen. Tatsächlich, da saßen die beiden. Daniel mit seinem sanften Lächeln und die fröhliche kleine Mara, die trotz ihrer knapp zwei Jahre begeistert einen riesigen Eisbecher vernichtete.

Valea beobachtete liebevoll, wie ihre Tochter den langen Löffel mit beachtlichem Geschick in die Eiscreme tauchte.

Die bellenden Schüsse registrierte sie nur am Rande. Erst die Schreie der Leute schreckten sie aus ihren Gedanken.

Panisch drängten die Menschen vor ihr die Rolltreppe wieder nach oben. Erschrocken versuchte Valea zu erkennen, was sich unter ihr abspielte. Leute rannten kreischend dem Hauptausgang zu.

Valea wurde von den Flüchtenden eingekeilt, die nach oben drängten, und stemmte sich verzweifelt dagegen. Dabei verlor sie den Blick auf ihre Familie.

Es dauerte eine gefühlte Ewigkeit, bis die fliehenden Leute sich an ihr vorbeigequetscht hatten. Tatsächlich konnte es sich nur um wenige Sekunden gehandelt haben, bis Valea endlich unten ankam.

Und alles was sie wahrnahm, war rot.

Rotkäppchenrot. Blutrot.

Schreiend rannte sie los. Hin zu den umgefallenen Tischen und Stühlen. Daniel lag verrenkt am Boden. Offenbar hatte er versucht, sich schützend vor die kleine Mara zu werfen. Sein Gesicht war ein blutroter Klumpen. Explodiert. In Fetzen gerissen.

Das kleine Mädchen lag an seiner Seite. Mit einem röchelnden Laut fiel Valea neben ihr auf die Knie. Der Bauch ihrer Tochter war eine riesige klaffende Wunde. Blut floss in Strömen aus ihr heraus, unaufhaltsam.

„Mami?“

Valea keuchte auf als der klagende Laut an ihr Ohr drang. Panisch riss sie sich die Bluse vom Leib und drückte sie auf das blutende Loch.

„Mami?“

Valea schluchzte auf und beugte sich über das Gesicht ihrer Tochter.

„Ich bin hier, meine Süße“, flüsterte sie und blickte in die weitaufgerissenen grauen Augen.

„Es tut weh, Mami.“

Die Worte wehten wie ein leiser Hauch an ihr Ohr.

„Ich weiß, mein Schatz“, weinte Valea. „Du musst jetzt tapfer sein. Bestimmt kommt bald Hilfe. Sei tapfer, mein kleiner Sonnenschein.“

„Mami, mir ist so kalt.“

„Das ist das viele Eis, Süße.“

Valeas Stimme brach, als sie gewahrte, wie die Kinderaugen erstarrten.

„Nein!“

Ihr Schrei gellte durch das Kaufhaus und ließ so manchen Schritt stocken. Sie nahm nicht mehr wahr, wie vermummte, schwer bewaffnete Männer an ihr vorbeirannten und weitere Schüsse erklangen. Sie registrierte nicht, wie kurze Zeit später ein Mann in Handschellen an ihr vorbeigezerrt wurde. Erst als ein Sanitäter neben ihr kniete und behutsam versuchte ihre Hände vom Bauch ihrer Tochter zu lösen, blickte sie hoch und sah ihn flehend an.

„Bitte helfen Sie ihr. Bitte!“

Er legte seinen Arm um sie und zog sie von dem Mädchen fort.

„Kommen Sie“, sagte er leise. „Ich werde alles Nötige in die Wege leiten.“

Valea blickte zurück und sah, wie ein weiterer Mann eine Decke über das weiße Gesicht zog.

Ein weißes Gesicht in einem Meer aus Blut.

Pressemitteilung

Gestern Nachmittag wurde ein gesuchter Mörder in einem Einkaufszentrum in Stuttgart gestellt und verhaftet. Dabei kam es zu einer Schießerei, bei der vier Menschen, darunter ein zweijähriges Kind, zu Tode kamen.

„Es tut mir so leid.“

„Sie sind jetzt in einer besseren Welt!“

„Es ist besser, wenn Sie sie nicht mehr sehen.“

Braune Erde und darunter ein blutroter See, in dem kalte Leiber treiben.

Pressemitteilung

Der mutmaßliche Serienmörder Pierre Leblanc konnte gefasst werden und wird vor Gericht gestellt. Ihm werden sieben ungewöhnlich grausame Morde sowie vier Tote während seiner Verhaftung zur Last gelegt. Die Staatsanwaltschaft hält die Beweislage für erdrückend und rechnet mit einer lebenslangen Haftstrafe.

„Frau Noack, warum wollen Sie nicht aussagen? Er hat doch Ihre Familie auf dem Gewissen.“

„Du musst darüber reden!“

„Wir sind für dich da.“

„Können Sie nicht doch ein Interview geben?“

Kalte Leiber, kalte Messer, Ströme von Blut, die zu einem See fließen. Einem rotkäppchenfarbenen See in dunkelbrauner Erde.

„Frau Noack! Können Sie mich hören? Wir haben Ihren Magen ausgepumpt.“

„Du musst darüber reden!“

„Wir sind für dich da.“

„Warum lässt du dir nicht helfen?“

„Selbstmord ist Todsünde!“

Pressemitteilung

Der Serienmörder Pierre Leblanc wurde rechtskräftig zu einer lebenslangen Haftstrafe mit anschließender Sicherheits-verwahrung verurteilt.

Eine Welt ohne Inhalt.

Verzweiflung, Einsamkeit. Zielloses Dahintreiben. Nichts interessiert. Nichts ist wichtig. Nur ein rotes Kleid auf einem Kinderbett, der Duft eines Aftershaves auf dem Kopfkissen. Erinnerungen, noch mehr Verzweiflung. Unendliche Schmerzen. Herzschmerzen. Kopfschmerzen. Haltloses Schreien. Noch mehr Verzweiflung. Aussichtslosigkeit.

Wächterin

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